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Europa und Zentralasien 2009
Nach fast einem Jahrzehnt des Friedens griffen Anfang August 2008 wieder zwei europäische Staaten zu den Waffen. Seit den Konflikten auf dem Balkan Anfang der 1990er Jahre ging Europa von einer relativ stabilen Wirtschafts- und Sicherheitslage sowie von rechtsstaatlichen Verhältnissen in der Region aus. Die Ereignisse zeigten jedoch, dass die Sicherheit nach dem Ende des Kalten Krieges fragiler war als gedacht. Es war einmal mehr die Zivilbevölkerung, die mit dem Verlust grundlegender Menschenrechte den Preis dafür bezahlte, dass sich Annahmen als falsch erwiesen.
Der Fünf-Tage-Krieg zwischen Georgien und Russland um die Region Südossetien kostete Hunderte von Zivilisten das Leben, Tausende weitere wurden verletzt, fast 200000 Menschen wurden vertrieben. Durch die Kämpfe und die anschließenden Plünderungen und Brandstiftungen wurden in Südossetien und den angrenzenden Gebieten zahlreiche Wohnhäuser zerstört. Die eingesetzte Streumunition hatte verheerende Folgen für die Zivilbevölkerung, nicht nur während der bewaffneten Auseinandersetzung, sondern auch danach.
Gegen Ende des Jahres machte die globale Wirtschaftskrise deutlich, dass auch die vermeintliche wirtschaftliche Stabilität Europas und Zentralasiens vor Herausforderungen stand. Mehrere europäische Länder benötigten Hilfe vom Internationalen Währungsfonds, um ihre Wirtschaft zu stützen. Es wurde befürchtet, dass der Abschwung noch mehr Menschen in die Armut treiben könnte, vor allem jene, die bereits unter Konflikten, Diskriminierung und mangelnder Sicherheit litten.
Armut
In zahlreichen Ländern Europas und Zentralasiens war es für die ärmeren Bevölkerungsschichten nach wie vor schwierig, ihre Grundbedürfnisse zu befriedigen. Trotz der Wirtschaftskrise zählten einige europäische Staaten zu den reichsten Ländern der Welt. Gleichzeitig gab es in Europa und Zentralasien gravierende Mängel bei der Umsetzung des Rechts auf Bildung und Gesundheitsversorgung, auf angemessenen Wohnraum und gesicherten Lebensunterhalt. Noch immer durchzog eine tiefe Kluft zwischen armen und reichen Ländern die Region, dies galt auch für die Menschenrechtssituation, die sich auf beiden Seiten unterschiedlich darstellte. Große Unterschiede gab es auch zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen eines Landes – so waren z.B. in Tadschikistan Frauen ungleich stärker als Männer von Arbeitslosigkeit und Armut betroffen und deshalb auch häufiger Opfer von Menschenrechtsverletzungen.
Mangelsituationen aufgrund äußerer Ereignisse oder interner Misswirtschaft trafen die Ärmsten immer als Erste und besonders heftig. So litten etwa in Albanien Menschen, die unter der nationalen Armutsgrenze lebten – mehr als 18% der Bevölkerung – am stärksten unter dem ohnehin schon begrenzten Zugang zu Bildungseinrichtungen, sauberem Wasser, Gesundheits- und Sozialfürsorge. Zentralasien erlebte 2008 einen der härtesten Winter seit Jahrzehnten, wodurch die zur Versorgung der Bevölkerung notwendige Infrastruktur stark beeinträchtigt wurde. Weite Teile der Region litten unter Energie- und Lebensmittelknappheit. Die Vereinten Nationen sahen sich zu Dringlichkeitsappellen zugunsten der Bevölkerung von Tadschikistan und Kirgisistan veranlasst.
Mangelnde Sicherheit
Wie bereits in den Vorjahren wurde das Schlagwort Sicherheit als Vorwand für politische Maßnahmen benutzt, die zum genauen Gegenteil führten: zur Schwächung der Menschenrechte im Namen des Antiterrorkampfs, zu Straflosigkeit bei Menschenrechtsverstößen und zu einer verstärkten Abwehr von Menschen, die vor Armut, Gewalt und Verfolgung flohen.
Trotz eindeutiger Beweise für die Mitwirkung europäischer Staaten an den geheimen rechtswidrigen Überstellungen von Gefangenen durch die US-Behörden in Länder, in denen ihnen Menschenrechtsverstöße drohten, mangelte es nach wie vor an politischem Willen, die Wahrheit aufzudecken. Dass eine umfassende, unabhängige Untersuchung der Vorwürfe über die Beteiligung europäischer Staaten an den Überstellungsflügen notwendig ist, zeigte sich im Februar 2008. Die britische Regierung gab zu, die US-Regierung habe – entgegen mehrfacher anderslautender Aussagen – im Jahr 2002 mindestens zweimal
die unter britischer Kontrolle stehende Insel Diego Garcia für Gefangenentransporte im Rahmen ihres Programms "außerordentlicher Überstellungen" und geheimer Inhaftierungen genutzt.
Länder wie Spanien, Italien, Dänemark, Deutschland und Großbritannien waren bereit, auf der Grundlage von "diplomatischen Zusicherungen", die keine rechtlich bindende Verpflichtung darstellten, Personen unter Terrorismusverdacht in Staaten abzuschieben, in denen ihnen Folter und Misshandlung drohten. In der Türkei beruhten Urteile, die nach der Antiterrorgesetzgebung gefällt wurden, häufig auf unzureichendem oder unglaubwürdigem Beweismaterial. In Großbritannien kam es zu unfairen Verfahren, da im Zuge von Antiterrormaßnahmen Informationen geheimgehalten wurden.
In einer richtungweisenden Entscheidung bestätigte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im Februar das absolute Verbot von Folter und anderer grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe. Der Gerichtshof bewies damit eine Führungsstärke, wie sie in Europa und Zentralasien auch in anderen menschenrechtlichen Bereichen notwendig wäre. Dem Urteil zufolge darf keine Person in ein Land abgeschoben werden, in dem ihr derartige Menschenrechtsverletzungen drohen – dies gilt auch für Menschen, die unter Terrorismusverdacht stehen oder die nach Ansicht der Behörden eine Gefahr für die nationale Sicherheit darstellen.
Folterungen und Misshandlungen, die oft aus rassistischen Gründen begangen wurden und um Geständnisse zu erzwingen, wurden häufig nicht geahndet. Indem die Justizsysteme diejenigen, die für die Wahrung von Sicherheit und Rechtsstaatlichkeit zuständig waren, nicht zur Rechenschaft zogen, wurden sie den Opfern nicht gerecht. Begünstigt wurde die Straflosigkeit dadurch, dass Staatsanwaltschaften nur zögerlich ermittelten und Opfer keinen schnellen Zugang zu Anwälten bekamen oder Angst vor Vergeltungsmaßnahmen hatten. Auch die Verhängung geringer Geldstrafen gegen die Schuldigen und das Fehlen eines ausreichend finanzierten unabhängigen Beschwerdesystems trugen dazu bei. In Ländern wie Bosnien und Herzegowina, Griechenland, Kasachstan, Russland, Spanien, Usbekistan, der Ukraine und der Türkei verfestigte sich aufgrund dieser Mängel ein Klima der Straflosigkeit.
In weiten Teilen Europas und Zentralasiens mussten Frauen weiterhin um ihre persönliche Sicherheit fürchten, weil der Staat sie nicht vor gewalttätigen Partnern und Familienmitgliedern schützte. Frauen aller Altersgruppen und Gesellschaftsschichten wurden Opfer von verbalen Angriffen und Psychoterror, körperlicher und sexueller Gewalt, ökonomischer Unterdrückung und von Morden. Der Schutz gegen solche Gewalttaten war lückenhaft. Vorhandene Gesetze wurden häufig nicht konsequent umgesetzt, und die Mittel, die für Frauenhäuser oder zur Schulung der Polizei zur Verfügung gestellt wurden, waren oft extrem gering. Der Europarat beschloss im Dezember, einen bzw. mehrere Verträge zu erarbeiten, die bindende Standards für den Schutz von Frauen vor Gewalt und für entsprechende Vorbeuge- und Strafverfolgungsmaßnahmen enthalten sollen. Auch Angehörige anderer benachteiligter Gruppen stießen oft auf Hindernisse, wenn sie sich um Schutz oder Wiedergutmachung bemühten. Neben Frauen litten Gruppen wie Roma, Migranten und Menschen, die in Armut lebten, am stärksten unter mangelnder Sicherheit.
Andere nutzten diese Unsicherheit für ihre Zwecke aus, indem sie mit Menschenhandel Profit machten. Korruption, Armut, mangelnde Bildung und fehlender sozialer Zusammenhalt trugen dazu bei, dass Menschenhändler Männer, Frauen und Kinder zu schlecht bezahlter Arbeit in privaten Haushalten, in der Landwirtschaft, im produzierenden Gewerbe, in der Bauindustrie oder im Gastgewerbe bzw. zur Prostitution zwingen konnten.
Das Inkrafttreten der Konvention des Europarates zur Bekämpfung des Menschenhandels im Februar 2008 war ein entscheidender Schritt zum Schutz der Rechte dieser Menschen. Ende des Jahres hatten 20 der 47 Mitgliedstaaten den Vertrag ratifiziert, weitere 20 hatten ihn unterzeichnet. Jetzt müssen die Länder die darin gestellten Anforderungen erfüllen und die Schutzvorkehrungen umsetzen, damit diese "moderne" Form der Sklaverei möglichst bald der Vergangenheit angehört.
Flüchtlinge und Migranten
Auch 2008 ging die Festnahme, Inhaftierung und Ausweisung ausländischer Staatsbürger, unter ihnen auch Personen auf der Suche nach internationalem Schutz, vielerorts mit systematischen Menschenrechtsverletzungen einher. In einigen Ländern erhielten nicht alle Betroffenen Zugang zum Asylverfahren, in anderen war z.B. der Schutz für irakische Asylsuchende eingeschränkt – einige von ihnen wurden abgeschoben. Russland, die Türkei und die Ukraine gehörten zu den Staaten, die Asylsuchende in Länder abschoben, in denen ihnen schwere Menschenrechtsverletzungen drohten.
Nach Angaben des UN-Hochkommissars für Flüchtlinge (UNHCR) versuchten 67000 Menschen im Jahr 2008 auf dem gefährlichen Seeweg nach Europa zu gelangen. Hunderte von ihnen kamen dabei ums Leben, die genaue Zahl der Todesfälle war nicht zu ermitteln. Allein an den Küsten Italiens und Maltas kamen rund 38000 Menschen an, meist, nachdem sie Libyen durchquert hatten. Die überwiegende Mehrzahl beantragte Asyl, und mehr als die Hälfte von ihnen erhielt internationalen Schutz nach der Genfer Flüchtlingskonvention. Insgesamt reagierte Europa auf den starken Zustrom von Migranten jedoch mit dezidierter Härte. Dass die EU eine Richtlinie zur Rückführung von Migranten ohne regulären Aufenthaltsstatus verabschiedete, rief tiefe Enttäuschung hervor. Die Richtlinie sieht eine unverhältnismäßig lange maximale Haftdauer von 18 Monaten für Asylsuchende und Migranten ohne Aufenthaltsgenehmigung vor. Sie dürfte zu einer Absenkung vorhandener Standards in den EU-Mitgliedstaaten führen und kann nicht als Vorbild für andere Regionen der Welt dienen.
Ausschluss und Diskriminierung
Migranten und Asylsuchende lebten oft in großer Armut, sie wurden diskriminiert und von Sozialleistungen und Beschäftigungsmöglichkeiten ausgeschlossen. In einigen Ländern, wie z.B. der Schweiz, hatten abgelehnte Asylsuchende keinen Anspruch auf Sozialleistungen. Sie fristeten ein Leben am Rande der Gesellschaft in armseligen Verhältnissen. In Deutschland hatten Migranten nach wie vor nur eingeschränkt Zugang zum Gesundheitssystem, ihre Möglichkeiten, bei Verstößen gegen ihre Arbeitnehmerrechte die Gerichte anzurufen, waren begrenzt und der Zugang zu Bildung für ihre Kinder erschwert.
In vielen Ländern wurden Migranten und Asylsuchende grundsätzlich in Haft genommen, oft unter Bedingungen, die nicht angemessen waren. Der UN-Menschenrechtsausschuss äußerte sich besorgt über die Verhältnisse in den französischen Haftzentren für Einwanderer, die stark überbelegt waren und völlig unzureichende hygienische Zustände aufwiesen. In den Niederlanden wurde selbst bei unbegleiteten Minderjährigen, bei Folteropfern und Opfern des Menschenhandels nur selten auf eine Inhaftierung verzichtet. In Malta sah die Europäische Kommission gegen Rassismus und Intoleranz einen Zusammenhang zwischen der Inhaftierung von Migranten und dem Anstieg von Rassismus und Intoleranz auf der Insel.
Andere Menschen wurden wegen ihres rechtlichen Status diskriminiert und ausgegrenzt, darunter viele, die im Zuge der Konflikte im früheren Jugoslawien und in der ehemaligen Sowjetunion aus ihrer Heimat vertrieben wurden. Ihre Rechte waren an Registrierungspflichten und aufenthaltsrechtliche Auflagen geknüpft und dadurch zum Teil erheblich eingeschränkt. So galt in einigen Gebieten der ehemaligen Sowjetunion weiterhin das System der propiska – eine spezifische Art der Meldepflicht. Das System war auch eine Brutstätte für Korruption und Ausbeutung, da viele der restriktiven Bestimmungen mit Hilfe von Bestechungsgeldern umgangen werden konnten. Allerdings konnten nur diejenigen das System umgehen, die es sich leisten konnten.
Viele Menschen, die als Angehörige einer Minderheit in einen Teil des ehemaligen Jugoslawien zurückkehrten, erlebten auch dort weiter Diskriminierung. Dies betraf den Zugang zu einzelnen Dienstleistungen sowie zum Arbeitsmarkt, darunter auch den öffentlichen Dienst. Sie wurden aber auch diskriminiert, wenn sie ihre Rechte als frühere Eigentümer oder Mieter wahrnehmen wollten. In Turkmenistan überprüften die Behörden weiterhin die turkmenische Abstammung einer Person über drei Generationen hinweg. Angehörige ethnischer Minderheiten hatten nur eingeschränkten Zugang zum Arbeitsmarkt und zu höherer Bildung. In vielen Ländern Europas und Zentralasiens herrschte ein Klima von Rassismus und Intoleranz. Dies trug dazu bei, dass Personen aus der Gesellschaft und von politischer Verantwortung ausgeschlossen wurden, und begünstigte so weitere Diskriminierung.
Vor allem Migranten, Roma, Juden und Muslime wurden zur Zielscheibe von Hassverbrechen, für die Einzelpersonen oder extremistische Gruppen verantwortlich waren. Fehlender politischer Wille und die Tatsache, dass die rassistisch motivierten Verbrechen nicht ernst genommen wurden, führten häufig dazu, dass die Täter nicht bestraft wurden. Nachdem sich in einigen europäischen Ländern wie Tschechien und Ungarn eine feindselige Haltung gegenüber Roma verstärkt hatte, stellte der UN-Sonderberichterstatter über Rassismus im November fest, dass es "im Herzen des modernen Europa ein ernstes und tiefsitzendes Problem des Rassismus und der Diskriminierung gegenüber Roma gibt, das ganz entschieden mit allen rechtsstaatlichen Mitteln bekämpft werden muss".
Roma waren die wohl am stärksten von systematischer Diskriminierung betroffene Bevölkerungsgruppe in den Ländern Europas und Zentralasiens. Sie waren weitgehend von der Teilhabe am öffentlichen Leben ausgeschlossen und hatten nur begrenzten Zugang zu Wohnraum, Bildung, Erwerbsarbeit und Gesundheitsfürsorge. Viele Roma lebten vom Rest der Gesellschaft abgetrennt in regelrechten Ghettos mit unzureichender Wasser- und Stromversorgung, meist auch ohne Kanalisation, asphaltierte Straßen und andere grundlegende Infrastruktureinrichtungen. Ihre prekäre Lage wurde z.B. in Italien durch die Zwangsräumung von Barackensiedlungen noch weiter verschärft. Im Norden des Kosovo lebten Roma weiter in Flüchtlingslagern, deren Boden so stark mit Blei verseucht war, dass die Menschen unter schweren gesundheitlichen Beeinträchtigungen litten.
In einigen Ländern wurden Roma-Kinder nicht voll in das Schulsystem integriert. Die Behörden duldeten oder förderten die Einrichtung von Sonderschulen oder Sonderklassen für Roma-Kinder, in denen sie nach einem reduzierten Lehrplan unterrichtet wurden, manchmal auch gemeinsam mit geistig behinderten Schülern. In Bosnien und Herzegowina besuchten nach Angaben der internationalen NGO Save the Children nur 20 – 30% der Roma-Kinder eine Grundschule und nur 0,5 – 3% einen Kindergarten. Auch schlechte Wohnverhältnisse, räumliche und kulturelle Isolation, Armut und fehlende Verkehrsmittel hinderten Roma-Kinder am Schulbesuch. Negative Klischeevorstellungen beeinträchtigten ihre Zukunftsaussichten und verstärkten die Tendenz, ihnen weiterhin ihre Rechte zu verweigern.
Die albanischen Behörden versäumten es erneut, ein Gesetz umzusetzen, wonach Waisen nach Abschluss der weiterführenden Schule oder mit Erreichen der Volljährigkeit vorrangig Zugang zu Wohnraum erhalten sollen. Etwa 300 Erwachsene, die als Kinder ihre Eltern verloren hatten, mussten nach wie vor in völlig heruntergekommenen Wohnungen leben – Bedingungen, die ihre soziale Ausgrenzung verstärkten. Aufgrund ihrer geringen Qualifikation waren sie häufig arbeitslos oder bekamen lediglich schlecht bezahlte Gelegenheitsjobs, so dass sie mit der winzigen staatlichen Unterstützung auskommen mussten.
Im Juli legte die Europäische Kommission einen Entwurf für eine Richtlinie zur Erweiterung der bestehenden Antidiskriminierungs-Gesetze vor und erkannte damit die anhaltende Benachteiligung vieler Menschen an.
Ungehörte Stimmen
Weite Teile Europas und Zentralasiens waren seit jeher ein Vorbild für Redefreiheit und politische Mitbestimmung. Menschenrechtsverteidiger, NGOs und engagierte Bürger errangen hier über Jahrzehnte hinweg viele Erfolge. Doch die unsichere Lage in Teilen der Region führte dazu, dass die Spielräume für die Zivilgesellschaft und für unabhängige Stimmen in einigen Ländern 2008 enger wurden. In den Staaten, in denen es ohnehin kaum Raum für abweichende Meinungen gab, verhallten die Stimmen derjenigen ungehört, die Regierungen und andere zur Rechenschaft ziehen wollten, die Menschenrechtsverstöße öffentlich machten oder andere Ansichten vertraten. Sie wurden nicht gehört oder unterdrückt. Die Rechte auf freie Meinungsäußerung und Vereinigungsfreiheit standen 2008 weiterhin ebenso unter Druck wie die Menschenrechtsverteidiger selbst.
In der Türkei wurde auf abweichende Meinungen nach wie vor mit Einschüchterungs- und Strafverfolgungsmaßnahmen reagiert. Die Arbeit der Menschenrechtsverteidiger wurde von der Justiz behindert. Gegen einige exponierte Persönlichkeiten wurde wiederholt strafrechtlich ermittelt. Andere Menschenrechtsverteidiger wurden aufgrund ihrer Tätigkeit von unbekannten Einzelpersonen oder Gruppen bedroht. Menschenrechtsorganisationen sahen sich mit einer minuziösen Überprüfung ihrer Tätigkeit durch die Behörden konfrontiert. Gerichte ließen kritische Websites unter Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit sperren. Einige Demonstrationen wurden ohne berechtigten Grund verboten. Ungenehmigte Kundgebungen, besonders im kurdisch besiedelten Südosten des Landes, einem der ärmsten Gebiete der Region, wurden unter Einsatz exzessiver Gewalt aufgelöst, häufig ohne dass zuvor gewaltfreie Maßnahmen zum Einsatz gekommen wären.
In Belarus übte die Regierung auch 2008 eine scharfe Kontrolle über die Zivilgesellschaft aus und verweigerte ihren Bürgern das Recht auf freie Meinungsäußerung und Versammlungsfreiheit. Die bestehenden Auflagen für unabhängige Medien wurden beibehalten und die staatliche Kontrolle der Medien verstärkt. Es kam zum Verbot einiger öffentlicher Veranstaltungen, gegen friedliche Demonstranten wurden Geldbußen und kurze Haftstrafen verhängt, engagierte Bürger und Journalisten wurden schikaniert.
In Usbekistan waren auf dem Gebiet der freien Meinungsäußerung und Versammlungsfreiheit kaum Fortschritte zu verzeichnen. Menschenrechtsverteidiger, unabhängige Journalisten und engagierte Bürger wurden aufgrund ihrer Tätigkeit gezielt angegriffen, trotz gegenteiliger Behauptungen der Regierung. Mindestens zehn Menschenrechtsverteidiger, die in unfairen Verfahren zu langjährigen Freiheitsstrafen verurteilt worden waren, saßen weiter unter grausamen, unmenschlichen und erniedrigenden Bedingungen im Gefängnis. Sie hatten nur begrenzten Kontakt zu ihren Anwälten und Angehörigen und wurden Berichten zufolge gefoltert und misshandelt. Einige von ihnen sollen während der Haft schwer erkrankt sein.
Die turkmenischen Behörden gingen im Zuge einer neuen Repressionswelle gegen unabhängige Vertreter der Zivilgesellschaft und Journalisten vor. In Armenien und Aserbaidschan wurden unabhängige Journalisten und Medien schikaniert, die über Aktivitäten der Opposition berichteten.
In Russland wurden ein Gesetz zur Bekämpfung des Extremismus und die Bestimmungen zu Verleumdung und Beleidigung dazu verwendet, abweichende Meinungen zu unterdrücken und Journalisten und Menschenrechtsverteidiger zum Verstummen zu bringen. Unabhängige Journalisten bzw. Medien und NGOs, die über die Menschenrechtsverletzungen in der instabilen Region des Nordkaukasus berichteten, wurden zur Zielscheibe der Behörden. In einem Klima wachsender Intoleranz gegenüber unabhängigen Positionen wurden mehrere Menschenrechtsverteidiger und Anhänger oppositioneller Gruppen strafrechtlich verfolgt, weil sie abweichende Meinungen geäußert oder die Regierungsbehörden kritisiert hatten.
In Armenien, Aserbaidschan, Kasachstan, Tadschikistan und Usbekistan waren Anhänger nicht offiziell anerkannter religiöser Gruppen oder Glaubensgemeinschaften bzw. nicht-traditioneller spiritueller Vereinigungen weiterhin Schikanen ausgesetzt.
In einigen Ländern förderten die Behörden ein Klima der Intoleranz gegenüber sexuellen Minderheiten, so dass die Betroffenen kaum Gehör fanden und ihre Rechte keinen Schutz genossen. Öffentliche Veranstaltungen von Lesben, Schwulen, Bisexuellen und Transgender-Personen wurden behindert, die Teilnehmer wurden nicht ausreichend geschützt, und in einigen Fällen äußerten sich hochrangige Politiker unverhohlen feindselig gegenüber Homosexuellen. In Belarus, Litauen und der Republik Moldau wurden öffentliche Veranstaltungen zur Unterstützung sexueller Minderheiten verboten. In Bosnien und Herzegowina musste die erste derartige Veranstaltung, die als mehrtägiges Festival geplant war, nach Morddrohungen gegen die Organisatoren und tätlichen Angriffen auf Teilnehmer vorzeitig beendet werden. Bereits im Vorfeld des Festivals hatten einige Politiker und Medien mit einer homosexuellenfeindlichen Kampagne für ein Klima der Einschüchterung gesorgt. In der Türkei war die Diskriminierung von Menschen aufgrund ihrer sexuellen Orientierung und ihrer geschlechtlichen Identität weiterhin sehr verbreitet. Berichten zufolge ging die Polizei nach wie vor gewalttätig gegen Transgender-Personen vor. In Istanbul verbot ein Gericht eine Organisation, die sich für die Rechte sexueller Minderheiten einsetzte, mit der Begründung, ihre Zielsetzungen richteten sich "gegen die moralischen Werte und die Familienstruktur".
Fazit
Neben besorgniserregenden Entwicklungen, die eine uneingeschränkte Umsetzung der Menschenrechte für alle Menschen in Europa und Zentralasien behinderten, waren 2008 auch einige Fortschritte zu verzeichnen, auf denen in den kommenden Jahren aufgebaut werden muss. So hat sich Usbekistan seinen Nachbarstaaten angeschlossen und die Todesstrafe abgeschafft. Damit ist jetzt Belarus nicht nur in Europa, sondern in der gesamten Region Europa und Zentralasien das einzige Land, das noch Hinrichtungen durchführt.
In einer für die Türkei sehr ungewöhnlichen Geste entschuldigte sich der Justizminister im Oktober bei der Familie eines jungen Mannes, der in Gewahrsam der Sicherheitskräfte zu Tode gekommen war, und räumte ein, dass sein Tod möglicherweise durch Folter verursacht worden sei. Dies ist ein erster Schritt in Richtung Verantwortungsübernahme und Wiedergutmachung für die Opfer, dem weitere folgen müssen.
In den Ländern Europas und Zentralasiens konnten weiterhin viele derjenigen, die für Menschenrechtsverletzungen verantwortlich waren, der Strafverfolgung entkommen. Die Verhaftung und Überstellung des ehemaligen Führers der bosnischen Serben, Radovan Karadzic, an den Internationalen Strafgerichtshof war jedoch ein wichtiger Schritt im Kampf gegen die Straflosigkeit im Zusammenhang mit Kriegsverbrechen, die im ehemaligen Jugoslawien begangen wurden. Nun muss auch die Justiz der Nachfolgestaaten auf dem Balkan die strafrechtliche Verfolgung der mutmaßlichen Täter intensivieren. Halbherzige Bemühungen oder eine mangelnde Unabhängigkeit der Gerichte führten bislang in vielen Fällen zu Straflosigkeit.
In Europa mangelte es oft an der erforderlichen politischen Führungsstärke, um den Schutz der Menschenrechte in der Region sicherzustellen. In vielen europäischen Staaten fehlte es auch am politischen Willen, die eigenen Verpflichtungen im Menschenrechtsbereich zu erfüllen.
Menschenrechte können erst dann wirkungsvoll geschützt werden, wenn gewährleistet ist, dass die Betreffenden zur Verantwortung gezogen werden und Rechenschaft ablegen müssen. Gemeinsam mit dem Europarat muss die Europäische Union die Verantwortung dafür übernehmen, Diskriminierung, Armut und Unsicherheit zu bekämpfen.
Was die Anerkennung von Verantwortung betrifft, war Ende 2008 ein positiver Schritt in Montenegro zu verzeichnen. Er machte auch deutlich, dass die Bemühungen vieler Einzelner, Gehör zu finden, erfolgreich sein können. Am 25. Dezember übernahm die Regierung von Montenegro offiziell die Verantwortung für die "Deportation" bosnischer Flüchtlinge im Jahr 1992. Damals waren bosnisch-muslimische Flüchtlinge von der montenegrinischen Polizei an die bosnisch-serbische Armee überstellt worden. Die Familien der "Verschwundenen" hatten die Regierung Montenegros auf Entschädigung verklagt. Diese hatte jedoch gegen jedes entsprechende Gerichtsurteil Rechtsmittel eingelegt und so eine Wiedergutmachung blockiert. Im Dezember informierte die Regierung die Anwälte der Kläger, dass sie bereit sei, allen 193 Betroffenen Entschädigungen zu zahlen. Dazu zählen die neun Überlebenden der "Deportation" und ihre 28 Familienmitglieder, aber auch die 156 Angehörigen der 83 Männer, die nach ihrer Überstellung von der bosnisch-serbischen Armee getötet worden waren.
Die Anwälte Dragan und Tea Prelevic, die die Familien von 45 Opfern vertreten, erklärten in einem Brief an Amnesty International: "Alle Familien fühlen sich von der enormen Last der staatlichen Verleugnung befreit, unter der sie 16 Jahre lang gelitten haben. Und endlich empfinden sie tatsächlich so etwas wie Gerechtigkeit. Hier wurde ein wichtiger Schritt getan, und wir hoffen, dass dies für alle Opfer von Kriegsverbrechen in Montenegro und in der gesamten Region positive Auswirkungen hat. [...] Uns ist bewusst, dass diese tapferen Frauen, Kinder und Männer, die so Furchtbares erleiden mussten, dies ohne Ihre Unterstützung nicht erreicht hätten."