Amnesty Journal Deutschland 18. März 2021

"Revolution für das Leben"

Eine Frau mit braunem Kurzhaarschnitt und Brille vor einem schwarzen Hintergrund.

Die Philosophin und Publizistin Eva von Redecker.

Wie hängen Umweltproteste und der Kampf gegen Rassismus zusammen: Im Interview spricht die Philosophin Eva von Redecker über ihr Buch "Revolution für das Leben" und die Gemeinsamkeit gegenwärtiger Protestformen.

Interview: Lea De Gregorio

Wie haben sich Protestformen in den vergangenen Jahren verändert?

Sie sind auf jeden Fall sichtbarer geworden. Und sie haben sich stärker auf das Thema des Lebens fokussiert – auf die Mobilisierung rund um die Überlebenschancen für alle und die Wahrung der Lebensgrundlagen. Oberflächlich gesehen haben sich die Bewegungen zwar in ihren verschiedenen Anliegen multipliziert. Gleichzeitig teilen sie einen Kern: den Kampf für das Leben.

Damit meinen Sie Bewegungen wie die zivile Seenotrettung, Fridays for Future oder Black Lives Matter.

Genau. Die Umweltbewegung hat heute nicht mehr den Schutz bestimmter Naturanteile vor Augen. Es geht um die planetaren Lebensgrundlagen insgesamt. Und damit verzahnt sie sich auch mit den Anliegen der sozial Schwächsten und Diskriminierten, die unter den Folgeschäden der Umweltzerstörung am schlimmsten leiden. Das zeigt sich etwa bei dem Skandal um das durch Blei vergiftete Wasser in Flint in den USA. Da kommen Anliegen des schwarzen Befreiungskampfes und der Umweltbewegung zusammen.

Sie sprechen von einer Revolution für das Leben. Was heißt Revolution?

Ich sehe Revolution als tiefgreifenden, langatmigen sozialen Wandlungsprozess. Gegenwärtig wächst das Bewusstsein dafür, dass Veränderungen für ein solidarisches Miteinander und den Schutz des Planeten stark in alltäglichen Praktiken verwurzelt sind. Bei der Revolution für das Leben handelt es sich nicht um einen Staatsstreich. Das Phantasma der Revolution, demgemäß ein großes Ereignis alles ändern könnte, ist uns längst abhandengekommen.

Das Phantasma der Revolution, demgemäß ein großes Ereignis alles ändern könnte, ist uns längst abhandengekommen.

Eva
von Redecker
Philosophin

Welche Rolle spielen dabei die Menschenrechte?

Mit der Revolution für das Leben müssten die Verwirklichungsbedingungen der Menschenrechte neu hergestellt werden. Der Schutz des bestehenden Lebens reicht nicht mehr aus, sondern wir müssen die Regeneration des Lebens insgesamt sicherstellen. Gleichzeitig gibt es zu den Menschenrechten auf Unterkunft, gesundheitliche Versorgung und sauberes Trinkwasser einen fließenden Übergang.

Welche Utopie strebt die Revolution für das Leben an?

Wir müssen verschiedene Gesten erst einüben, um das Leben zu schützen: statt erschöpfender Arbeit etwa regenerierende Arbeit praktizieren und die Dinge, die wir besitzen, pflegen, anstatt sie zu beherrschen. Das wären meiner Meinung nach entscheidende Bestandteile der Utopie. Letztlich braucht es eine andere Wirtschaftsordnung und auch eine andere Vorstellung von Eigentum.

Eine Ordnung ohne die Sachherrschaft, die Sie in Ihrem Buch beschreiben?

Die klassische Kapitalismuskritik konzentriert sich stark auf Probleme, die sich aus Konkurrenz und Profit ergeben. Das halte ich auch weitgehend für richtig. Aber ich glaube, man muss eine weitere Dimension hinzufügen, die nicht nur den Kapitalismus, sondern auch real existierende sozialistische Systeme betrifft: die der Sachherrschaft. Darunter fasse ich ein eigentumzentriertes Herrschaftsverhältnis über Dinge, aber auch über Menschen.

Wie äußert sich das?

Die Extremform ist die Sklaverei. Aber darunter fallen auch patriarchale Ehegesetzgebungen, die die Produktionsfähigkeit der Frau dem Ehemann übereigneten. Unsere ganze Naturbeherrschung und auch unser Umgang mit Tieren beruhen auf der Idee, dass man mit dem, was einem gehört, alles machen kann. Und volle Verfügung heißt immer, etwas auch kaputtmachen zu dürfen.

Wie schätzen Sie die Chancen einer Revolution für das Leben ein?

Die Chancen, dass sie gelingen kann, schätze ich auf hundert Prozent, die Chance, dass sie gelingt, auf zehn.

Warum so gering?

Wenn man sich die derzeitigen Kräfteverhältnisse anschaut, sieht es sehr düster aus. Die Geschichte unserer bisherigen Revolutionsanstrengungen ist eine sehr traurige. Auf dieser Grundlage sind zehn Prozent schon sehr optimistisch. Aber ich glaube, in Fragen menschlichen Handelns ist eine Wahrscheinlichkeitsprognose nur begrenzt aussagekräftig. Ich sehe wirklich vielversprechende Potenziale und Bewegungen mit kostbaren Ansatzpunkten.

Wir erleben derzeit auch völlig andere Protestformen. Wie verhalten sich die Proteste Rechtsextremer zu denen, die Sie beschreiben?

Als Antagonismus. Wobei die Kategorie des Lebens auch in autoritären faschistischen Kontexten eine Rolle spielt. Auch dort ist die existenzielle Bedrohung des Lebens entscheidend. Aber die faschistische Antwort zielt immer auf das Aussterben der anderen zur Erhöhung der eigenen Lebenschancen.

Egoismus pur?

Die Kategorien des Egoismus und Altruismus sind pessimistische – als müsse man immer selbst auf etwas verzichten, damit es anderen besser geht. Mit der Idee der Solidarität dagegen ist eine größere Hoffnung verbunden – dass das gemeinsame Handeln und Tätigsein gleichermaßen die eigenen und die anderen Bedürfnisse befriedigt. Die Vorstellung, dass ein Einzelinteresse gegen ein anderes steht, ist nicht die einzig mögliche Art menschlichen Zusammenlebens. Man könnte auch davon ausgehen, dass egoistische Interessen einander bereichern, anstatt sich zu berauben. Es ist zum Beispiel ein riesiges Glück, dass mein Buch von manchen Leuten gerne gelesen wird. Und es wäre Quatsch zu sagen, dass es altruistisch von mir war, darauf zu achten, welches Buch diese Menschen haben wollten.

Eva von Redecker war von 2009 bis 2019 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Berliner Humboldt-Universität und arbeitet derzeit an einem Marie-Skłodowska-Curie Forschungsprojekt zum autoritären Charakter an der Universität Verona (PhantomAiD). Ihr Buch "Revolution für das Leben. Philosophie der neuen Protestformen" erschien 2020 im S. Fischer Verlag.

Lea De Gregorio ist Redakteurin des Amnesty Journals. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International oder der Redaktion wieder.

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