Positionspapiere Afghanistan 27. August 2021

Politische Forderungen von Amnesty International zur aktuellen Situation in Afghanistan

Amnesty-Logo: Kerze umschlossen von Stacheldraht

HAUPTBOTSCHAFTEN AN DIE EUROPÄISCHEN MITGLIEDSTAATEN

a) Ermöglichung der Ausreise aus Afghanistan auch nach Beendigung der Evakuierungsflüge. Die europäischen Mitgliedstaaten müssen alles in ihrer Macht Stehende tun, um die unverzügliche Ausreise aus Afghanistan für alle Menschen zu gewährleisten, die Gefahr laufen, ins Visier der Taliban zu geraten. Sie müssen all jenen, die das Land verlassen und im Ausland Zuflucht suchen wollen, die Möglichkeit dazu geben, unter anderem durch die vorübergehende Aussetzung der Visumspflicht.

b) Afghan_innen in Europa willkommen heißen und ihnen Schutz gewährleisten. Die EU-Mitgliedstaaten müssen ihre Grenzen für Afghan_innen, die Zuflucht suchen, offen halten und ihnen sichere und legale Wege öffnen, um in ihrem Hoheitsgebiet Schutz zu finden. Sie sollten diejenigen schützen und unterstützen, die ihr Hoheitsgebiet unabhängig davon erreichen, ob dies auf regulärem oder irregulärem Weg geschieht. Die EU-Mitgliedstaaten sollten all jenen, die sich bereits in Europa aufhalten, internationalen Schutz gewähren und ihnen die erforderlichen Papiere ausstellen, damit sie ihre Rechte in vollem Umfang wahrnehmen können. Afghan_innen, die nicht die Voraussetzung für den Flüchtlingsstatus erfüllen, müssen wirksam vor Abschiebungen geschützt werden.

c) Unterstützung der Nachbarländer und anderer Länder in der Region. Die EU-Mitgliedstaaten sollten den Nachbarländern Afghanistans und anderen Ländern in der Region helfen, ihre Grenzen offen zu halten, indem sie sich die Verantwortung für den Schutz und die Unterstützung von Flüchtlingen teilen. Sie können dies durch humanitäre Hilfe und durch die Öffnung und Verbesserung sicherer und legaler Wege für afghanische Flüchtlinge tun.

HAUPTBOTSCHAFTEN AN DIE INTERNATIONALE GEMEINSCHAFT

a) An den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen: Verabschiedung einer Dringlichkeitsresolution. Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen muss die Taliban im Rahmen einer Dringlichkeitsresolution dazu auffordern, das humanitäre Völkerrecht zu achten, auf Vergeltungsmaßnahmen zu verzichten, und die Sicherheit aller Afghan_innen ungeachtet ihrer ethnischen Zugehörigkeit und ihres Glaubens zu wahren.

b) An den Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen: Verabschiedung einer robusten Resolution, die einen internationalen Untersuchungsmechanismus beinhaltet. Alle Mitgliedsstaaten des Menschenrechtsrats der Vereinten Nationen müssen sich dafür einsetzen, dass Menschenrechtsverletzungen ermittelt, dokumentiert, Beweise gesammelt und gesichert werden können. Die Menschenrechtssituation muss unabhängig beobachtet werden; die Hinweise, die vor weiteren Verbrechen und Menschenrechtsverletzungen durch die Taliban warnen, liegen vor. Um Straflosigkeit nachhaltig zu bekämpfen, braucht es jetzt einen robusten Untersuchungsmechanismus, dessen Mandat über die Berichterstattung an die Vereinten Nationen hinausgeht. Hierfür müssen sich die Mitgliedsstaaten uneingeschränkt einsetzen.

LOBBYFORDERUNGEN IM EINZELNEN

A. Ermöglichung der Ausreise aus Afghanistan auch nach Beendigung der Evakuierungsflüge

1. Aktive Organisation oder Unterstützung von Evakuierungen an geeigneten Orten für alle, die Gefahr laufen, ins Visier der Taliban zu geraten, nicht nur für Regierungsverbeamtete, Botschaftsangehörige, Übersetzer_innen und andere Personen, die mit dem Ausland in Verbindung stehen, sondern auch für Menschenrechtsverteidiger_innen, Aktivist_innen der Zivilgesellschaft, Akademiker_innen, Journalist_innen und marginalisierte Gruppen.

2. Aussetzung der Visumspflicht für afghanische Staatsangehörige zumindest so lange, bis die Sicherheitslage die Wiedereröffnung von Botschaften und Konsulaten und ein zügiges, effizientes und transparentes Verfahren bei der Visavergabe ermöglicht. 

B. Aufnahme von Afghan_innen in Europa und Gewährleistung ihres Schutzes

Auch wenn die Lage in Afghanistan nach wie vor instabil ist, können die EU-Mitgliedstaaten jetzt Sofortmaßnahmen ergreifen, um Afghan_innen in Europa willkommen zu heißen und sowohl Neuankömmlingen als auch den Afghan_innen, die sich bereits in Europa aufhalten, Schutz zu bieten.

1. Die Grenzen offen halten und neue sichere und legale Wege eröffnen, um sicherzustellen, dass Afghan_innen, die in Europa Schutz suchen wollen, dies so schnell und sicher wie möglich tun können und ungehinderten Zugang zum Hoheitsgebiet der EU und zu Asylverfahren erhalten. Im Einzelnen:

  • Aussetzung der Visumspflicht für afghanische Staatsangehörige zumindest so lange, bis die Sicherheitslage die Wiedereröffnung von Botschaften und Konsulaten und ein zügiges, effizientes und transparentes Verfahren bei der Visavergabe ermöglicht.
  • Erteilung humanitärer Visa in einer dem Ausmaß der Krise angemessenen Anzahl sowohl für Afghan_innen in Afghanistan als auch für Afghan_innen in Nachbar- und Aufnahmeländern wie Iran, Pakistan und der Türkei.
  • Nutzung der Dublin-Bestimmungen zur Familienzusammenführung, um die Ankunft von Familienmitgliedern von Afghan_innen, die sich bereits in Europa aufhalten, zu erleichtern.
  • Beschleunigung der Bearbeitung aller Visa zum Zweck der Arbeitsaufnahme, des Studiums und der Familienzusammenführung für afghanische Staatsangehörige.

2. Sicherstellen, dass Afghan_innen, die Europa eigenständig erreichen, um Schutz zu suchen, geschützt und angemessen unterstützt werden, unabhängig davon, ob sie auf regulärem oder irregulärem Wege eingereist sind. Insbesondere:

  • Gewährleistung des Zugangs zu einem fairen und wirksamen Asylverfahren sowie die Sicherstellung angemessener Aufnahmebedingungen.
  • Sicherstellung einer gerechten Verteilung der Verantwortung für den Schutz und die angemessene Aufnahme von afghanischen Asylbewerber_innen durch Umsiedlung (Relocation) und die Bereitstellung humanitärer, finanzieller und technischer Unterstützung für die Aufnahmeländer für den Fall, dass die Zahl der ankommenden afghanischen Asylbewerber_innen ansteigt.
  • Einhaltung des Grundsatzes der Nichtzurückweisung (Non-Refoulement-Gebot) und Verzicht auf Praktiken wie Pushbacks, die gegen EU- und internationales Recht verstoßen.

3. All jene Afghan_innen, die sich in Afghanistan aufhielten, sowie denjenigen, die sich zum 15. August 2021 bereits in der EU oder anderen Drittstaaten aufhielten, internationalen Schutz gewähren. Im Einzelnen:

  • Beschleunigung aller anhängigen Asylverfahren für afghanische Staatsangehörige.
  • Erneute Überprüfung von Amts wegen aller negativer Asylbescheide afghanischer Schutzsuchender sowie von Fällen, in denen andere Formen des Schutzes widerrufen oder nicht verlängert wurden, um neu entstehende Schutzbedürfnisse an Ort und Stelle bewerten zu können.
  • Berücksichtigung aller afghanischen Frauen und Mädchen als Prima-facie-Flüchtlinge aufgrund der Risiken bei einer Rückkehr nach Afghanistan und der hohen Wahrscheinlichkeit einer Anerkennung als Flüchtling.
  • Sicherstellen, dass Afghan_innen, die nicht als Flüchtlinge anerkannt werden können, auf andere Weise wirksam vor Abschiebungen geschützt werden.

4. Alle Abschiebungen stoppen und alle Afghan_innen, die sich derzeit in Europa aufhalten, mit einer Aufenthaltserlaubnis ausstatten. Alle EU-Mitgliedstaaten müssen Rückführungen nach Afghanistan sofort stoppen. Afghan_innen, die sich derzeit ohne regulären Aufenthalserlaubnis in Europa aufhalten, müssen eine solche erhalten, damit sie ihre Menschenrechte in vollem Umfang wahrnehmen und Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen erhalten können.

5. Rückführung gemäß Dublin:

  • Nutzung der Ermessensklauseln gemäß Artikel 17 der Dublin III-Verordnung, um die Zuständigkeit für die Prüfung von Asylanträgen von Afghan_innen zu übernehmen, die sich bereits im Hoheitsgebiet eines EU-Mitgliedstaates befinden.
  • Keine Überstellung von afghanischen Asylbewerber_innen auf der Grundlage der Dublin-Regeln in EU-Mitgliedstaaten, die die Rückführung nach Afghanistan nicht gestoppt haben, da die Gefahr einer Kettenabschiebung besteht.
  • Verzicht auf die Überstellung von Afghan_innen nach Griechenland. Die jüngste Entscheidung der griechischen Regierung (Juni 2021), die Türkei als sicheres Land für Afghan_innen zu bezeichnen, bedeutet, dass ihre Anträge auf internationalen Schutz als unzulässig betrachtet werden, wodurch sie der unmittelbaren Gefahr einer Rückführung in die Türkei und einer weiteren Kettenabschiebung nach Afghanistan ausgesetzt sind. Griechenland muss seine Rechtslage ändern, mit der die Türkei als sicher Drittstaat für Flüchtlinge, einschließlich Afghan_innen, eingestuft wird.

C. Unterstützung der Nachbarstaaten und anderer Staaten in der Region

Die EU-Mitgliedstaaten und die internationale Gemeinschaft müssen den Nachbarländern Afghanistans und anderen Staaten in der Region helfen, ihre Grenzen offen zu halten, indem sie die Verantwortung für den Schutz und die Unterstützung von Flüchtlingen aus Afghanistan teilen. Im Einzelnen:

1. Sichere und legale Wege für Flüchtlinge eröffnen und ausbauen, wie z.B. Resettlement und private Sponsorenprogramme, und Kontingente in einer dem Ausmaß der Krise angemessenen Zahl anbieten.

2. Aufforderung an Nachbarländer wie Pakistan, Iran, Tadschikistan, Usbekistan und Turkmenistan, ihre Grenzen offenzuhalten.

3. Bereitstellung bedeutender finanzieller, technischer und personeller Beiträge zur Deckung der humanitären Bedürfnisse der afghanischen Flüchtlinge. 

4. Aufforderung an die Türkei, unverzüglich alle Rückführungen afghanischer Staatsangehöriger nach Afghanistan und alle Rückschiebungen in den Iran einzustellen.

5. Keine Auslagerung der Verantwortung für den Schutz von afghanischen Flüchtlingen an Drittländer, insbesondere die Türkei.

6. In Anbetracht der unverhältnismäßigen Verantwortung, die den Nachbarländern Afghanistans, wie Iran und Pakistan, bereits auferlegt wurde, von der Rückführung afghanischer Staatsangehöriger in Länder der Region abzusehen.

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