Amnesty Journal Ukraine 11. Juli 2025

"In der russischen Welt haben Menschenrechte keinen Platz"

Ein Mann mit Glatze steht vor einer Mauer und trägt einen Parka.

Maksym Butkevych ist einer der bekanntesten Menschenrechtsverteidiger der Ukraine und Offizier. Er wurde 2022 gefangen genommen und verbrachte mehr als zwei Jahre in russischer Haft.

Interview: Markus Berg

Sie sind Menschenrechtsverteidiger und aktiver Militäroffizier. Wie passt das zusammen?

Auf den ersten Blick sieht das nach einem Widerspruch aus. Die primäre Aufgabe des Militärs ist es, Macht und Gewalt auszuüben, um von der Politik gesetzte Ziele zu erreichen. Diese Gewalt richtet sich vor allem gegen Menschen. In der ­Situation, in der wir uns am 24. Februar 2022 wiederfanden, gab es für mich aber keinen Widerspruch. Mein Eintritt in die ukrainische Armee war vielmehr eine ­logische Konsequenz meiner Arbeit als Menschenrechtsverteidiger.

Warum?

Als die russische Vollinvasion in der Ukraine begann, kannte ich die Menschenrechtssituation in Russland und wusste, dass es in der Ukraine keinen Menschenrechtsaktivismus mehr geben würde, sollte sich die russische Armee durchsetzen. Der russische Staat schätzt die Menschenrechte nicht. Im Gegenteil, sie werden von der russischen Führung ignoriert, verhöhnt und unterminiert. In der Ideologie der russkij mir, der russischen Welt, haben Menschenrechte keinen Platz.

Ist Ihr Denken und Handeln als ­Militäroffizier von Ihrer Arbeit als Menschenrechtsverteidiger beeinflusst?

Die Strukturen und Vorgehensweisen in der Armee sind anders als das, was ich bisher gewohnt war. Ich bevorzuge einen gemeinsamen Entscheidungsprozess, anstatt Befehle zu geben oder zu empfangen. Aber wir müssen der Wahrheit ins Gesicht sehen: Krieg hat per Definition viel mit Entmenschlichung zu tun. Um an Kämpfen teilnehmen zu können, muss man den Gegner zumindest teilweise entmenschlichen. Gleichzeitig habe ich versucht, die Entmenschlichung auf das für die Erfüllung der Kampfaufgaben notwendige Mindestmaß zu beschränken. 

Als Sie im Juni 2022 gefangen genommen wurden, erlebten Sie selbst Entmenschlichung.

Am zweiten Tag unserer Gefangenschaft, auf dem Weg nach Luhansk, sagte man uns, dass die Genfer Konventionen für uns erst gelten würden, wenn wir unseren Zielort erreichten. Bis dahin seien wir keine Kriegsgefangenen. Uns wurde gesagt: Wenn ihr nicht tut, was euch befohlen wird, dann seid ihr einfach im Gefechtsgebiet verschwunden und taucht nie wieder auf. Aber die Genfer Konventionen galten für uns zu keinem Zeitpunkt. Wir wurden auf dem Weg nach Luhansk zwar mit Militärrationen versorgt, gleichzeitig bedrohten und demütigten uns die höheren Offiziere. Einer holte sein Handy heraus und begann, eine Rede von Wladimir Putin zu zitieren, in der dieser seine Version der ukrainischen ­Geschichte darstellte. Dann zwang der Offizier unsere Soldaten, das Gesagte Wort für Wort zu wiederholen. Wenn jemand etwas falsch wiedergab, sich versprach oder eine zu lange Pause machte, wurde ich mit einem Holzstock geschlagen, weil ich der Offizier dieser Männer war.

Wie ging es für Sie weiter?

Ein paar Monate später wurde in Luhansk ein Strafverfahren gegen mich inszeniert. Ich musste Papiere unterschreiben, die ich aber nicht lesen durfte. Das erste Verhör war sehr gewaltsam. Sie brachten mich in eine unangenehme Stressposition, bedrohten mich und gaben mir nichts zu trinken. Dann versetzten sie mir kleinere Elektroschocks und schlugen mich auf den Kopf und die Leber. Auf diese Art wollten sie mir zeigen, was passiert, wenn ich nicht kooperiere. Sie versprachen, mich bald auszutauschen, wenn ich ein Geständnis unterschreiben würde. Wenn nicht, dann würden sie mich gleich im Gefängnishof erschießen.

Haben Sie den Männern geglaubt?

Ich nahm an, dass sie blufften, aber ich war mir nicht ganz sicher, denn sie wiederholten immer wieder, dass sie machen könnten, was sie wollten – sie seien nur ihren Vorgesetzten gegenüber verantwortlich und die hätten ihnen freie Hand gegeben. Leider war das die Wahrheit. Ich war zwei Jahre und vier Monate in Haft. Als ich im Oktober 2024 freigelassen wurde, war ich sehr glücklich. 

Russland versucht, die ukrainische Gesellschaft zu spalten und gegeneinander aufzubringen.

Wie geht die ukrainische Zivilgesellschaft mit der Situation um?

Sie ist sehr aktiv und lebendig. Als ich gefangen genommen wurde, war das Engagement der ukrainischen Bürger*innen bereits sehr groß. Ich dachte damals, das sei der außergewöhnlichen Situation geschuldet. Aber als ich freigelassen wurde, war daraus längst eine neue Normalität entstanden. Die Menschenrechtsaktivis­t*in­nen sind sich natürlich der Einschränkungen bewusst, die die Kriegssituation mit sich bringt. Niemand behauptet, dass die Menschenrechte und die bürgerlichen Freiheiten in der Ukraine die gleichen sind wie zu Friedenszeiten. Das ist bedauerlich, aber unvermeidlich.

Warum unvermeidlich?

Weil unser Feind nicht nur an der Front­linie kämpft. Russland versucht auch, die ukrainische Gesellschaft zu spalten und gegeneinander aufzubringen, zum Beispiel diejenigen, die kämpfen, gegen diejenigen, die versuchen, sich den Kämpfen zu entziehen. 

Welche menschenrechtlichen Probleme gibt es in der Ukraine?

Die ersten Themen, die mir einfallen, sind Migration und Asyl. Die Ukraine ist derzeit kein gutes Ziel für Asylsuchende. Gleichzeitig sind viele Ukrainer*innen im Ausland, für die es keine konsequente staatliche Politik gibt – es mangelt an Fürsorge für unsere Landsleute im Ausland. Aber auch ausländische Staatsangehörige, die sich in der Ukraine aufhalten, haben zahlreiche Probleme. So kämpfen Menschen mit russischer oder belarusischer Staatsangehörigkeit für die Ukraine, über deren Rechte nicht genug gesprochen wird. Das gilt auch für die Rechte von Militärangehörigen. Bevor ich zum Militär ging, war mir nicht klar, dass die Rechte von Militärangehörigen nicht besonders gut beachtet werden. Es gibt also viel zu tun. 

Markus Berg ist freier Journalist. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.

HINTERGRUND

Maksym Butkevych

Geboren 1977, einer der bekanntesten Menschenrechtsverteidiger der Ukraine. Er setzt sich für die Rechte von Geflüchteten ein, ist Mitbegründer der Initiative No Border und des Zentrums für Menschenrechte (ZMINA). Von 2007 bis 2008 war er im Vorstand von Amnesty International Ukraine. Bis 2015 arbeitete Butkevych als Journalist und gehörte zu den Gründern des unabhängigen Senders Hromadske Radio. Vor dem russischen Angriff war Butke­vych unter anderem für das UNHCR tätig. Seit dem 24. Februar 2022 ist er Offizier der ukrainischen Armee. Er lebt in Kyjiw.
Foto: Emile Ducke / Ostkreuz

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