Amnesty Journal 28. Dezember 2020

Außer man tut es

In der Illustration fährt ein Farbroller über eine graue Fläche und hinterlässt ein buntes Muster, das ineinander greifende Hände zeigt.

Tapetenwechsel: Gemeinsam anpacken für eine bessere Zukunft.

Engagement lässt sich nicht aufhalten. Auch im fiesen Corona-Jahr 2020 gibt es viele, die sich für die gute Sache einsetzen. Denn es gilt, Leben zu retten, digital zu ermitteln, für Vielfalt und gegen die Todesstrafe zu kämpfen und vor allem niemanden zurückzulassen.

Von den Journal-Redaktionen aus Österreich, Deutschland und der Schweiz

Das wird kein gutes Jahr, prophezeiten manche schon im Frühling. Und tatsächlich wurde vieles, das man nicht für möglich ­gehalten hätte, im Laufe der vergangenen Monate schockierende Realität: Unzählige Menschen haben ihr Leben, ihre Liebsten, ihre Arbeit, ihre Zukunftspläne verloren. Viele kämpfen mit den Folgeschäden einer Covid-19-Erkrankung, der Rückkehr traditioneller Rollen­bilder und den psychischen Folgen der wochen- oder teilweise monatelangen Isolation, Überforderung und Überarbeitung. Wenn wir diese Zeilen schreiben, ist das, was dieses Jahr passiert ist, in vielerlei Hinsicht nach wie vor unfassbar. Doch eines scheint klar: 2020 war kein gutes, nein, es war ein irres Jahr.

Und trotzdem gibt es in diesem Jahr auch Gutes: Menschen, die sich trotz – oder gerade wegen – der Krise für andere und ihre Rechte einsetzten. Manchmal mit kleinen Gesten oder unter großen Widerständen, mit langem Atem und viel Kreativität. In dieser Ausgabe haben wir Beispiele aus der ganzen Welt gesammelt, die uns hoffnungsvoll stimmen. Denn Covid-19 hat auch gezeigt: Wir müssen nicht so weitermachen wie bisher, wir können für die Zukunft andere Entscheidungen treffen.

Zum Beispiel können wir uns dafür entscheiden, Menschen, die obdachlos sind oder vertrieben wurden, jene Sicherheit zu bieten, die wir für uns und für unsere Liebsten wünschen. Viele Menschen haben nach Ausbruch der Krise angepackt und anderen inmitten der Krise Hoffnung, Halt und Hilfe gegeben. Unter dem Titel "Gutes selbst gemacht" stellen wir Menschen, Gruppen und Projekte aus Deutschland, Österreich und der Schweiz vor, die sich durch Solidarität,

Menschlichkeit und gegenseitige Unterstützung auszeichnen. Im Interview auf Seite 34 wehrt sich der Philosoph Wilhelm Schmid gegen einen Totalitarismus der guten Laune und erklärt, warum die ­Corona-Krise bei allem Übel auch etwas Gutes bezwecken kann.

Für viele sind wegen Covid-19 die Grund- und Menschenrechte und die Eingriffe in ebendiese so spürbar geworden wie vielleicht noch nie zuvor. Dass sich ein kritischer Blick auf Überwachung und der Einsatz von Technologie nicht ausschließen, beweist das seit mehr als zwei Jahren arbeitende "Evidence Lab" von Amnesty International (siehe Seite 26). Wie wichtig seine ­Arbeit ist, zeigen aktuelle Entwicklungen in China, wo – um die Ausbreitung von Covid-19 zu verhindern – im großen Stil Überwachungstechnologie zur sozialen Kontrolle eingesetzt wird. Ein verführerisches Modell für viele Länder.

2020 mag kein gutes Jahr gewesen sein. Doch mit den richtigen Entscheidungen können wir dafür sorgen, dass die nächsten besser werden. Denn nicht zuletzt hat sich in diesem Jahr auch gezeigt, wie fundamental Menschenrechte unseren Alltag berühren und dass Freiheit, der Schutz von Leben und Gesundheit, das Recht auf Privatsphäre und Informationen nicht selbstverständlich sind. Wir können uns in Zukunft für eine ­Politik entscheiden, die genau das anerkennt und unsere Rechte in den Mittelpunkt stellt.

In der Illustration sind ein Mann und eine Frau im Porträt gezeichnet, beide lächeln, neben ihnen sind die Grenzumrisse Österreichs dargestellt, darüber mehrere Fenster einer Desktop-Fläche angedeutet, die geschachtelt wie eine Treppe arrangiert sind, auf der ein Mann mit EInkaufstüten nach oben steigt.

Einfach mal machen

Nachbarschaftshilfe ohne Händeschütteln: Durch Österreich ging eine Welle der Solidarität.

Von Martina Powell

Ein Dienstag im März. Während Bundeskanzler Sebastian Kurz den Lockdown verkündet und die Menschen sozial Abstand ­nehmen, geht eine Botschaft in den sozialen Netzwerken viral: Seien wir füreinander da! Immer mehr teilen den Hashtag #NachbarschaftsChallenge und posten Fotos von Zetteln in Treppenhäusern. Man möchte besonders alte oder immunschwache Menschen unterstützen, Besorgungen für sie erledigen oder sonstige Hilfe anbieten.

Alexander Taubenkorb ist einer von vielen, den die Aktion sofort begeistert. Doch der 33-Jährige sieht angesichts Tausender Hilfsangebote, die spontan in Treppenhäusern auftauchen oder im Netz gepostet werden, auch ein Problem: "Wenn du in der Wohnhausanlage einen Zettel aufhängst oder in eine Facebook-Gruppe schreibst, sehen es die Menschen im direkten Umfeld oder die, die Teil der Gruppe sind. Doch andere, die auch mit­machen könnten, bekommen vielleicht nichts davon mit."

Also bastelt der IT-Experte über Nacht die Website corona-nachbarschaftshilfe.at. Dort kann jede und jeder nach dem Prinzip Angebot und Nachfrage Hilfsangebote oder -gesuche eintragen – vom Gassigehen über Gulaschkochen bis zur Mathenachhilfe. "Wenn’s einem Menschen hilft, ist das auch schon was", denkt sich Taubenkorb. Doch seine Erwartungen werden schnell übertroffen: Kaum ist die Website online, kann er im Minuten­takt beobachten, wie die Menschen zusammenfinden. Bald muss er so viele Einträge bearbeiten, dass er seine Arbeitskollegin um Unterstützung bittet.

Auch Rebekka Dober hat in den Tagen, als die Solidaritätswelle durch die sozialen Medien und die Straßen Österreichs schwappt, viel zu tun. Dabei steht für die Gründerin der Initiative YEP – Stimme der Jugend in den ersten Tagen nach dem Lockdown alles zunächst still: "Von einem Tag auf den anderen waren Unis und Schulen zu, Events abgesagt. Dabei leben wir vom direkten Austausch und Treffen mit Jugendlichen. Das war ein echter Schockmoment."

Untätig herumsitzen wollte die 28-Jährige aber auch nicht. Von der #NachbarschaftsChallenge inspiriert, gründete sie die Facebook-Gruppe "Community Instant Action". Über Nacht hatte sie Hunderte, bald Tausend Mitglieder. "Es war schön zu sehen, dass so viele das, was sie können und gerne machen, anderen zur Verfügung stellen." Und bald wurde aus der spontanen Gruppe mehr: "Über den Austausch in der Community haben wir gemerkt, wie groß der Informationsbedarf in Sachen Homeschooling sowohl für Lehrer*innen als auch Schüler*innen ist."

Und so wurde YEP gemeinsam mit Freiwilligen und zivilgesellschaftlichen Organisationen Teil der Initiative "Weiterlernen" des Bildungsministeriums – mit dem Ziel, Lehrerinnen und Lehrern sowie Schülerinnen und Schülern mehr Informationen, Material und vor allem Unterstützung zur Verfügung zu stellen.

"Jeder Mensch kann etwas verändern, und jeder sollte sich auch zuständig fühlen, etwas zu verändern", sagt Dober, die den Herbst- und Wintermonaten mit Spannung entgegenblickt: "Wer weiß, was aus der Community sonst noch alles entsteht?"

Beide möchten weitermachen. Dass nach dem ersten Ansturm die Zahl der Zugriffe auf seine Website nun langsam sinkt, sieht Taubenkorb positiv: Denn das bedeute, dass die Menschen gut versorgt seien.

 

Auf der Illustration sind zwei Frauen im Porträt dargestellt, neben ihnen die Deutschlandkarte, ein W-LAN-Symbol und verschiedene miteinander verknüpfte Punkte auf der Landkarte im Südosten von Deutschland, die wiederum mit zwei Smartphones in Verbindung stehen.

Hilfsarbeit mit Teilhabe

Das "Multiplikatorinnen-Netzwerk für geflüchtete Frauen" in Bayern hat das Beste aus den ­Corona-Lockdown-Bedingungen gemacht.

Von Uta von Schrenk

Anfang April 2020, in Bayern herrschte Lockdown. Acht Hilfs­organisationen, alle in der Betreuung von Geflüchteten tätig, setzten sich zusammen und berieten. An ihre Schützlinge kamen sie nicht mehr heran, der Zugang zu den Unterkünften war pandemiebedingt versperrt. Was nun?

"Wir haben ein Soforthilfenetzwerk gebildet", berichtet Michelle Kerndl-Özcan, Referentin für Gender Based Violence und psychische Gesundheit bei der NGO Ärzte der Welt. "Es ging uns darum, weiter mit den Geflüchteten in Kontakt zu bleiben, Informationen aus den Unterkünften zu bekommen, aber auch hineintragen zu können." Die rettende Idee: Warum nicht Frauen aus den Unterkünften selbst in das Hilfsprojekt einbinden? So entstand das "Multiplikatorinnen-Netzwerk für geflüchtete Frauen".

Die Organisation übernahmen der Paritätische Wohlfahrtsverband in Oberbayern, die Innere Mission München und Ärzte der Welt. Das Netzwerk steuerte Namen möglicher Multiplikatorinnen aus den Unterkünften bei. "Unsere einzigen Bedingungen waren, dass die Frauen Englisch sprechen, ein Smartphone besitzen und zuverlässig mitarbeiten wollen", sagt Kerndl-Özcan.

Ende April waren sechs Frauen am Start. Sie kommen aus ­Nigeria, Uganda und Afghanistan und leben in verschiedenen Unterkünften in Bayern. Die Freiwilligen wurden mit einem Gigabyte an Datenvolumen pro Monat ausgestattet; das WLAN in den meisten Unterkünften ist zu schlecht, um online arbeiten zu können. Seither tauschen sie sich wöchentlich mit Kerndl-Özcan und ihren beiden Kolleginnen aus, zumeist online. Wie geht es den Frauen in den Unterkünften? Welche aktuellen Informationen zur Pandemie gibt es? Welche Probleme bestehen vor Ort? Welche Organisationen oder Anlaufstellen können helfen? "Während wir am Anfang über Corona-Maßnahmen, Homeschooling und Gerüchte zur Pandemie aufgeklärt haben, stehen mittlerweile Fragen zu Schule, Ausbildung und Deutschkursen, aber auch zu Ernährung, Verhütung oder Gewalt gegen Frauen im Mittelpunkt", sagt Kerndl-Özcan. "Wir arbeiten bedarfsorientiert."

Im Anschluss an jede Sitzung fassen Kerndl-Özcan und ihre Kolleginnen alle Informationen in einem Newsletter zusammen. Dieser geht an zahlreiche Organisationen in München, die mit Geflüchteten arbeiten, und an die Multiplikatorinnen selbst. Sie geben die Informationen an die ihnen bekannten Frauen in den Unterkünften weiter.

Der Informationsfluss funktioniert. Immer wieder bekommt das Team Rückmeldung, dass die Multiplikatorinnen Frauen an Hilfsadressen vermitteln konnten. "Wir unterstützen nur", betont Kerndl-Özcan, "wir wollen die Frauen ja empowern, selbst bei den Organisationen anzurufen." So hat Multiplikatorin Faith geholfen, einer Geflüchteten Zugang zur Krankenversicherung zu vermitteln. Und Multiplikatorin Lilian hat dafür gesorgt, dass drei Frauen, die traumatischen Situationen ausgesetzt waren, psychologische Hilfe erhalten. "Es tut mir gut, helfen zu können", sagt Lilian. "Mir wurde schließlich auch mehrmals geholfen."

Aber nicht nur die geflüchteten Frauen und ihre Familien profitieren von dem Multiplikatorinnen-Netzwerk. "Wir haben gelernt, wie viel es bringt, die Betroffenen selbst in unsere Hilfsarbeit einzubinden", sagt Kerndl-Özcan.

 

"Wir wollen Wertschätzung"

Die Pflegerin Lea Daum macht sich für ihre Patientinnen und Patienten stark – und für den Schutz des ­Gesund­-heitspersonals in der Schweiz.

Von Jonathan Hoppler

Plötzlich war die Schweiz im Lockdown: Geschäfte schlossen, der Kulturbetrieb wurde eingestellt, ein Großteil der Arbeit ins Homeoffice verlagert. Wer konnte, zog sich im März ins sichere Zuhause zurück.

Doch nicht alle konnten. Lea Daum, Fachangestellte im ­Gesundheitssektor, ist eine von jenen, die das nicht konnte. Wie alle rund 400.000 Beschäftigen im Gesundheitswesen der Schweiz ist die Mutter einer zweijährigen Tochter systemrelevant, das heißt: Ihre Arbeit lässt sich nicht aussetzen, und sie lässt sich nicht aus der Ferne machen. Pflegen bedeutet physische Nähe, das Risiko einer Übertragung des Corona-Virus ist entsprechend hoch.

Die Gefahr einer Ansteckung erfuhr Lea Daum am eigenen Körper. Sie war eine von mehreren Pflegerinnen und Pflegern einer psychiatrischen Klinik, die sich im Kontakt mit den Patientinnen und Patienten mit dem Corona-Virus infizierten. "Vor allem, weil lange keine ausreichenden Schutzmaßnahmen ergriffen wurden", sagt die 30-Jährige. Auch als Mitte April der erste Covid-19-Fall unter den Patientinnen und Patienten auftrat, habe die Klinik weder das Personal noch die Patientinnen und Patienten durchgehend auf das Virus testen lassen. "Die Leitung hat das Ansteckungsrisiko selbst da noch völlig heruntergespielt."

So kam es, dass auf Daums Station innerhalb von zwei Wochen eine zweite Welle von Ansteckungen ausbrach. Auch die junge Mutter fühlte sich angeschlagen, hatte Kopfschmerzen, Husten – und sollte trotzdem weiterarbeiten. Doch das ließ sie sich nicht mehr gefallen. Sie weigerte sich, ohne einen Test seitens der Klinik und die Gewissheit, nicht mit dem Virus infiziert zu sein, weiter Patientinnen und Patienten zu pflegen. Das Team stand hinter ihr, Daum wurde endlich getestet: positiv. Erst dann konnte sie zu Hause bleiben, und erst dann verabschiedete die Klinik ein umfassendes Schutzkonzept.

"Ich bin ein Mensch, der sagt, was mir nicht passt", erklärt Daum ihren Willen, sich für den Schutz des Pflegepersonals und die Gesundheit ihrer Patientinnen und Patienten einzusetzen. Personalmangel, fehlendes Material, unbezahlte Überstunden und schlechte Löhne seien im Gesundheitswesen schon lange ein Problem, nicht erst seit der Pandemie. "Und jetzt müssen wir uns auch noch Tag für Tag der Gefahr einer Corona-Ansteckung aussetzen." Zwar hätten die Missstände in der Pflege nun für einen kurzen Moment etwas Aufmerksamkeit bekommen, aber geändert habe sich nichts.

"Es sind vor allem Frauen, die in diesem Land die Gesundheitsversorgung sicherstellen – und nebenbei noch den Haushalt und die Kinderbetreuung übernehmen", macht die Pflegerin klar. "Wir haben es verdient, nicht vergessen zu werden, und wollen echte Wertschätzung für unsere Arbeit. Der Applaus genügt schon lange nicht mehr." Was es jetzt endlich brauche, seien vielmehr ausreichend Personal, gerechte Löhne, Gefahrenzulagen, subventionierte Ausbildungen und nicht zuletzt: "Mütter-Schichten!" Also familienfreundliche Arbeitszeiten und Dienste. Dafür setzt sich Lea Daum weiter ein.

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