Amnesty Report 07. April 2021

Vorwort zum Amnesty International Report 2020/21

Proträtbild einer Frau mit blonden Haaren und blauer Brille, sie verschränkt die Arme und schaut in die Kamera

Von Agnès Callamard, Internationale Generalsekretärin von Amnesty International

Im Jahr 2020 erschütterte ein winziger Molekülhaufen die ganze Welt. Ein lokales Virus, mit bloßem Auge nicht zu erkennen, löste mit bemerkenswerter Geschwindigkeit eine globale Pandemie aus. Was auch immer über seine Entstehung noch bekannt werden sollte: Das Corona-Virus und seine unzähligen Opfer sind zum Teil auch darauf zurückzuführen, dass überall auf der Welt innerhalb der Staaten und zwischen den Ländern tiefe und breite Ungleichheiten existieren.

Verschlimmert wurde dieses Phänomen durch eine rigide Sparpolitik, die die öffentliche Infrastruktur und die Gesundheitssysteme geschwächt hat, sowie durch eine in Form, Funktion und Führung kraftlose internationale Gesamtstruktur. Und alles wurde noch viel schlimmer, weil Regierende Druck ausübten, dämonisierten und ausgrenzten, archaische Konstrukte staatlicher Souveränität durchsetzten und sich gegenüber der Wirklichkeit, der Wissenschaft und universellen Normen ablehnend verhielten.

Dies sind außergewöhnliche Zeiten. Aber stellen wir uns dieser Herausforderung auch richtig? Außergewöhnliche Zeiten erfordern außergewöhnliche Antworten und verlangen nach außergewöhnlicher Führung. Im Jahr 2020 basierte die außergewöhnliche Führung nicht auf Macht, Privilegien oder Profiten. Sie basierte stattdessen auf den Beschäftigten im Gesundheitswesen, die an vorderster Front um jedes Leben kämpften. Sie basierte auf jenen, die sich um ältere Menschen kümmerten. Sie basierte auf Techniker_innen und Wissenschaftler_innen, die Millionen von Tests entwarfen und verzweifelt nach Impfstoffen suchten. Sie basierte auf jenen, deren Arbeit oft am unteren Ende der Einkommensskala angesiedelt ist und die uns doch ernährten; die unsere Straßen reinigen; die sich um die Leichen Hunderttausender Verstorbener kümmerten; die wichtige Reparaturen vornahmen; die auf unseren Straßen patrouillierten; die das fuhren, was von unserem öffentlichen Verkehr übrig geblieben war.

Im Jahr 2020, als ein Großteil der Welt den Betrieb einstellte, waren es diese Menschen, die aufstanden und sich hervortaten. Genauso wie diejenigen, die aus Solidarität zu Hause blieben, wenn sie denn ein Zuhause hatten, die physische Distanz aufrechterhielten, auch wenn es für sie emotional schwierig war, und die sich um die Menschen in ihrer Umgebung kümmerten.

Aber jenseits dieses alltäglichen Heldentums legte die Pandemie die verheerenden Folgen des strukturellen und historischen Machtmissbrauchs offen. Corona kann vielleicht nicht definieren, wer wir sind, aber die Pandemie zeigt deutlich, wie wir nicht sein sollten. Die Menschen, die dies erkannt haben, sind aufgestanden. Sie haben sich gegen Ungleichheit erhoben und gegen Polizeigewalt, die sich unverhältnismäßig stark gegen Schwarze Menschen, Minderheiten, in Armut lebende Menschen und Obdachlose richtet. Sie haben sich erhoben gegen Ausgrenzung, das Patriarchat und die hasserfüllte Rhetorik sowie das grausame Verhalten einer Führung, die auf Überlegenheit setzt.

Instagram-Posting von Amnesty in Deutschland:

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Die Forderungen der Bewegungen "Black Lives Matter" und "#MeToo" fanden weltweit Widerhall. Von Belarus bis Polen, vom Irak bis Chile, von Hongkong bis Nigeria strömten Menschen aus Protest gegen Unterdrückung und Ungleichheit auf die Straßen. Oft waren es Menschenrechtsverteidiger_innen und Aktivist_innen, die sich auf der ganzen Welt für soziale Gerechtigkeit einsetzten, die uns anspornten, während sie ihre eigene Sicherheit gefährdeten. Bisweilen haben wir außergewöhnliche politische Führungspersönlichkeiten gesehen. Oft waren es Frauen, die mutige und schwierige Entscheidungen trafen, um Leben zu schützen oder Gesundheitssysteme aufrechtzuerhalten, die notwendige Investitionen zu tätigten, um in beispiellosem Tempo Sofortlösungen zu finden, und die wirtschaftliche Unterstützung gewährten, die von jenen dringend benötigt wurde, die ihre Lebensgrundlage fast verloren hätten.

Aber die Pandemie hat auch die Mittelmäßigkeit und Verlogenheit, den Egoismus und den Betrug unter den Machthabenden dieser Welt verstärkt. Während ich dies schreibe, haben die reichsten Länder beinahe ein Monopol auf die weltweite Versorgung mit Impfstoffen erlangt, so dass die Länder mit den geringsten Ressourcen mit den schlimmsten gesundheitlichen und menschenrechtlichen Folgen konfrontiert sind und damit auch mit den am längsten andauernden wirtschaftlichen und sozialen Verwerfungen.

Millionen von Menschen sterben und weitere Millionen verlieren ihre Lebensgrundlage. Wie positionieren wir uns angesichts der Tatsache, dass die Einkommen der Top-Milliardäre, die Gewinne der Tech-Giganten und die Aktienkurse in den Finanzzentren der Welt immer weiter in die Höhe schnellen? Und vor allem: Wie lauten deren Vorschläge, um einen fairen Anteil an der Last der Pandemie zu schultern, um eine dauerhafte, faire und gerechte Erholung zu gewährleisten?

In den ersten Tagen des Jahres 2021 ist von dieser Seite nur anhaltendes Schweigen zu vernehmen. Wie kann es sein, dass wieder einmal die Struktur der Weltwirtschaft dazu führt, dass jene, die am wenigsten haben, am meisten geben müssen? Das Jahr 2020 offenbart die Schwäche der internationalen Zusammenarbeit: ein bröckelndes multilaterales System, das den Mächtigsten nachgibt und die Schwächsten nur unzureichend versorgt; ein System, dessen Akteure unfähig, wenn nicht sogar unwillig sind, die globale Solidarität zu stärken.

China enthielt der Welt in den ersten Tagen der Pandemie wichtige Informationen vor; das war katastrophal und verantwortungslos. Die USA beschlossen, sich inmitten der Pandemie aus der Weltgesundheitsorganisation WHO zurückzuziehen. Dieser Beschluss zeigte eine ungeheuerliche Missachtung gegenüber dem Rest der Welt. Die G20 entschieden, dass 77 Länder im Jahr 2020 ihre Schuldenrückzahlung aussetzen durften, verlangten aber gleichzeitig, dass das Geld später mit Zinsen zurückgezahlt wird. Als Folge dieser Entscheidung könnten sich strukturelle Ungleichheiten und wirtschaftliche Not verfestigen, mit potenziell schwerwiegenden Auswirkungen auf die wirtschaftlichen und sozialen Rechte von Millionen Menschen.

Nach Jahren des Behördenversagens lieferte das Jahr 2020 einen weiteren Beweis dafür, dass unsere globalen politischen Institutionen nicht für den globalen Zweck geeignet sind, dem sie dienen sollten. Die Pandemie hat die Aufmerksamkeit darauf gelenkt, dass die Welt derzeit unfähig ist, bei einem globalen Ereignis mit großen Auswirkungen effektiv und gerecht zusammenzuarbeiten. Umso stärker wird das Gefühl einer drohenden Gefahr, wenn wir in die Zukunft blicken und damit auf eine Krise von weitaus größerem Ausmaß, für die es keinen Impfstoff gibt – nämlich die Klimakrise.

Unterstützer_in von Amnesty bei der Klimademo, in gelber Regenjacke, weil es regnet und mit Schild "Klimaschutz ist Menschenschutz"

Amnesty beim Aktionstag "Globale Klima-Demo" am 25. September 2020 in Berlin

Im Jahr 2020 litten Millionen Menschen unter den katastrophalen Auswirkungen extremer Klimaereignisse. Katastrophen, die von der globalen Erwärmung und der Instabilität des Klimas verschärft wurden, beeinträchtigten Millionen Menschen in ihren Rechten auf Leben, Nahrung, Gesundheit, Wohnung, Wasser und sanitäre Einrichtungen. Die Auswirkungen reichen von der anhaltenden Dürre in Afrika südlich der Sahara und in Indien über verheerende Tropenstürme, die über Südostasien, die Karibik, das südliche Afrika und den Pazifik hinwegfegten, bis hin zu den katastrophalen Bränden, die Kalifornien und Australien heimsuchten.

Und die Antwort darauf? Die Zusage der Industrieländer im Rahmen des Pariser Abkommens, bis 2020 Entwicklungsländer bei der Klimafinanzierung mit mindestens 100 Milliarden US-Dollar zu unterstützen, wurde schlicht nicht eingehalten. Um das Ziel für 2030 zu erreichen, die globalen Treibhausgasemissionen um die Hälfte zu reduzieren, hätten die Staaten nun konkrete Zusagen machen müssen. Auch das ist nicht passiert. Ein drastischer Kurswechsel ist notwendig, um einen globalen Temperaturanstieg von mehr als 1,5 Grad Celsius gegenüber dem vorindustriellen Niveau abzuwenden, der irreversible Folgen auslösen würde.

2020: 366 Tage, in denen tödlicher Egoismus, Feigheit, Mittelmäßigkeit und toxische rassistische Diskriminierung auftraten. 366 Tage, die veranschaulichten, wie aktuell das gewalttätige Erbe von Jahrhunderten des Rassismus, des Patriarchats und der Ungleichheit ist. Aber auch 366 Tage, die uns als Inspiration für unsere Stärke und Widerstandsfähigkeit als Menschheitsfamilie dienen konnten; Tage, die zeigten, wie entschlossen Menschen für ihre Rechte und für faire und gerechte Chancen nach der Pandemie eintreten.

Außergewöhnliche Zeiten verpflichten zu außergewöhnlichen Reaktionen und verlangen nach außergewöhnlicher Führung. Was brauchen wir also, um eine Welt zu schaffen, die den großen Herausforderungen, die vor uns liegen, besser gewachsen ist? Die Grundlagen für eine nachhaltige, globale Gesellschaft nach der Pandemie liegen nicht allein in der Erholung. Was wir brauchen, sind Verantwortung, Menschenrechte sowie ein Überdenken und Neuformulieren der Beziehung von Umwelt und Wirtschaft.

Videoaufzeichnung der Online-Pressekonferenz von Amnesty International in Deutschland zum Jahresreport 2020/21:

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Behörden müssen unmittelbar und schneller daran arbeiten, Impfstoffe für alle zu produzieren und bereitzustellen. Es geht um einen grundlegenden Test, um herauszufinden, ob die Welt zur Zusammenarbeit fähig ist: global denken, lokal handeln und langfristig planen. Dazu gehört auch die Unterstützung einer Ausnahmeregelung zum TRIPS-Abkommen der Welthandelsorganisation, die eine dringend benötigte erweiterte Produktion von Covid-19-Gesundheitsprodukten ermöglicht. Außerdem muss sichergestellt werden, dass Pharmaunternehmen ihre Innovationen und Technologien dank offener, nicht exklusiver Lizenzen und dank Initiativen wie dem Covid-19 Technology Access Pool (C-TAP) der WHO gemeinsam nutzen. Über diesen ersten Schritt hinaus wird mehr als ein Neustart erforderlich sein. Es braucht einen Reset, in dem die Ursachen der Krise beseitigt sowie Rechte geschützt und respektiert werden, unteilbar und universell.

Erstens muss dafür die "Sicherheits"-Agenda der Regierungen beendet werden, die während der Pandemie sogar noch ausgeweitet wurde. Seit dem 11. September 2001 wurde der Handlungsspielraum für die Zivilgesellschaft drastisch eingeschränkt. Diese Agenda hat den außerordentlichen exekutiven und polizeilichen Befugnissen einen falschen Anstrich von Normalität verliehen und droht nun, zu einem Dauerzustand zu werden. Das muss ein Ende haben.

Zweitens erfordert ein fairer und nachhaltiger Aufschwung eine Neuordnung der öffentlichen Steuersysteme überall auf der Welt. Angemessene Besteuerung ist dabei ein Muss, um die Ressourcen zu bekommen, die benötigt werden, um wirtschaftliche und soziale Rechte inklusive der Rechte auf Gesundheit, Bildung und soziale Sicherheit Wirklichkeit werden zu lassen. Eine faire und menschenrechtskonforme Besteuerung von transnationalen Gewinnen wird dabei ein Schlüssel sein, ebenso wie konzertierte Bemühungen, Steuerhinterziehung und aggressive Steuervermeidung zu beenden.

Die Staaten sollten eine neue Steuer auf fossile Brennstoffe einführen, die auf daraus stammende Gewinnanteile der Energiekonzerne und die Dividenden an die Aktionär_innen erhoben wird. So könnten die Anteilseigner_innen und Unternehmen zum Umstieg auf erneuerbare Energien bewegt werden, ohne die Hauptlast den Verbraucher_innen aufzubürden. Kurzsichtige Entscheidungen haben in einer Post-Pandemie-Gesellschaft keinen Platz. Solange kaum regulierte und spekulative Investitionen in kohlenstoffintensive Anlagen die Weltwirtschaft dominieren, wird sich die Klimakrise nur verschlimmern. Im Verlauf könnten weitere Verstöße zu irreversiblen Schäden führen, die die Existenz der Menschheitsfamilie gefährdet.

Drittens müssen wir uns der Realität stellen, dass der souveräne Nationalstaat ungefähr so schlecht in der Lage ist, globale Herausforderungen anzugehen, wie eine Fahrrad-Handbremse, die einen Passagierjet stoppen soll. Eine Reform der Global Governance und die Umwidmung globaler Institutionen, um die Einhaltung der Menschenrechte zu stärken, ist die Voraussetzung für eine robuste Erholung nach der Pandemie. Wir können den Ansatz einiger Staaten nicht akzeptieren, die ihre Rosinen aus dem Kuchen picken, während sie andere, ihnen "unangenehme" Zutaten wie Menschenrechte, Rechenschaftspflicht und Transparenz zurücklassen.

Eine zweckdienliche Global Governance erfordert eine globale Überprüfung, wie die internationalen Normen und Standards der Menschenrechte umgesetzt werden, um Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu verhindern, ebenso Machtmissbrauch und Korruption, rücksichtslose Zensur und Unterdrückung Andersdenkender sowie Diskriminierung, brutale Gewalt und Folter durch diejenigen, deren Aufgabe es ist, uns zu schützen.

Für einen nachhaltigen belastbaren Aufschwung brauchen wir Innovation, Kreativität und Erfindungsreichtum. Dafür ist es nötig, dass unsere Freiheiten aufrechterhalten, verteidigt und geschützt werden, nicht beschnitten. Global Governance wird für globale Zwecke erst dann tauglich sein, wenn die globale Zivilgesellschaft systematisch in alle Abläufe eingebunden ist und Wertschätzung sowie Respekt genießt.

Das müssen wir fordern. Dafür müssen wir uns organisieren. Und als Zivilgesellschaft müssen wir sicherstellen, dass wir auch so aufgestellt sind. Das Jahr 2020 hat uns Lektionen gelehrt, die wir nicht ignorieren dürfen, weil sie sonst kommende Generationen gefährden: die Menschheitsfamilie ist voneinander abhängig; Handlungen, die wir in Krisenzeiten von den Regierungen verlangen, sind universell; unsere eigene Zukunft ist untrennbar mit der Zukunft verbunden, die wir für unseren Planeten schaffen. Diese Lektionen haben uns erneut den Kern der Menschenrechte gelehrt. Die Frage, deren Antwort noch aussteht, lautet: Werden wir klug genug sein, um zu erkennen, was getan werden muss, und mutig genug, um es zu tun, und zwar im größtmöglichen Umfang und mit vollem Tempo?

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