Amnesty Journal 05. Februar 2018

Die Risse heilen

Gynäkologe Denis Mukwege in weißem Arztkittel

Müder Held: Denis Mukwege in Bukavu, Februar 2017

Der Gynäkologe Denis Mukwege hat Tausenden Frauen in der Demokratischen Republik Kongo Identität und Würde wiedergegeben.

Von Andrea Jeske, Bukavu

Dieser Mann bringt die Hoffnung – und hat seine eigene fast verloren. Wie auch nicht, wenn man seit nunmehr 18 Jahren Tag für Tag heilt, was andere zerstören. Identität. Würde. Vor allem aber den Körper und seine Funktionen. Wenn man Frauen auf dem Operationstisch hat, denen Urin und Fäkalien unkontrolliert aus dem Körper laufen, weil Männer sie mit Bajonetten, Ästen und Gewehrläufen vergewaltigt haben. Weil man sie als junge Mädchen raubte und sie dann schwanger wurden, bevor ihre Körper ausgereift waren. Weil sie Kinder ohne professionelle Hilfe zur Welt brachten. Weil ihnen Vergewaltigung und Geburt die inneren Wände zwischen Blase, Darm und Vagina zerrissen.

Dr. Denis Mukwege, Gynäkologe am Panzi Hospital in der ostkongolesischen Stadt Bukavu, kommt gerade von einer seiner vielen Vortragsreisen. Mal wieder hat der 62-Jährige von den Frauen erzählt, die er seit der Gründung seines Krankenhauses 1999 behandelt. 50.000 sind es inzwischen. Wieder einmal hat er die Gleichgültigkeit im Rest der Welt kritisiert und gesagt: "Die Gewalt muss ein Ende haben, die Täter müssen zur Rechenschaft gezogen, auch die traumatisierten Männer unseres Landes müssen behandelt werden, damit wir endlich unsere Frauen schützen können."

Und wieder einmal haben seine Zuhörer genickt. Wieder einmal hat er die Hände hochrangiger Politiker geschüttelt, die sagten, sie seien erschüttert und wollten handeln. "Worte, so viele Worte", sagt Mukwege. "Und dann geschieht nichts."

Nun sitzt der Doktor in seinem Büro in der Klinik, reibt sich müde über das Gesicht und sagt, eigentlich sei doch schon alles gesagt zur Gewalt in der Demokratischen Republik Kongo. Er könne nur wiederholen: "Man braucht nur eines, das ist Gerechtigkeit. Ohne Gerechtigkeit gibt es keinen Frieden. Doch Gerechtigkeit kommt nicht von allein. Wir müssen sie herstellen."

Im Laufe der Jahrzehnte ist Mukwege zu einem der weltweit anerkanntesten Ärzte für die Wiederherstellung der Vagina geworden. Wohl niemand hat so viele Frauen wieder zusammengeflickt wie er. Doch jetzt ist er müde. Mukwege hat kaum geschlafen in den vergangenen Tagen – und er ist nicht mehr der junge Mann, der er war, als er beschloss, sein Leben den Opfern der Gewalt zu widmen.

Draußen vor dem Büro warten Patientinnen. Viele sitzen seit dem Morgengrauen geduldig auf einer Holzbank, viele von ihnen minderjährig mit eigenen Kindern auf dem Schoß. Sie alle wollen eine Untersuchung und einen Operationstermin, um diesen Riss in ihrem Inneren an ihrer Darm- oder Blasenwand vernähen zu lassen, damit sie wieder ein normales Leben führen können. Damit sie aufhören, schlecht zu riechen, damit ihre Männer sie zurücknehmen, damit sie wieder normal in ihrem Dorf leben, zur Kirche, zum Markt gehen können.

Wenn Mukwege über die Aussichten der Frauen nach dem Eingriff spricht, wird seine heisere Stimme weniger müde, strafft sich seine Haltung. "Man muss sie erleben, wenn sie feststellen, dass sie ihre Körper wieder kontrollieren können, nicht mehr riechen. Das ist, als sei man wiedergeboren."

Angelina Jolie, Ben Affleck und Hillary Clinton haben ­Mukwege die Hand geschüttelt, vor den Vereinten Nationen ­verdammte er den Krieg gegen die Frauen. Fast flehend wurde seine Stimme, als er forderte, die Täter wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor Gericht zu stellen. Nicht nur die einfachen Soldaten, denen befohlen wird, die Frauen zu schänden, und die eine Verweigerung mit ihrem Leben bezahlen würden. Sondern die Generäle und die Politiker, die diese Befehle geben. So wie man Täter aus Ruanda, aus Bosnien und aus der Zentralafrikanischen Republik vor Gericht gestellt hat.

Mukwege wurde als eines von neun Kindern eines evangelischen Pastors geboren. Er begleitete schon früh seinen Vater zu Kranken und hatte dabei das Gefühl, lieber Patienten heilen als für sie beten zu wollen. Er studierte in Frankreich, und als er später sah, wie afrikanische Frauen im Wochenbett starben, ­beschloss er, sich auf Geburtshilfe zu spezialisieren.

Sein Mut brachte ihm Morddrohungen und einen Attentatsversuch  ein. Und jede Menge Preise, die in seinem Büro stehen oder als Urkunden an den Wänden hängen. Der Sacharow-Preis der EU, der Clinton-Global-Citizen-Award, der Alternative Nobelpreis und mindestens ein Dutzend mehr. Sie untermauern, was man über Mukwege sagt und schreibt: Er ist ein Held seiner Zeit. Doch der Held will keine Preise – und auch keine Reden mehr halten. "Was ist denn so ein Preis wert, wenn er nicht einhergeht mit einem Bekenntnis gegen die Regierung, die die Gewalt unterstützt", sagt er. "Was ich will, ist eine Verurteilung der Täter und ein Ende des Horrors für die Frauen meines Landes."

In der Demokratischen Republik Kongo sind Vergewaltigungen an Frauen, Kindern und auch Männern, überhaupt jede Form von Gewalt, eine Kriegswaffe. Die Geschichte des Landes war bereits von Brutalität gekennzeichnet, als das Land noch Zaire hieß und der belgische König Leopold es wie seinen Privatbesitz verwaltete, als die belgischen Besatzer den Einheimischen Hände, Füße und Köpfe abhackten.

Ein Menschenleben war dort nie viel wert. Und ist es vielerorts bis heute nicht. Im Ostkongo werden Rohstoffe abgebaut, die in unseren Mobiltelefonen und Computern stecken. Um sich Zugang zu den Minen zu sichern, finanzieren westliche Firmen Rebellen. Die Rebellen wiederum vertreiben und töten die Bevölkerung. Die sexuelle Gewalt geht in fast allen Fällen von Männern aus: Regierungs- und Rebellensoldaten überfallen Dörfer, morden, brandschatzen, rauben Kinder – und miss­brauchen Frauen auf jede nur erdenkliche Art. Jede Dritte wird Opfer, insgesamt sind laut Vereinten Nationen bisher eine halbe Million Mädchen und Frauen betroffen. Manche, die auf Mukweges Operations­tisch landen, sind jünger als fünf Jahre.

Die Täter bleiben in den meisten Fällen unbehelligt, auch wenn es Beweise gibt und die Regierung ein Gesetz erlassen hat, um sexualisierte Gewalt zu bestrafen. Und wenn, kaufen sie sich frei, versickert die Gerechtigkeit im Sumpf von Korruption und Männerbünden. Die internationale Gemeinschaft, sagt Mukwege, nehme dies einfach hin, übe keinen politischen Druck aus. "Warum sagt man, der gesamte Ostkongo sei eine Art Hauptstadt der Vergewaltigungen, aber nichts folgt daraus. ­Warum ­akzeptiert die Welt, was hier passiert?" 

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