Amnesty Journal 19. Juli 2024

Wissen wollen, was ist

Ein Kiosk-Café, draußen, Sonnensegel sind aufgespannt, darunter Tische, an denen Männer sitzen, lesen, diskutieren, am Kiosk Preistafeln für Getränke und Speisen.

In ihrem Buch "Zeit der Zäune" begibt sich Katja Riemann an Orte der Flucht.

Von Nina Apin

"Im Rainbow sitzt man draußen auf ­kaputtem Mobiliar und quetscht sich unter die zu wenigen Sonnenschirme, denn die 38 Grad hier werden ja im Schatten gemessen. Also bleiben die unbeschatteten Kaffeehausplätze leer, weil: ü50 Grad." Die Autorin sitzt im griechischen Flüchtlingslager Moria im Café und wartet darauf, dass ein Minister eine mobile Corona-Klinik in Empfang nimmt: Eine Spende der niederländischen Regierung. Es fehlt zwar an Personal, die Klinik zu betreiben, doch man will den Gast nicht blamieren.

Katja Riemann wurde an jenem Tag aber auch Zeugin, wie Rechtsradikale das Camp noch während des Politikerbesuchs beschossen und Panik ausbrach: "'The Faschists!', wurde gerufen, und ich machte mir ein bisschen in die Hose, kein Witz, und rannte mit den Rennenden. Weg. Wohin? Richtung Camp irgendwie. Lauf!"

Alternative Bilder bieten

Wenn die Schauspielerin und Autorin solche Szenen beschreibt, ist man mittendrin im Alltag von Moria. Für ihr zweites Sachbuch "Zeit der Zäune" (siehe auch Amnesty Journal 04/2020) bereiste Katja Riemann Orte der Flucht, die viele nur aus den Nachrichten kennen: Moria, Karatepe, Ceuta. Mit einer NGO verteilte sie in Bosnien-Herzegowina Medikamente an Menschen, die an der EU-Außengrenze im Wald schliefen. Sie besuchte die Überreste des "Dschungels" im französischen Calais, ein Camp für traumatisierte Jesid*innen im Irak sowie den von Exil-­Tibeter*innen erbauten Ort McLeod Ganj in Nordindien.

Seit mehr als 20 Jahren engagiert sich Riemann für die Menschenrechte – als Unicef-Botschafterin und Unterstützerin humanitärer Organisationen, darunter auch Amnesty International. Ihre Reportagen sind von persönlichem Interesse und Empathie getragen. Riemann will, wie sie im Vorwort schreibt, eine Alternative anbieten zu den Bildern aus Geflüchtetenlagern, "über Reihen weißer UNHCR-Zelte hinwegfliegend".

Im Mittelpunkt ihres Buchs stehen deshalb die Menschen, denen sie begegnet: Etwa der Mission Lifeline-Aktivist Nik aus Kiel oder Sonia Nandzik und Douglas Herman von Refocus Media Lab, die Filmschulen in Geflüchtetenlagern betreiben. Am eindringlichsten sind Riemanns Begegnungen mit den Menschen, die irgendwann in ihrer Biografie zu Geflüchteten wurden: An den Stacheldrahtzäunen von Melilla und Nador spricht Riemann mit jungen Männern, die seit Jahren für "Boza" trainieren, das Überqueren der Grenze nach Europa. In Moria trifft sie den 16-jährigen Yaser, der unbedingt Regisseur werden will. Er floh aus Afghanistan über den Iran in die Türkei und gelangte nach elf vergeblichen Versuchen über das Mittelmeer nach Lesbos und schließlich nach Deutschland. Im Irak sagt ihr eine alte Frau lachend: "Wir leben bescheiden und können nichts anbieten, aber ich bin reich. Reich an Arthritis."

Lachen, Staunen, Weinen: Katja Riemann hat sich die Unvoreingenommenheit einer Bürgerin bewahrt, die sich fragt, warum die Dinge so sind, wie sie sind. Mit derselben Unbefangenheit mischt sie stilistische Elemente: Die Reportagen wechseln sich ab mit einem Brief an ihre Mutter und Wortlautinterviews, etwa mit der Soziologin Teresa ­Koloma Beck, mit dem Asylrechtsanwalt Iñigo Valdenebro oder mit Katharina Lumpp, der UNHCR-Vertreterin in Deutschland.
"Zeit der Zäune" ist ein überraschend unterhaltsames und radikal menschliches Buch mit vielen persönlichen Einsichten. Darunter diese: "Wir wissen nichts, wenn wir nichts wissen wollen."

Katja Riemann: Zeit der Zäune. Orte der Flucht. S. Fischer, Frankfurt am Main 2024, 448 Seiten, 26 Euro.

WEITERE BÜCHER

Schöner streiten

von Till Schmidt

Ihr offizieller "Übertritt" zum Judentum ist nun einige Jahre her. Als Tochter eines jüdischen Vaters galt Mirna Funk dem klassischen Verständnis nach nicht als ausreichend jüdisch. Für eine israelische Staatsbürgerschaft hingegen schon: Wem nach den Kriterien der nationalsozialistischen "Nürnberger Gesetze" Verfolgung drohen würde, kann im weltweit einzigen Staat mit jüdischer Bevölkerungsmehrheit eine Heimat finden.

Die 1981 in Ostberlin geborene Autorin pendelt seit Jahren zwischen Berlin und Tel Aviv. Ihre Romane und Essays reflektieren diesen Spagat – lebensnah, humorvoll und oft provokativ. In "Von Juden lernen" geht Funk bis weit in die 5784 Jahre alte jüdische Ideengeschichte zurück und diskutiert acht Alltagskonzepte vor dem Hintergrund aktueller gesellschaftlicher Herausforderungen.

"Von Juden lernen" ist stark mit persönlichen Erlebnissen und Beobachtungen der Autorin verwoben. Entschieden positioniert sich Funk gegen moralische Absolutheitsansprüche und eine starre Einteilung der Welt in "gut" und "böse". Stets appelliert sie an Handlungs- und Entwicklungsmöglichkeiten, ob in der selbstreflexiven Rückschau oder in Bezug auf Wege in eine bessere Zukunft.

Inspiration hierfür findet Funk in Konzepten wie dem Eser Kenegdo, dem Gelingen einer Partnerschaft auf Augenhöhe und in produktiver Reibung miteinander. Oder in der stetigen Arbeit an der Verbesserung der Welt (Tikkun Olam), der Hilfe zur Selbsthilfe (Zedaka) oder dem dialogisch-respektvollen Streiten mit anderen und sich selbst (Machlohket).

In "Lernen von Juden" wird das Judentum weder überhöht oder romantisch verklärt. Mirna Funks sehr individuelle Auseinandersetzung mit der jüdischen Ideengeschichte ist vielmehr anregend für den eigenen Alltag und macht das Jüdisch-Sein in seiner Vielfalt, Offenheit und Modernität sichtbarer, als man das in Deutschland gewohnt ist.

Mirna Funk: Von Juden lernen. Dtv, München 2024, 160 Seiten, 18 Euro.

Antikoloniale Attentate

von  Maik Söhler

Im Winter 1884/85 fand die Berliner Konferenz statt – auch Kongo- oder Westafrika-Konferenz genannt –, auf der sich überwiegend europäische Mächte große Teile des afrikanischen Kontinents als Kolonien sicherten. Knapp 140 Jahre später wendet sich Max Annas in seinem neuen Roman "Berlin, Siegesallee" einigen Folgen dieser imperialistischen Landnahme zu. Im Frühjahr 1914 lernen sich in Berlin drei junge Männer und eine junge Frau kennen und schätzen: die Frauenrecht­lerin Florentine vom Baum und drei Schwarze Männer – Joseph Ayang aus ­Kamerun, Friedrich Smith, Sohn eines Schwarzen Amerikaners und Ernst aus "Südwest", dessen Nachname nicht genannt wird. Die vier verschwören sich zu Attentaten auf Militärs der deutschen ­Kolonialarmee und Repräsentanten des Reichs. Rasch schreiten sie zur Tat, ermorden Soldaten und planen Angriffe auf den Kaiser und seine Residenz in Berlin.

Annas, der schon einige gute Kriminalromane geschrieben hat, erzählt nicht linear. Er wählt drei Ebenen, damit seine Geschichte rund um den militanten antikolonialen Widerstand breiter und tiefer wirken kann: die der Verschwörer*innen, die eines Militärermittlers und eine, die sich aus Briefen speist.

Schnell wird klar, dass Annas’ Protagonist*innen während ihrer Attentatsserie weitgehend frei von Zweifeln sind. "Die Erfahrung von Tod und Zerstörung, die die deutschen Truppen bei ihnen hinterlassen hatten, verband sie." Als extrem grausam nehmen sie den deutschen Kolonialismus in Kamerun, "Deutsch-Südwest" und "Deutsch-Ostafrika" wahr, wo Herrenmenschen Einheimische und Natur grenzenlos ausbeuteten oder sogar zum Genozid schritten.

Max Annas hat aus den kolonia­listischen Abgründen einen Roman gemacht, der schmerzt. Denn die antikolonialen Taten seiner Protagonist*innen und der Kolonialismus bedienen sich der gleichen Sprache – der der Gewalt.

Max Annas: Berlin, Siegesallee. Rowohlt, Reinbek 2024, 288 Seiten, 22 Euro.

Wanja schaut hin

von Marlene Zöhrer

Das Thema soziale Gerechtigkeit wird seit einigen Jahren verstärkt von Autor*innen in den Blick genommen. Nach wie vor gibt es aber nur wenige Kinderbücher, die Wohnungslose oder in Armut lebende Menschen zeigen und für mehr Offenheit und Menschlichkeit ihnen gegenüber werben. Die Berliner Grafikerin Anne-Christin Plate greift nun mit "Die Blumenfrau" dieses Anliegen auf. Plate fordert die vorlesenden Erwachsenen dazu auf, mit Kindern über Menschen zu sprechen, die auf der Straße leben, um Vorurteile und Hemmungen abzubauen.

Die Bilder zeigen die Frau mit einem bunt-geblümten Kopftuch, wie sie tagein, tagaus an derselben Ecke am Bahnhof sitzt und Blumen verkauft. Im Winter sitzt sie, ohne Blumen, einfach nur da, einen Becher für Kleingeld vor sich. Während die meisten Menschen achtlos an ihr vorbeigehen, nimmt Wanja sie wahr und freut sich, wenn er sie sieht: "Auf dem Weg zum Kindergarten hält er immer nach der Blumenfrau Ausschau und zieht seine Eltern in ihre Richtung. Sie winken sich zu. Manchmal kaufen sie einen Strauß. Den darf Wanja aussuchen. Dann steht Wanja vor ihr, und die Blumenfrau lächelt ihn an." 

Als die Blumenfrau eines Morgens nicht an ihrer Ecke sitzt und auch in den kommenden Tagen und Wochen nicht mehr wiederkommt, macht sich Wanja Sorgen. Er möchte wissen, was aus ihr geworden ist. Doch weder er noch seine Eltern kennen ihren Namen. Dennoch "lebt die Blumenfrau in Wanjas Gedanken, bis er sie wiedersieht".

In expressiven, kraftvollen Buntstiftzeichnungen, die mit verschiedenen Perspektiven und wechselnden Bildausschnitten arbeiten, erzählt Anne-Christin Plate von der besonderen Beziehung zwischen Wanja und der Blumenfrau. Plate sagt, dass die Blumenfrau ihr selbst begegnet ist: "Es hat mir viel bedeutet, sie zu sehen und ihren Segen zu empfangen."

Anne-Christin Plate: Die ­Blumenfrau. NordSüd Verlag, Zürich 2024, 40 Seiten, 18 Euro, ab 4 Jahren.

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