Amnesty Journal Deutschland 20. Dezember 2018

Flucht vor der Verantwortung

Zeichnung einer aufgeschlagenen Zeitschrift

Die gescheiterte Flüchtlingskonferenz von Évian 1938 ebnete dem Recht auf Asyl in der Menschenrechtserklärung den Weg, schreibt die Historikerin Susanne Heim.

Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte sollte eine Antwort auf die Verbrechen des Nationalsozialismus sein, ein ausbuchstabiertes "Nie wieder!". ­Einige der deklarierten Rechte, wie etwa das auf Asyl, waren aber auch an die Adresse der Staaten gerichtet, die dem nationalsozialistischen Terror keinen Einhalt geboten hatten, als dies noch möglich gewesen wäre, und die Verfolgte an den Grenzen abgewiesen hatten. Als prominentes Beispiel für dieses Versagen gilt gemeinhin die internationale Flüchtlingskonferenz von Évian im Juli 1938. Doch führte deren Scheitern nicht geradlinig zur Einsicht, dass Flüchtlinge künftig besser geschützt werden müssten.

Die Initiative zu dieser Konferenz hatte US-Präsident Franklin D. Roosevelt im März 1938 ergriffen, kurz nachdem der Anschluss Österreichs an das nationalsozialistische Deutschland und die damit einhergehenden Pogrome Tausende Österreicher, vor allem Juden, zum Verlassen des Landes gezwungen hatten. Als Reaktion auf den Andrang der Flüchtlinge verschärften die meisten potenziellen Zufluchtsländer ihre Einreisebestimmungen. Viele ihrer Maßnahmen waren explizit oder indirekt gegen Juden gerichtet.

Roosevelt kam mit der Einladung zur Konferenz der Forderung liberaler Kreise in den USA nach, die ein Engagement der Regierung zugunsten der Verfolgten forderten. Zugleich bot sich ihm die Gelegenheit, auf dem Gebiet der internationalen Migrationspolitik die Initiative zu ergreifen. Die USA waren nicht Mitglied im Völkerbund und hatten auch dessen 1933 gegründetes Hochkommissariat für die Flüchtlinge aus Deutschland nicht unterstützt. Roosevelt selbst war seit Langem davon überzeugt, dass eine staatliche Migrationssteuerung ein probates Mittel zur Lösung demografischer und sozialer Probleme sowie politischer Konflikte sein könne.

Vom 6. bis zum 15. Juli 1938 tagten in Évian am Genfer See die Vertreter von 32 Staaten, um über Auswanderungsmöglichkeiten für die deutschen und österreichischen Juden zu beraten. Bereits im Einladungsschreiben war den Konferenzteilnehmern versichert worden, dass von ihnen keine Änderung ihrer Einwanderungsbestimmungen erwartet werde. Und auch die USA, die die Konferenz einberufen und gemeinsam mit Großbritannien vorbereitet hatten, waren nicht bereit, die festgesetzte Quote von maximal 27.000 Immigranten aus Deutschland und Österreich in Anbetracht der Notlage zu erhöhen. So war der Ton vorgegeben. Ein Delegierter nach dem anderen brachte sein Bedauern über die Situation der Flüchtlinge zum Ausdruck und lobte Roosevelts Initiative, versicherte aber gleichzeitig, dass sein Land leider nicht in der Lage sei, einer nennenswerten Zahl von ihnen Zuflucht zu gewähren.

Vermutlich hatten die Organisatoren der Konferenz gehofft, das leidige Problem auf die britischen Dominions, vor allem ­Kanada, Australien und Neuseeland, sowie die Länder Lateinamerikas abwälzen zu können, in denen angeblich noch "leere Räume" zur Aufnahme der Flüchtlinge existierten. Doch lehnten deren Repräsentanten die ihnen zugedachte Rolle ebenfalls ab und argumentierten, dass sie unter bestimmten Bedingungen allenfalls landwirtschaftliche Arbeitskräfte oder Siedler in begrenzter Zahl aufnehmen könnten, nicht jedoch Händler und Akademiker – zumal diese vor Verlassen des Landes in aller Regel um ihren Besitz gebracht worden waren.

Das einzige praktische Ergebnis der zehntägigen Konferenz war die Gründung des Intergovernmental Committee unter ­Vorsitz des Roosevelt-Vertrauten George Rublee. Dieses Komitee sollte Ansiedlungsmöglichkeiten für die Flüchtlinge aus Deutschland und Österreich ausfindig machen und zudem mit der deutschen Regierung über die Freigabe des Vermögens der Juden verhandeln, um den Emigranten den Aufbau einer wirtschaftlichen Existenz im Ausland zu ermöglichen. Doch erst nach den Pogromen im November 1938, als sich der chronische Devisenmangel Deutschlands zunehmend zur Bremse für die Kriegswirtschaft entwickelt hatte, willigte die deutsche Seite in Verhandlungen ein, mit der Absicht, die Freigabe des Vermögens an die Förderung des deutschen Exports zu koppeln. Ein formelles Abkommen kam jedoch nicht mehr zustande. Bis Kriegsbeginn gelang es dem Intergovernmental Committee nicht, in nennenswertem Umfang Zufluchtsmöglichkeiten für die Flüchtlinge zu erschließen.

So blieb die Bilanz von Roosevelts Vorstoß negativ: Zwar hatte die Konferenz von Évian die bisherige Politik der Vereinigten Staaten, sich aus europäischen Angelegenheiten möglichst he­rauszuhalten, durchbrochen; zudem war die Flüchtlingsproblematik, die bis dahin meist als eine karitative Angelegenheit gegolten hatte, zum Thema internationaler politischer Verhandlungen geworden. Doch die Ausbreitung autoritärer Regime in Europa und erst recht der Krieg, der am 1. September 1939 begann, ließen den US-Präsidenten fürchten, dass die Flüchtlingsproblematik künftig noch weit größere Ausmaße annehmen und der Druck auf die amerikanische Einwanderungspolitik ­entsprechend steigen würde.

Um für diese Situation gewappnet zu sein, beauftragte Roosevelt 1940 einen Expertenstab damit, Informationen zur Bevölkerungsregulierung auf wissenschaftlicher Grundlage zu sammeln. Im Rahmen des "Projekts M" (M stand für Migration) werteten die Sachverständigen Hunderte von Studien über demografische Fragen, Umsiedlungsprojekte, Überbevölkerung, Ab-, Zu- und Auswanderungsbewegungen in den verschiedensten Ländern der Erde aus, in der Annahme, damit das Instrumentarium für eine globale Migrationssteuerung zu entwickeln.

Nach Roosevelts Tod im Jahr 1945 ließ sein Nachfolger Harry S. Truman das Projekt fallen. Doch hatte die Vorstellung, dass durch eine rationale, zentral gelenkte Bevölkerungsplanung Kriege und internationale Krisen zu verhindern seien, in der Zwischenzeit auch in den sich konstituierenden Vereinten Nationen an Boden gewonnen. Soziologen und Demografen hatten Empfehlungen ausgearbeitet, wie die bei Kriegsende erwartete Massenmigration zu steuern sei. Zu den bekanntesten Studien, die in diesem Zusammenhang entstanden, gehört diejenige von Eugene Kulischer "Europe on the Move", die 1948 erschien.

Der Minderheitenschutz der Zwischenkriegszeit galt als gescheitert, stattdessen hatten Pläne zur rationalen Bevölkerungsregulierung, zur Umsiedlung und ethnischen Separierung Konjunktur, wie sie etwa mit der Vertreibung der deutschen Minderheit in der Tschechoslowakei und in Polen umgesetzt wurden. Der Verfolgung von Minderheiten werde effektiv Einhalt geboten, sobald diese irgendwo einen Staat hätten, auf den sie sich beziehen könnten, so die weit verbreitete Vorstellung, die schließlich in der Forderung nach einem jüdischen Staat im ­Nahen Osten Ausdruck fand. Parallel dazu bekannte sich eine wachsende Zahl von Völkerrechtlern im Umfeld der Vereinten Nationen zum Schutz der Individualrechte als Garant für die ­Sicherung des Friedens. Dies schlug sich in der Allgemeinen ­Erklärung der Menschenrechte nieder, die in Artikel 14 festlegte, dass jeder Mensch das Recht hat, in anderen Ländern vor Verfolgung Asyl zu suchen und zu genießen.

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