Amnesty Journal Pakistan 26. Juli 2017

Fremd gewordene Heimat

Eine Gruppe aus Kindern und Erwachsenen in einem dunklen Zelt

Mit offenen Augen. Aus Pakistan zurückgekehrte Kinder bei einer UN-Fortbildung in Kabul, September 2016

Hunderttausende Afghanen sind seit 2016 aus Pakistan ­abgeschoben worden. Im Konflikt zwischen Kabul und ­Islamabad dienen sie der Politik als Spielball. 

Von Britta Petersen, Neu-Delhi

Aziz Khaleqi ist noch voller Hoffnung. "In Pakistan hatten wir nichts, und hier haben wir auch nichts", sagt der 30-jährige ­Afghane, der dieses Frühjahr nach Kabul zurückkam. "Aber ­wenigstens werden wir nicht mehr als Flüchtlinge belästigt und bedroht." 

Khaleqis sechsköpfige Familie ist eine von tausenden, die seit 2016 Pakistan verlassen mussten und in ihre Heimat zurückgekehrt sind. Eine Heimat, die sie oft gar nicht kennen. Aziz Khaleqi war erst 15 Jahre alt, als er 2002 mit seinen Eltern aus der afghanischen Provinz Baghlan in die pakistanische Stadt ­Peschawar floh. Seine Kinder Abuzar (10), Ahmad (9), Bilqis (4) und Manja (2) sind alle dort zur Welt gekommen. "Vor zwei Jahren begannen die Schikanen", berichtet er. "An den Polizei­check­points in Peschawar wurde dir gesagt, du sollst das Land verlassen. Am Schluss konnten wir nicht einmal mehr einkaufen gehen oder in ein Taxi steigen, ohne dass uns jemand sagte, wir sollten dorthin zurück, wo wir herkommen."

Allein 2016 sind nach Schätzungen von Hilfsorganisationen rund 700.000 Flüchtlinge nach Afghanistan zurückgekehrt – zumeist unfreiwillig. Nach einem Bericht des Internationalen Währungsfonds (IWF) werden bis Mitte 2018 rund 2,5 Millionen weitere folgen, dies entspricht knapp zehn Prozent der Bevölkerung Afghanistans. Übertragen auf Europa würde dies bedeuten, dass die EU in einem Zeitraum von zwei Jahren 50 Millionen Menschen aufnehmen müsste. 

"Islamabad benutzt die Flüchtlinge", sagte Hamid Zazai, der selbst als afghanischer Flüchtling in Peschawar aufgewachsen ist, aber schon 2002 nach Kabul zurückkehrte und seitdem als Koordinator der deutsch-afghanischen Nichtregierungsorganisation Mediothek arbeitet. "Als ich in Peschawar gelebt habe, gab es keine Probleme", sagt er. Er ist überzeugt, dass der pakis­tanische Geheimdienst ISI die Hetze gegen die Flüchtlinge orchestriert. Offiziell begründet die pakistanische Regierung ihr Vorgehen damit, dass die afghanischen Flüchtlingslager ein Rückzugsort für Terroristen seien.

Die afghanische Regierung wirft dem Nachbarland wiederum vor, es würde den Taliban Zuflucht gewähren. Präsident Ashraf Ghani Ahmadzai hatte bei seinem Amtsantritt 2014 versucht, die Beziehungen zu Pakistan zu verbessern und die Verhandlungen mit den Taliban voranzutreiben. Ohne Erfolg. Seitdem geht Pakistan verstärkt gegen afghanische Flüchtlinge vor.

Das Flüchtlingswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) warnte Ende 2016 vor einer "humanitären Katastrophe" in Afghanis­tan, da es in dem Land aufgrund des Krieges bereits rund 1,5 Millionen Binnenvertriebene gibt. Doch Menschenrechtler geben dem UNHCR eine Mitschuld an der Misere, weil die Organisation nach Verhandlungen mit der Regierung in Islamabad freiwilligen Rückkehrern 400 US-Dollar Übergangsgeld anbot. Inzwischen sind es nur noch 200 Dollar.

Auch Aziz Khaleqi und seine Familie haben Geld bekommen. "Es reicht gerade mal, um für die nächsten zwei bis drei Monate unsere Miete und Lebensmittel zu bezahlen", sagt Aziz. "Danach muss ich einen Laden aufmachen oder Gemüse verkaufen, um Geld zu verdienen. Ich weiß noch nicht, was ich mache." Eine Rückkehr in seine Heimatprovinz Baghlan hält er für ausgeschlossen. Die Provinz in der Nähe von Kundus im Norden des Landes war schon vor Jahren unsicher. "Heute ist es noch schlimmer als damals, als ich mit meinen Eltern geflohen bin."

Afghanistan ist eines der ärmsten Länder der Welt. Seit dem weitgehenden Abzug der internationalen Truppen 2014 hat die Arbeitslosigkeit zugenommen. Sie lag 2016 bei 40 Prozent und droht nach Schätzungen der Weltbank weiter zu steigen. Das Wirtschaftswachstum fiel im gleichen Zeitraum um zwei Prozent. Mehr als ein Drittel der Bevölkerung lebt unterhalb der ­Armutsgrenze. 

"Die meisten Flüchtlinge kehren in Arbeitslosigkeit und Elend zurück", sagt Ahmad Shuja, Politikwissenschaftler an der American University in Kabul. Deshalb ist die Abschiebepraxis auch in Pakistan umstritten. Der pakistanische Schriftsteller Mohsin Hamid bezeichnet das Vorgehen der Regierung in Islamabad als "irregeleitet". Nicht nur, weil den abgeschobenen Flüchtlingen "katastrophaler Schaden" drohe, sondern auch, weil es "bessere Methoden" gebe, Pakistans Sicherheitslage zu verbessern. Er spielt damit auf die verbreitete Kritik an, dass Pakistans Armee trotz vollmundiger Bekundungen und zweier militärischer Operationen entlang der Grenze zu Afghanistan islamistische Gruppen wie Lashkar-e-Tayba, Jaish-e-Mohammed und das in Afghanistan aktive Haqqani-Netzwerk unbehelligt lasse, weil sie den eigenen politischen Zielen in Afghanistan und Kaschmir dienten.

Dabei könnte Pakistan durchaus stolz sein auf seine Flüchtlingspolitik. Seit dem Einmarsch der Sowjetunion in Afghanis­tan 1979 hat das Land mehrere Generationen afghanischer Flüchtlinge aufgenommen, die bisher recht gut integriert waren. Kurz vor dem Ende der Taliban-Herrschaft 2001 lebten mehr als vier Millionen Afghanen in dem Nachbarland, zu dem es enge kulturelle und soziale Verbindungen gibt. Noch im 18. Jahrhundert umfasste das Durrani-Reich, benannt nach einem der großen paschtunischen Stämme, das heutige Afghanistan, Pakistan, Kaschmir und Teile des Irans. Afghanistan hat die Durand-Linie, die 1947 nach dem Abzug der britischen Kolonialmacht zur offiziellen Grenze wurde, nie anerkannt. Damit verbunden war nicht nur die Teilung des Subkontinents in die Staaten Indien und Pakistan, sondern auch die Trennung der traditionellen Stammesgebiete von Paschtunen und Belutschen.

"Meine Eltern dachten, wir könnten uns in Peschawar ein sicheres und ruhiges Leben aufbauen", sagt Aziz Khaleqi wenige Wochen nach seiner Rückkehr in die fremd gewordene Heimat. Doch im vergangenen Jahr verkündete die Regierung in Islamabad, der Flüchtlingsstatus für Afghanen ende im Dezember 2016. Inzwischen wurde diese Frist bis Ende 2017 verlängert. Seit dem Anschlag in Kabul, bei dem im Mai 150 Menschen vor der deutschen Botschaft getötet wurden, sind Khaleqis Sorgen noch größer geworden. "So etwas gab es in Peschawar nicht", sagt er. Mit der Angst vor Anschlägen müsse seine Familie jetzt leben. 

Er appelliert an die internationale Gemeinschaft, Afghanistan beizustehen. "Wenn es erst einmal Frieden und Sicherheit gibt, dann können wir uns selbst helfen."

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