Amnesty Report Tunesien 12. Mai 2009

Tunesien 2009

 

Amtliche Bezeichnung: Tunesische Republik Staatsoberhaupt: Zine el ’Abidine Ben ’Ali Regierungschef: Mohamed Ghannouchi Todesstrafe: in der Praxis abgeschafft Einwohner: 10,4 Mio. Lebenserwartung: 73,5 Jahre Kindersterblichkeit (m/w): 23/21 pro 1000 Lebendgeburten Alphabetisierungsrate: 74,3%

Die Sicherheitskräfte wandten exzessive Gewalt gegen Demonstranten in Gafsa an. Zwei Menschen kamen dabei ums Leben, mindestens 200 Teilnehmer der Kundgebungen wurden festgenommen und strafrechtlich verfolgt, darunter auch Menschenrechtsverteidiger und Gewerkschaftsführer. Die Rechte auf freie Meinungsäußerung, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit waren stark eingeschränkt. Journalisten, Rechtsanwälte und Menschenrechtsverteidiger wurden strafrechtlich verfolgt und schikaniert. Es gab Berichte über Folterungen und Misshandlungen von Gefangenen. Mindestens 450 Menschen wurden in unfairen Gerichtsverfahren wegen Anklagen im Zusammenhang mit Terrorismus zu Gefängnisstrafen verurteilt. Das Hinrichtungsmoratorium hatte weiterhin Bestand.

Unruhen in Gafsa

In der Bergbauregion von Gafsa im Südosten des Landes kam es von Januar 2008 an mehrere Monate lang zu Protesten. Anlass waren die stark zunehmende Arbeitslosigkeit, Armut, steigende Lebenshaltungskosten und die Einstellungsmethoden der Gafsa-Phosphat-Gesellschaft, des wichtigsten Arbeitgebers der Region. Als Antwort darauf setzte die Regierung in Redeyef und anderen Städten Sicherheitskräfte ein, die bei der Auflösung von Kundgebungen exzessive Gewalt anwandten. Dabei wurden zwei Menschen getötet und zahlreiche verletzt. Hunderte von Demonstranten und Personen, denen vorgeworfen wurde, die Demonstrationen organisiert oder unterstützt zu haben, wurden festgenommen, mindestens 200 von ihnen wurden strafrechtlich verfolgt. Einige wurden für schuldig befunden und zu Haftstrafen von bis zu zehn Jahren verurteilt.

  • Hafnaoui Maghzaoui wurde am 6. Juni 2008 erschossen, als Sicherheitskräfte scharfe Munition einsetzten, um Demonstranten in Redeyef auseinanderzutreiben. Inoffiziellen Quellen zufolge wurden 26 Menschen verletzt, während die Behörden lediglich von acht Verletzten sprachen. Einer der Demonstranten, Abdelkhalek Amaidi, erlag im September seinen Verletzungen. Augenzeugen berichteten, dass die Polizei das Feuer ohne Vorwarnung eröffnet habe und dass viele der Verletzten Schusswunden in Rücken und Beinen aufwiesen. Der Justizminister drückte sein Bedauern über den Tod von Hafnaoui Maghzaoui aus, wies jedoch jede Kritik am Vorgehen der Sicherheitskräfte zurück. Er sagte, eine Untersuchung sei bereits eingeleitet worden.

  • Adnan Hajji, der Generalsekretär des örtlichen Büros der Gewerkschaft Union Générale Tunisienne du Travail (UGTT) wurde im Juni 2008 festgenommen. Zusammen mit 37 anderen Personen, denen die Behörden vorwarfen, die Protestkundgebungen angeführt zu haben, wurde er wegen Gründung einer kriminellen Vereinigung, Zugehörigkeit zu einer Gruppierung mit dem Ziel, Eigentum zu beschädigen und anderer Vergehen angeklagt. Im Dezember wurden 33 Angeklagte zu Haftstrafen von bis zu zehn Jahren verurteilt, fünf wurden freigesprochen.

Verfassungsänderung und Gesetzesreformen

Die Verfassung des Landes wurde im Juli 2008 geändert. Das Wahlalter wurde von 20 auf 18 Jahre gesenkt. Außerdem wurden Sonderregelungen für die Präsidentschaftswahlen im Jahr 2009 eingeführt. Dies bedeutet in der Praxis, dass sich nur Kandidaten zur Wahl stellen dürfen, die gewählte Parteiführer sind und dieses Amt mindestens zwei Jahre lang ausübten. Im Dezember kündigten die Behörden einen Entwurf zur Reform des Wahlgesetzes an. Demnach soll die Zahl der Sitze für die Oppositionsparteien im Parlament und in den Stadträten von 37 auf 50 erhöht werden.

Die Strafprozessordnung wurde im März geändert. Durch die Reform wurden die verfahrensrechtlichen Garantien für Gefangene gestärkt. Die Staatsanwaltschaft und der Untersuchungsrichter müssen künftig Gründe nennen, wenn sie die normale Aufenthaltsdauer in Polizeigewahrsam vor der Anklageerhebung (garde à vue) um drei Tage verlängern. Durch ein neues Gesetz wurde der von der Regierung eingesetzte Menschenrechtsrat (Conseil Supérieur des Droits de l’Homme et des Libertés Fondamentales) im Juni an die Pariser Prinzipien zur Einrichtung nationaler Menschenrechtsinstitutionen angeglichen, mit der Absicht, die Unabhängigkeit des Gremiums zu stärken.

Antiterrormaßnahmen und Sicherheit

Gerichtsverfahren im Zusammenhang mit Terrorismusvorwürfen verliefen unfair. Die Angeklagten wurden in der Regel zu hohen Haftstrafen verurteilt. Unter ihnen befanden sich sowohl Personen, die man in Tunesien festgenommen hatte, als auch Tunesier, die aus anderen Staaten zwangsweise zurückgeführt worden waren, obwohl Anlass zur Sorge bestand, dass ihnen in Tunesien Folter drohte. Viele Urteile stützten sich ausschließlich auf "Geständnisse", die die Angeklagten während der Untersuchungshaft ohne Kontakt zur Außenwelt abgelegt und vor Gericht zurückgezogen hatten, da sie ihren Angaben zufolge unter Folterungen zustande gekommen waren. Untersuchungsrichter und Gerichte leiteten in keinem Fall Ermittlungen zu diesen Vorwürfen ein. Etwa 450 Personen wurden während des Jahres 2008 im Zusammenhang mit Terrorismusvorwürfen zu Haftstrafen verurteilt.

Im Juni wurde Sami Ben Khemais Essid von den italienischen Behörden zwangsweise nach Tunesien überstellt, obwohl seine Sicherheit nicht gewährleistet war. Er wurde bei seiner Ankunft verhaftet, da er bereits zuvor in Abwesenheit – u.a. von Militärgerichten – zu mehr als 100 Jahren Haft verurteilt worden war. Grund dafür waren verschiedene Anklagen im Zusammenhang mit Terrorismus in den Jahren 2000 bis 2007. Er legte gegen die Urteile Rechtsmittel ein und wurde daraufhin im Juli und November in zwei getrennten Verfahren zu Haftstrafen von acht und elf Jahren verurteilt.

  • Ziad Fakraoui, der laut eigenen Angaben gefoltert worden war, als er 2005 in Tunis im Gefängnis des Staatssicherheitsdienstes ohne Kontakt zur Außenwelt inhaftiert war, wurde im Mai freigelassen. Zwei Tage nachdem Amnesty International seinen Fall in einem Bericht über Menschenrechtsverletzungen in Tunesien veröffentlicht hatte, nahmen ihn Beamte des Staatssicherheitsdienstes am 25. Juni 2008 erneut fest. Er blieb sieben Tage ohne Kontakt zur Außenwelt inhaftiert, bevor er dem Haftrichter vorgeführt wurde. Man warf ihm die Zugehörigkeit zu einer terroristischen Organisation und Anstiftung zum Terrorismus vor. Dies waren dieselben Anklagen, auf deren Grundlage er bereits nach seiner Festnahme im Jahr 2005 inhaftiert war. Er wurde in allen Punkten freigesprochen und am 25. November 2008 freigelassen.

Freilassungen von politischen Gefangenen

Im November 2008 wurden 44 politische Gefangene aus Anlass des 21. Jahrestages der Machtübernahme von Präsident Ben ’Ali unter Auflagen freigelassen. Darunter befanden sich 21 Personen, die lange Zeit im Gefängnis zugebracht hatten, nachdem man sie wegen Zugehörigkeit zu Ennahda, einer verbotenen islamistischen Organisation, verurteilt hatte. Die letzten noch in Haft befindlichen Ennahda-Anführer hatten bereits mehr als 15 Jahre im Gefängnis gesessen. Viele von ihnen benötigten dem Vernehmen nach dringend medizinische Hilfe aufgrund von Misshandlungen und harten Haftbedingungen, darunter auch ausgedehnter Einzelhaft.

Wie andere freigelassene politische Gefangene sollen die Männer unter "behördliche Kontrolle" gestellt worden sein. Diese Maßnahme, die bei den meisten bereits während des Verfahrens im Jahr 1992 angeordnet wurde, bedeutet, dass sie sich häufig bei bestimmten Polizeiwachen melden müssen. Die Bewegungsfreiheit der Männer ist damit stark eingeschränkt, Arbeitssuche sowie medizinische Behandlung werden erschwert. In einigen Fällen wurde auch nahen Angehörigen die Ausstellung eines Reisepasses verweigert. Zu den im November freigelassenen Gefangenen gehörte auch Sadok Chourou, der ehemalige Vorsitzende von Ennahda. Er wurde am 3. Dezember 2008 in seinem Haus erneut verhaftet. Drei Tage später wurde er wegen "Aufrechterhaltung einer verbotenen Organisation" mit Bezug auf Ennahda angeklagt und zu einem Jahr Gefängnis verurteilt.

Folterungen und Misshandlungen

Im Berichtsjahr gingen erneut Meldungen über Folterungen und Misshandlungen auf Polizeiwachen und in Haftzentren des Staatsicherheitsdienstes ein. Gefangene, die keinen Kontakt zur Außenwelt hatten, waren besonders gefährdet.

  • Jaber Tabbabi wurde am 5. Juni 2008 im Zusammenhang mit den Protesten in Gafsa verhaftet. Polizisten rissen ihm die Kleider vom Leib und schlugen mehrfach auf ihn ein, während sie ihn auf eine Polizeiwache in Redeyef schleppten. Dort wurde er nach eigenen Angaben gefoltert. Später verlegte man ihn in eine Polizeistation in Metlaoui, wo man ihm eine Augenbinde anlegte. Er musste in gekrümmter Haltung verharren und man führte einen Stock in seinen Anus ein. Eine Schnittwunde an seinem Kopf musste mit 16 Stichen genäht werden. Er gab an, dass er nackt bleiben musste, bis man ihn einem Haftrichter am erstinstanzlichen Gericht von Gafsa vorführte. Der Richter lehnte den Antrag von Tabbabis Rechtsanwalt ab, seinen Mandanten auf Folterspuren hin medizinisch untersuchen zu lassen, ordnete jedoch seine sofortige Freilassung an. Er kam am 9. Juni ohne Anklage frei.

Recht auf freie Meinungsäußerung

Die Regierung schränkte die Medien weiterhin massiv ein. Mehrere Journalisten wurden aufgrund ihrer beruflichen Aktivitäten strafrechtlich verfolgt. Die Anklagen wiesen jedoch häufig keinerlei konkreten Bezug auf.

  • Fahem Boukadous, ein Journalist, der für den tunesischen TV-Sender al-Hiwar Ettounsi arbeitete, wurde wegen "Zugehörigkeit zu einer kriminellen Vereinigung" und wegen "Verbreitung von Informationen zur Störung der öffentlichen Sicherheit" angeklagt. Er hatte über die Protestaktionen in Gafsa und die Menschenrechtsverletzungen der Sicherheitskräfte berichtet. Der Journalist tauchte unter und wurde am 12. Dezember in Abwesenheit zu einer sechsjährigen Gefängnisstrafe verurteilt. Mit ihm wurde 37 weiteren Personen der Prozess gemacht (siehe oben).

  • Naziha Rjiba wurde von der Staatsanwaltschaft im Oktober 2008 vorgeladen und über einen Artikel befragt, den sie für al-Mouatinoun, eine Zeitschrift der Opposition, verfasst hatte. In ihrem Beitrag hatte sie die Regierung angeklagt, die Internetseite von Kalima, eines Online-Nachrichtenmagazins, zerstört zu haben. Naziha Rjiba hatte die Online-Ausgabe zusammen mit anderen gegründet, nachdem die Behörden der Zeitschrift im Jahr 1998 die Publikationserlaubnis verweigert hatten. Wenige Tage vor dem Verhör hatte das Innenministerium die gesamte Auflage der Ausgabe von al-Mouatinoun beschlagnahmt, in der Rjibas Artikel erschienen war.

Menschenrechtsverteidiger

Menschenrechtsaktivisten und -verteidiger wurden von den Behörden schikaniert und eingeschüchtert. Sie standen unter ständiger strenger Überwachung. Die Behörden versuchten, die legale Registrierung von Menschenrechts-NGOs zu verhindern, ihre Aktivitäten zu behindern und Kommunikationswege zu stören, indem z.B. Telefonleitungen und Internet-Verbindungen gekappt wurden.

  • Im Juni 2008 wurden zwei Rechtsanwälte und Menschenrechtsverteidiger bei ihrer Ankunft in Tunis von Sicherheitsbeamten drangsaliert, nachdem sie auf einer Pressekonferenz von Amnesty International in Paris über Menschenrechtsverletzungen in Tunesien berichtet hatten. Samir Dilou und Anouar Kousri wurden kurzzeitig am Flughafen festgehalten und anschließend zur Polizei einbestellt, wo man sie wegen der Pressekonferenz verhörte. Man warf ihnen vor, sie hätten falsche Informationen verbreitet und dem Ansehen Tunesiens geschadet. Samir Dilou wurde nahegelegt, in Zukunft von solchen Aktivitäten Abstand zu nehmen, da ihm andernfalls strafrechtliche Verfolgung drohe.

Gewalt gegen Frauen

Im September trat Tunesien dem Zusatzprotokoll zum UN-Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau bei. Im November richteten die Behörden eine kostenlose Hotline für Frauen ein, die Opfer von familiärer Gewalt geworden waren.

Todesstrafe

Die Regierung hielt das De-facto-Moratorium für Hinrichtungen aufrecht. Eine große Zahl von Gefangenen befand sich jedoch noch immer in den Todeszellen. Im Februar wandelte ein Appellationsgericht in Tunis eines von zwei Todesurteilen um, die im sogenannten Soliman-Prozess im Dezember 2007 ergangen waren: Das Urteil gegen Imed Ben Amar wurde in lebenslange Haft umgewandelt, während das Todesurteil gegen Saber Ragoubi bestätigt wurde.

Im März 2008 legte eine Gruppe von 25 Parlamentariern aller Parteien einen Gesetzentwurf vor, in dem die Abschaffung der Todesstrafe vorgeschlagen wird. Das Gesetz war zum Ende des Berichtsjahrs noch nicht vollständig geprüft worden.

Amnesty International: Missionen und Berichte Ein Delegierter von Amnesty International stattete Tunesien im Februar einen Besuch ab, um das Verfahren im Soliman-Fall zu beobachten.

Tunisia: Court’s decision to uphold death sentence a failure to redress justice (21 February 2008)

In the name of security: Routine abuses in Tunisia (MDE 30/007/2008)

Tunisia: Open inquiry into killing of demonstrator against rising prices (MDE 30/008/2008)

Tunisia: Abuses continue despite official denial (MDE 30/012/2008)

Tunisia: Trial of trade union leaders a travesty of justice (12 December 2008)

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