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Statement zur Pressekonferenz in Berlin anlässlich des Bundesweiten Flüchtlingstags 2018
Sehr geehrte Damen und Herren,
vor einem Jahr haben wir bei der gemeinsamen Pressekonferenz zum Flüchtlingstag kurz vor der Bundestagswahl an alle Abgeordnete appelliert, sich mit ihrem Mandat für den Schutz von Menschen auf der Flucht einzusetzen.
Dass es im Koalitionsvertrag ein halbes Jahr später tatsächlich eine Obergrenze für die Flüchtlingsaufnahme in Deutschland geben würde, hätten wohl viele nicht für möglich gehalten.
Wo stehen wir heute? Wie gestaltet sich die aktuelle Flüchtlingspolitik von Bundesregierung und EU? Und was wäre zu tun, um menschenrechtlich und solidarisch zu handeln?
1. Diskurs – Integrationsbereitschaft – Familiennachzug
Zunächst ist klar, dass endlich Schluss sein muss mit den gefühlten Wahrheiten oder Behauptungen im gegenwärtigen gesellschaftlichen Diskurs über die angeblich mangelnde Integrationsbereitschaft der Gesellschaft. Denn genau durch die falschen Behauptung, die Menschen "da draußen" seien integrationsmüde und wären nicht mehr zur Aufnahme von Flüchtlingen bereit, werden derzeit all die restriktiven gesetzlichen Abschottungsmaßnahmen begründet und getroffen. Betrachtet man die Fakten, so braucht es also keinen Masterplan Migration.
Das Integrationsbarometer des Sachverständigenrats hat es in der vergangenen Woche sehr deutlich in einer Studie mit über 9.000 Befragten gezeigt: die Alltagserfahrungen im Zusammenleben zwischen Deutschen und Migranten sind deutlich besser als der Diskurs. Die Haltung speziell gegenüber Flüchtlingen sei weitaus positiver, als man hätte annehmen können angesichts des scharfen Tons in der gesellschaftlich-medialen Debatte: So glaubt unter den Befragten ohne Migrationshintergrund mehr als die Hälfte nicht, dass die aufgenommenen Flüchtlinge die Kriminalität im Land erhöhen werden. Und 80% glauben zudem, dass Deutschland durch Zuwanderung langfristig kulturell und auch wirtschaftlich bereichert werde.
Der Familiennachzug zu subsidiär Geschützten wurde dennoch als erste Amtshandlung der noch nicht beschlossenen Großen Koalition zunächst über die 2 Jahre hinaus weiter ausgesetzt und zusätzlich noch auf 1.000 Menschen monatlich begrenzt. Die Beschränkungen beim Familiennachzug betreffen insbesondere Syrerinnen und Syrer, aber auch Menschen aus dem Irak oder Eritrea, deren Familien so auf Jahre getrennt werden. Amnesty International hatte die Bundesregierung im Gesetzgebungsverfahren aufgefordert, Familien nicht länger auseinanderzureißen – vergeblich. Das von uns als viel zu kompliziert kritisierte Verfahren, das seit letztem Monat in Kraft ist, zeigt leider, wie sehr wir Recht hatten: Von 853 Anträgen auf Familienzusammenführung wurden 65 vom Bundesverwaltungsamt positiv beschieden, nur 42 Personen erhielten ein Visum. 42!
Es ist offensichtlich, dass es in deutschen Auslandsvertretungen in der Region rundum Syrien an personellen Kapazitäten derzeit genauso mangelt wie in den im Verfahren ebenfalls beteiligten Ausländerbehörden, die Integrationsleistungen prüfen müssen. Amnesty International appelliert deshalb an die Bundesregierung, spätestens nach einem Jahr das familienverachtende Gesetz auf den Prüfstand zu stellen. Das Verfahren muss angepasst werden, um das zu ermöglichen, was humanitär geboten ist: Familien, die auf der Flucht auseinandergerissen wurden, möglichst schnell wieder zusammenzuführen.
2. Europäische Ebene und Kooperation mit Drittstaaten
Die Verhandlungen zum Gemeinsamen Europäischen Asylsystem gelten spätestens seit Juni als gescheitert, weil sich der Europäische Rat nicht auf eine solidarische Flüchtlingsverteilung auf alle EU-Mitgliedsstaaten einigen konnte. Viele europäische Länder wollen gar nicht mehr für ein Asylverfahren zuständig sein. Diese fehlende Einigung war und ist Auslöser weiterer dramatischer Entwicklungen:
Die neue italienische Regierung schloss im Sommer ihre Häfen für Menschen, die auf der Flucht aus Libyen über das Mittelmeer aus Seenot gerettet wurden. Und übrigens hat Italien auch die Koordinierung der Seenotrettung inzwischen der libyschen Küstenwache überlassen. In der Folge mussten die letzten operierenden NGO-Schiffe tagelange Irrfahrten im Mittelmeer zurücklegen, bis das Geschachere darüber, welcher Mitgliedstaat wie viele Dutzend Geflüchtete aufnehmen würde, ein Ende hatte. Zuletzt die Aquarius noch bis gestern.
Über 1.730 Menschen haben allein 2018 ihr Leben auf dieser tödlichsten Fluchtroute verloren, die Dunkelziffer liegt selbstredend höher. Die von der EU ausgebildete und ausgerüstete libysche Küstenwache greift gegenwärtig Migranten und Flüchtlinge auf dem Mittelmeer auf und bringt sie direkt zurück in die Hölle der libyschen Haftzentren, wo sie misshandelt, vergewaltigt und gefoltert werden. Und jede europäische Regierung weiß das.
Um es nochmal sehr deutlich zu sagen: Die europäischen Regierungen sind mitverantwortlich an den Menschenrechtsverletzungen, die diesen Menschen in libyschen Gefängnissen zugefügt werden und am Sterben im Mittelmeer. All dies ist in der Migrationskooperation mit Libyen einkalkuliert.
Der bis dato unermüdliche Seenotrettungseinsatz zahlreicher NGOs ist durch Drohungen und eine unsägliche Schmutzkampagne unterbunden worden. Boote wurden beschlagnahmt und festgesetzt, gegen diverse Crew-Mitglieder laufen politisch motivierte Strafverfahren auf Grundlage konstruierter Vorwürfe.
Amnesty International hat im August einen (weiteren) Bericht – den 3. innerhalb eines Jahres – zur menschenrechtlichen Situation in Libyen und im zentralen Mittelmeer veröffentlicht. Wir haben die europäischen Regierungen darin erneut aufgefordert, sich gegenüber Libyen für die unverzügliche Freilassung der Migranten aus der Haft einzusetzen. Europa muss außerdem ausreichend Boote für die Seenotrettung im Mittelmeer einsetzen und dafür sorgen, dass niemand nach Libyen zurückgebracht wird.
Denn niemand darf in ein Land zurückgeschickt werden, in dem ihm Gefahr für Leib und Leben oder unmenschliche Behandlung droht. Libyen ist kein sicherer Ort. Europa ist in der Pflicht, seine Häfen wieder zu öffnen.
Menschenrechtlich explosiv ist die Situation gegenwärtig auch in den sog. Hotspots auf den griechischen Inseln, die nach Aussage etlicher Politiker und Politikerinnen gern als Vorbild für künftige Asylverfahren an den Außengrenzen gehandelt werden.
Zu den Folgen des EU-Türkei-Deals zählt, dass die im März 2016 – trotz der seinerzeit im Land lebenden 3 Millionen Flüchtlinge – noch offene türkische Grenze zu Syrien geschlossen wurde. Die Bundeskanzlerin sollte sich gegenüber Staatspräsident Erdogan bei dessen Deutschland-Besuch dafür einsetzen, dass diese Grenze zumindest für Menschen, die vor Angriffen auf Idlib fliehen, geöffnet wird. Zugleich ist die internationale Gemeinschaft aufgefordert, stärker als bisher syrische Flüchtlinge aus der Türkei aufzunehmen. Viele Flüchtlinge in der Türkei haben nach wie vor weder angemessenen Wohnraum, noch die Möglichkeit, sich und ihre Familien aus eigener Kraft zu versorgen.
Dass die inzwischen über 20.500 Schutzsuchenden auf den griechischen Inseln in erbärmlichen Zuständen verharren und in menschenunwürdigen Umständen vor sich hinvegetieren, gehört leider zum gewollten Abschreckungseffekt des EU-Türkei-Deals. Über Monate hinweg fehlt es diesen Menschen an einer angemessenen hygienischen Versorgung, es gibt zu wenig Ärzte, Frauen und Kinder sind sexuellen Übergriffen ausgeliefert, Schule fällt ohnehin aus. Die Menschen warten nicht auf die Prüfung ihres Asylantrags, sondern vor allem darauf zu erfahren, ob Griechenland ihren Antrag überhaupt für zulässig erachtet. Falls nicht, sollen sie laut Deal zurück in die Türkei geschoben werden. Insgesamt wurden in den letzten 2,5 Jahren unter dem Abkommen allerdings nur 1.718 Menschen in die Türkei zurückgeschoben, davon etwa 340 Syrerinnen und Syrer. Im Gegenzug sind 16.242 syrische Flüchtlinge aus der Türkei in der EU aufgenommen worden – 16.200 von insgesamt 3,5 Millionen syrischen Flüchtlingen die dort leben!
Dass der EU-Türkei-Deal Vorlage für die Dublin IV- und die Asylverfahrensverordnung wurde, erscheint absurd. Es kann doch nicht wahr sein, dass künftig bei jedem Asylverfahren geprüft werden sollte, ob nicht doch ein Drittstaat außerhalb der EU (wie z.B. die Türkei) für Asylverfahren und Flüchtlingsaufnahme zuständig sein könnte. Durch dieses Vorgehen würden sich Deutschland und anderen EU-Länder ihrer Verantwortung für den Flüchtlingsschutz entziehen. Zum Glück hat man sich bislang nicht darauf einigen können.
Aber die neuen Vorschläge der EU-Kommission, die auch in Salzburg, beim informellen Gipfel der EU-Staats- und Regierungschefs letzte Woche diskutiert wurden, haben ohnehin nur ein Ziel: mehr Abschottung an der EU-Außengrenze. Die Grenzschutzagentur FRONTEX soll auf 10.000 Grenzbeamten aufgestockt werden und fortan noch stärker als bislang Abschiebungen unterstützen. Die Zusammenarbeit mit nordafrikanischen Ländern soll intensiviert werden. Beide Maßnahmen dienen dazu, die unbeantwortete Frage darauf, wer künftig innerhalb der EU zur Aufnahme von Flüchtlingen bereit ist, zu umgehen. Es gibt keinerlei Einigung unter den Mitgliedstaaten darauf, wo ab sofort aus Seenot Gerettete in Europa einen sicheren Hafen finden können.
Mit nordafrikanischen Ländern wird zum Thema Migration längst intensiv kooperiert. Alles läuft jedoch derzeit darauf hinaus, ein Land in Nordafrika zu finden, das eine sog. "regionale Ausschiffungsplattform" für Migranten zur Verfügung stellt. Dies ist jedenfalls in solchen Ländern inakzeptabel, in denen Flüchtlinge bislang nicht vor Zurückweisung geschützt sind, wie z.B. in Ägypten.
3. Nationale Ebene
Die Stagnation bei den Verhandlungen für ein Gemeinsames Europäisches Asylsystem hat dazu geführt, dass die Bundesregierung mit Spanien, Griechenland und Italien bilaterale Abkommen verhandelt und z.T. geschlossen hat, um Schutzsuchende mit sog. EURODAC-Treffern aus diesen Ländern in einem Schnellverfahren wieder dorthin zurückzuschieben. Zumindest ist dies so verkündet und bereits praktiziert worden – die Abkommen wurden bislang nicht veröffentlicht. Diese Vereinbarungen verstoßen nach Auffassung von Amnesty International gegen die geltende Dublin III-Verordnung, wonach der Betroffene das Recht hat, sich gerichtlich gegen die polizeiliche Entscheidung der Rücküberstellung zu wehren. Diese Praxis ist also rechtswidrig und muss beendet werden.
Am vergangenen Freitag hat der Bundesrat erstmals zum Regierungsentwurf zur Einstufung von Tunesien, Algerien, Marokko und Georgien als sog. sichere Herkunftsländer beraten. Amnesty International lehnt das diskriminierende Konzept der sicheren Herkunftsstaaten ab, denn es führt zu einem unfairen Asylverfahren mit verkürzten Fristen und erschwert es den Schutzsuchenden ihre Verfolgung darzulegen. Die von der Politik suggerierte schnellere Abschiebung von Antragstellenden aus diesen Ländern geht damit nicht einher. Es handelt sich also lediglich um Symbolpolitik zu Lasten von Schutzsuchenden. Wir haben eine ausführliche Stellungnahme zu dem Gesetzesvorhaben abgegeben, die Sie auch auf unserer Website finden können, wo wir uns insbesondere mit der Menschenrechtssituation in den Maghreb-Staaten befassen.
Erlauben Sie mir zum Schluss noch einen Blick nach Afghanistan: Seit der Unterzeichnung der sog. "Gemeinsamen Erklärung über die Zusammenarbeit in Fragen der Migration" mit Afghanistan im Oktober 2016 hat Deutschland bereits 366 Afghanen abgeschoben. Dabei ist die aktuelle Menschenrechts- und Sicherheitslage in Afghanistan so schlecht wie nie seit dem Ende der Taliban-Regierung. Allein im vergangenen Jahr wurden knapp 10.500 Menschen getötet oder verletzt. Und im ersten Halbjahr 2018 wurden bereits etwa 1.700 Menschen getötet und weitere 3.430 verletzt.
Menschen in Afghanistan können überall Opfer von Kampfhandlungen, Anschlägen und Verfolgung werden. Nach dem völkerrechtlichen Grundsatz der Nichtzurückweisung ist es verboten, Menschen in ein Land abzuschieben, in dem ihnen unmenschliche Behandlung, Gefahr für Leib und Leben oder Verfolgung droht. Auch die neuen Richtlinien des UNCHR zeigen, dass Kabul keine "interne Fluchtalternative" darstellt, also kein sicherer Ort ist. Dennoch hat sich die Bundeskanzlerin nach Bekanntwerden des aktuellen Asyllageberichts zu Afghanistan aus dem Auswärtigen Amt dafür ausgesprochen, weiterhin und zwar ohne Einschränkungen Abschiebungen in das Land durchzuführen.
Amnesty International appelliert erneut an die Landesinnenminister, dafür zu sorgen, dass aktuell niemand nach Afghanistan abgeschoben wird.
Mir macht der gegenwärtige rassistische Diskurs in Deutschland und weiten Teilen Europas Sorgen. Deshalb ist es mir ein besonderes Anliegen, die heutige Pressekonferenz dafür zu nutzen, auf das von Amnesty International und Pro Asyl unterstützte Bündnis #unteilbar hinzuweisen und für die Großdemonstration am 13. Oktober in Berlin zu werben, bei der wir alle unter dem Motto "Für eine offene und freie Gesellschaft – Solidarität statt Ausgrenzung" Gesicht zeigen können.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!