Amnesty Journal Brasilien 01. November 2019

Protestieren geht über Studieren

Junge Menschen mit Fahnen und Transparenten, zum Teil gelbe und grüne Striche im Gesicht, in der Mitte eine junge Frau mit Megaphon.

 Demonstrierende im September 2019 in São Paulo.

Seit dem Frühjahr demonstrieren brasilianische Schülerinnen, Schüler und Studierende gegen die Bildungspolitik von Präsident Jair Bolsonaro.

Von Andrzej Rybak, São Paulo

"Oi Bolsonaro, oi Bolsonaro, wir wollen dir sagen, die Studenten sind auf der Straße, um dich aus dem Amt zu jagen", skandieren Hunderte Schüler und Studenten auf der Avenida Paulista, der Geschäftsmeile der brasilianischen Metropole São Paulo, vereint im Protest gegen ihren rechtsradikalen Präsidenten Jair Bolsonaro. Die jungen Menschen schwenken brasilianische Fahnen und schreien sich die Seele aus dem Leib, angetrieben von ihren mit Lautsprechern ausgestatteten Kommilitonen. Viele tragen Schwarz, ihre T-Shirts sind Programm: "Ich verteidige die Bildung" steht da­rauf, "Ich kämpfe für Brasilien" oder "Bücher ja, Waffen nein".

Bei der Kundgebung am 7. September, dem brasilianischen Unabhängigkeitstag, läuft in der ersten Reihe die 16-jährige Taina Mauta mit, Schülerin am Gymnasium Francisco Pereira. Zum fünften Mal ist sie schon dabei – und will auf jeden Fall weitermachen. "Bolsonaro raubt uns unsere Zukunft", schimpft das schwarzhaarige Mädchen, das sich Grün und Gelb, die Farben der brasilianischen Flagge, ins Gesicht geschmiert hat.

"Er zerstört das öffentliche Bildungssystem, er zerstört den Amazonas­urwald, er zerstört unser ganzes Land." Dann stimmt sie einen neuen Slogan an: "Nimm’ die Schere aus der Hand, investiere in Bildung."

Seit März 2019 sind in Brasilien Millionen von Schülern, Studenten und Professoren auf die Straße gegangen, um gegen die Kürzung des Bildungsetats und die Privatisierung der staatlichen Universitäten durch die Regierung zu protestieren – allein im August demonstrierten mehr als anderthalb Millionen Menschen in 220 brasilianischen Städten, organisiert von der Studentenunion UNE und der Union der Sekundärschüler UBES.

"Wir können die Zerstörung der öffentlichen Bildung und der demokratischen Institutionen nicht hinnehmen", schimpft der 18-jährige Pedro Gorki, UBES-Präsident aus dem Bundesstaat Rio Grande do Norte. "Wir sind gegen den Kahlschlag am Amazonas und gegen den totalen Abbau des Sozialstaates." Die Agenda der Studenten deckt sich zum Teil mit Forderungen der sozialen Bewegungen, die sich den Protesten angeschlossen ­haben. Für Bolsonaro ist das Grund genug, die Studenten als "nützliche Idioten und Schwachköpfe" zu bezeichnen, die sich vor den Karren der linken Opposition spannen lassen.

Doch auch Professoren, Architekten und Beschäftigte in der Pflege unterstützen die Schüler. Die Krankenschwester Glaucia Cabrino sagt:

"Diese Regierung wirft Brasilien zurück, sie ist eine nationale Tragödie. Welche Zukunft hat mein Land, wenn Bolsonaro Bildung und Forschung zerstört?" Tatsächlich haben bereits viele gut gebildete Brasilianer das Land verlassen, um ihre Chancen im Ausland zu suchen.

Alles begann im März dieses Jahres, als Bildungsminister Abraham Weintraub ankündigte, die Ausgaben für Stipendien, Forschung und Betriebskosten im Hochschuletat um 30 Prozent zu kürzen, um umgerechnet rund 1,6 Milliarden Euro einzu­sparen. Das restliche Geld solle auch nicht für irgendeinen "Schwachsinn" wie Philosophie oder Soziologie ausgegeben werden, sagte der Präsident, sondern für Bereiche, die"unmittelbare Erträge für den Steuerzahler" bringen, wie Veterinärwissenschaften, Ingenieurwesen oder Medizin.

Zudem legte die Regierung ein Programm auf, um private ­Investitionen in die Hochschulen anzuregen. Es sieht vor, dass Universitäten ihre Immobilien an Unternehmen verkaufen und die Einnahmen in einen Fonds fließen lassen, der zur Finanzierung des Lehrbetriebs beitragen soll. Im Gegenzug soll die Wirtschaft mehr Einfluss auf die Hochschulen erhalten.

Die Studenten üben daran heftige Kritik. "Brasilien braucht nicht ein paar Eliteuniversitäten für Reiche, sondern höhere Schulbildung für breite Bevölkerungsschichten", schimpft Iago Montalvão, Wirtschaftsstudent an der Universität von São Paulo. "Was den Anteil von Menschen mit Hochschulbildung betrifft, gehört Brasilien zu den Schlusslichtern in Lateinamerika." Der 26-Jährige wurde im Juni zum Präsidenten der UNE gewählt. "Das Programm zerstört das föderale Hochschulsystem", klagt er.

"Wir werden die Privatisierung der öffentlichen Universitäten nicht akzeptieren! Die meisten Rektoren stehen an unserer Seite."

Die Maßnahme schadet insbesondere Angehörigen indigener Gruppen, den Nachkommen schwarzer Sklaven und Schülern aus armen Familien, die bisher aufgrund guter Leistungen ein Stipendium für das Hochschulstudium bekamen. Wie Sandra Benites, eine junge Guarani-Frau aus dem Bundesstaat Mato Grosso do Sul. "Ich habe ein Stipendium aus dem Topf zur Förderung indigener Studierender bekommen", sagt die Soziologiestudentin. "Jetzt hat Bolsonaro mein Stipendium auf die Hälfte reduziert, und im kommenden Jahr wird es wohl ganz ­gestrichen." Für Benites, deren Eltern auf dem Dorf leben und kein Geld haben, wäre das eine persönliche Tragödie und das Aus ihrer Hochschulträume. Bitter stellt sie fest: "Bolsonaro ist das Schicksal von Indios, Schwarzen und Armen völlig egal. Sie sind vielmehr ein störender Faktor in seiner Politik."

Nach den ersten Protesten erklärte die Regierung noch, die Kürzungen würden auf die Hochschulbildung beschränkt bleiben. Doch nur wenige Wochen später stellte sich heraus, dass auch die Finanzierung von Gymnasien, Grundschulen und Kindertagesstätten von Sparmaßnahmen betroffen ist. Das Bildungs- und Kulturministerium räumte ein, die Mittel für den Bau von Kindertagesstätten würden in diesem Jahr um 85 Prozent reduziert. Auch die meisten staatlichen Programme zur ­Beseitigung des Analphabetismus wurden zusammengestrichen. Dabei können laut offiziellen Angaben fast acht Prozent der Brasilianer über 15 Jahre weder schreiben noch lesen. Jeder Fünfte kann kaum rechnen und ist nicht in der Lage, längere Texte zu verstehen.

Die Regierung stoppte fast alle Investitionen in den Ausbau der schulischen Infrastruktur, vor allem in den armen Regionen des Landes. Dabei sind die Schulen dort völlig überlastet, der ­Betrieb läuft in drei Schichten von 7 Uhr morgens bis 22 Uhr nachts. Nur knapp die Hälfte der brasilianischen Grundschulen hat Zugang zum Internet, nur 42 Prozent verfügen über einen Sportplatz und lediglich elf Prozent über einen Laborraum. An jeder 20. Schule gibt es keine Toiletten. Die Situation an den Gymnasien ist nicht viel besser.

Bildung war in Brasilien schon immer unterfinanziert. Doch nun ist die Lage dramatisch. Im Sommer musste die Bundesuniversität von Mato Grosso (UFMT) an fünf Standorten den Betrieb einstellen, weil sie ihre Stromrechnung nicht bezahlen konnte. Demnächst könnte auch die Universität von Paraná schließen. "Bolsonaro sucht weder mit Studenten noch mit Rektoren den Dialog", sagt Iago Monsalvão von UNE. "Er kennt nur Gewalt und will seine Kritiker zerstören."

Für die Schülerin Taina Mauta gibt es keinen Zweifel: "Wissen ist Leben – es gibt keine Zukunft mit Bolsonaro", sagt sie.

Gemeinsam mit ihren Kommilitonen trägt sie ein Transparent: "Es ist Schwachsinn, das Geld für Bildung zu kürzen."

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