Aktuell Blog 08. August 2019

"The Great Hack" – Cambridge Analytica ist nur die Spitze des Eisbergs

Icon: stilisiertes Schlüssel-Schloss

Die aktuelle Dokumentation "The Great Hack" zeigt, wie das Unternehmen Cambridge Analytica im großen Stil Facebook-Daten missbraucht hat und stellt eine grundlegende Frage: Inwieweit ist das Geschäftsmodell der großen Tech-Unternehmen eine ernstzunehmende Bedrohung für die Menschenrechte?

Es war ein Skandal, der die dunkle Seite der sogenannten Big-Data-Ökonomie entlarvte und deren massiven Einfluss auf das moderne Internet aufzeigte: Die seit Ende Juli auf Netflix zur Verfügung stehende Dokumentation "The Great Hack" erzählt die Geschichte des Unternehmens Cambridge Analytica, das private Facebook-Daten missbrauchte, um bei der US-Präsidentschaftswahl 2016 gezielt unentschiedene Wähler_innen ins Visier zu nehmen und zu manipulieren.

Eine der drängendsten und unangenehmsten Fragen der Dokumentation "The Great Hack" lautet, bis zu welchem Grad wir für derartige Manipulationsversuche unseres Verhaltens empfänglich sind. 

Joe
Westby

Wie der ehemalige Geschäftsführer des mittlerweile abgewickelten Unternehmens in der Dokumentation offenbart, handelt es sich bei dem Skandal "längst nicht nur um ein einzelnes Unternehmen". Der Film führt uns vor Augen, wie unser Leben mithilfe digitaler Technologien kontinuierlich überwacht und gesteuert wird. Die Dokumentation führt uns zum Kern des Problems: Inwieweit stellt das Geschäftsmodell einiger Big-Tech-Konzerne eine ernstzunehmende Bedrohung für die Menschenrechte dar?

In der digitalen Welt hinterlassen wir bei allem, was wir tun, Datenspuren. Sie geben Auskunft darüber, wann wir unser Auto getankt oder welche Websites wir besucht haben – alles wird erfasst und abgespeichert. Einzeln betrachtet, erscheinen diese Datenpunkte harmlos. Wenn man sie jedoch kombiniert, lässt sich daraus ein umfassendes Bild vom Leben der betreffenden Person zeichnen.

Bevor der Skandal öffentlich wurde, prahlte Cambridge Analytica damit, zu jeder wahlberechtigten Person in den USA bis zu 5.000 Datenpunkte gesammelt zu haben. Durch die Kombination dieser Daten mit psychografischen Analysemethoden, so behauptete das Unternehmen, könne es den Persönlichkeitstyp der betreffenden Nutzer_innen bestimmen, um anschließend mittels individuell zugeschnittener Nachrichten und Anzeigen das Verhalten dieser Menschen zu beeinflussen. Wie sich herausstellte, war Facebook die wichtigste Quelle für die zugrundeliegenden Daten.

Cambridge Analytica konnte mittels einer App unrechtmäßig Zugang zu privaten Daten von bis zu 87 Millionen Facebook-Profilen erhalten, darunter Status-Updates, Likes und sogar Privatnachrichten.

Dieser Vorfall ist keine bedauerliche Fehlentwicklung: Vielmehr handelt es sich um die unvermeidbare Konsequenz eines Systems, das darauf ausgerichtet ist, unsere Daten zu sammeln und daraus Kapital zu schlagen – ein Geschäftsmodell, das die US-amerikanische Wirtschaftswissenschaftlerin Shoshana Zuboff "Überwachungskapitalismus" genannt hat. Die grundlegenden "Säulen" dieses Modells sind: Erstens, das Sammeln riesiger Datenmengen von Nutzer_innen. Zweitens, das Erstellen detaillierter Profile zu deren Leben und Verhalten. Und drittens, das Verkaufen der Daten an Dritte, wie beispielsweise Werbetreibende, um so Geld zu verdienen. Auch Cambridge Analytica ging so vor, wandte das Geschäftsmodell aber nicht auf Konsument_innen, sondern auf Wähler_innen an.

Dieses Modell ist mittlerweile zum Kernstück der Datenökonomie geworden und stützt ein komplexes Ökosystem aus Technologieunternehmen, Datenbroker_innen, Werbetreibenden und vielen anderen. Insbesondere die Pioniere dieses Geschäftsansatzes, also Google und Facebook, verfügen über beispiellose Möglichkeiten, um die Einzelheiten unserer digitalen Aktivitäten zu erfassen und so aus unserem Leben Profit zu machen, denn sie kontrollieren die wichtigsten Zugänge zur Onlinewelt: Google Search, Chrome, Android, YouTube, Instagram und WhatsApp.

Facebook und Google haben eine unfassbare Masse an Userdaten angehäuft, die weit über die freiwillig von den Nutzer_innen auf Onlineplattformen geteilten Informationen hinausgeht und vor allem aus Unmengen von automatisch bei der Internetnutzung erfassten Daten besteht.

Joe
Westby

Zwar haben Facebook und Google wiederholt ihr Engagement für die Achtung der Menschenrechte betont. Bei genauerer Betrachtung müssen wir uns jedoch fragen, ob ihr auf Überwachung basierendes Geschäftsmodell nicht grundsätzlich im Widerspruch zu den Menschenrechten steht.

Facebook und Google haben eine unfassbare Masse an Userdaten angehäuft, die weit über die freiwillig von den Nutzer_innen auf Onlineplattformen geteilten Informationen hinausgeht und vor allem aus Unmengen von automatisch bei der Internetnutzung erfassten Daten besteht. Eine unternehmerisch betriebene Massenüberwachung von diesem Ausmaß stellt eine grundlegende Bedrohung des Rechts auf Privatsphäre dar. Facebook-Chef Zuckerberg räumte in einem mittlerweile berühmt gewordenen Statement ein, dass die Privatsphäre als "soziale Norm" durch die sozialen Netzwerke längst verändert worden sei.

Das Abgreifen der Daten ist allerdings nur der Anfang eines komplexen Prozesses. In einem weiteren Schritt werden Analysetools mit maschinellen Lernverfahren zusammengeführt, um Persönlichkeitsprofile zu erstellen und auf dieser Grundlage das Verhalten der Nutzer_innen beeinflussen zu können.

Durch die Aufregung um Cambridge Analytica gerieten die von Facebook selbst eingesetzten Mechanismen zur Profilerstellung aus dem Blickfeld der Öffentlichkeit. Doch das Unternehmen hat nicht nur die Möglichkeiten im Bereich der Erstellung von Persönlichkeitsprofilen ausgelotet, sondern auch an der Manipulation von Emotionen und dem gezielten Ansprechen von Nutzer_innen über psychologische Schwachstellen – zum Beispiel mangelndes Selbstbewusstsein oder Unsicherheit – gearbeitet. Google hat seinerseits ein Verfahren entwickelt, mit dem Werbeanzeigen so präzise zugeschnitten und platziert werden können, dass sie die Einstellungen der Nutzer_innen beeinflussen und ihr Verhalten mittels "Social Engineering" verändern können. Diente dieses Tool ursprünglich zur Bekämpfung des islamischen Extremismus, ist es mittlerweile frei verfügbar, was dem Missbrauch Tür und Tor öffnet.

Eine der drängendsten und unangenehmsten Fragen der Dokumentation lautet, bis zu welchem Grad wir für derartige Versuche der Manipulation unseres Verhaltens empfänglich sind. Wenn diese Technologien tatsächlich so wirkungsvoll sind, wie ihre Entwickler_innen und deren Kund_innen behaupten, bedrohen sie nicht nur unsere Fähigkeit zur eigenständigen Entscheidungsfindung und unser Recht auf Meinungs- und Informationsfreiheit. Sie untergraben auch die Würde des Einzelnen, einen Wert, der unantastbar ist und allen Menschenrechten zugrunde liegt. Ausgeklügelte Werbung und Propaganda sind nicht neu. Aber die aktuellen Entwicklungen, die intimsten Bereiche eines Menschen auszuspionieren und gleichzeitig die Bevölkerungen ganzer Länder ins Visier zu nehmen – gehen weit darüber hinaus. 

Zudem kann das Werben um die Aufmerksamkeit der Nutzer_innen – um sie auf der Plattform zu halten – dazu führen, dass sich toxische Entwicklungen wie Polarisierung und Dämonisierung zuspitzen.

Joe
Westby

Das zuvor beschriebene Modell kann auch zu Diskriminierung beitragen. So besteht zum Beispiel die Gefahr, dass Firmen und Regierungen moderne Datenanalyse-Verfahren missbrauchen, um Menschen aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit, ihrer Religion, ihres Geschlechts oder anderer persönlicher Merkmale ins Visier zu nehmen. Zudem kann das Werben um die Aufmerksamkeit der Nutzer_innen – um sie auf der Plattform zu halten – dazu führen, dass sich toxische Entwicklungen wie Polarisierung und Dämonisierung zuspitzen. Es ist bekannt, dass reißerische oder aufwiegelnde Inhaltsangebote öfter geklickt werden. Als Resultat bieten die Plattformen frauenfeindliche, rassistische und verschwörungstheoretische Inhalte bevorzugt an.

Was ist jetzt zu tun? Das datengestützte Geschäftsmodell der Tech-Giganten stellt ein systematisches und strukturelles Problem dar, das sich nur mit einer Mischung aus politischen und regulativen Ansätze in den Griff kriegen lässt. Strengere Datenschutzbestimmungen sind sicherlich ein Teil der Lösung: So ließe sich das Ausmaß von Datenabgriff und Profilerstellung durch die ordnungsgemäße Durchsetzung der Datenschutz-Grundverordnung der Europäischen Union einschränken. Diese Verordnung hat internationale Reichweite und eignet sich außerdem als Modell für andere Länder und Regionen.

Aktuell sind außerdem vermehrt Forderungen nach einer Zerschlagung der großen Technologiekonzerne zu hören. In einigen Ländern haben sich die Kartellbehörden der Angelegenheit bereits angenommen und entsprechende Ermittlungen eingeleitet. Ein Beispiel für eine konkrete Maßnahme zur Begrenzung der Macht der großen Techkonzerne ist die vor kurzem gefällte Entscheidung des Bundeskartellamts in Deutschland, die Möglichkeiten für den Austausch und die Zusammenführung von Nutzer_innendaten zwischen Facebook und WhatsApp einzuschränken.

Bei allen Vorhaben zur Regulierung muss jedoch darauf geachtet werden, dass Risiken für die Menschenrechte eingeschätzt, bewertet und adressiert werden. Die Menschenrechte stellen den einzigen international gültigen Rahmen dar, um die vielfältigen Auswirkungen dieses Geschäftsansatzes auf unser Leben und Menschsein zu erfassen und die dahinterstehenden Unternehmen zur Verantwortung zu ziehen.

Mittlerweile dürfte offensichtlich geworden sein, dass gegenwärtige Maßnahmen das Problem nicht lösen. Vor wenigen Wochen hat die US-Handels- und Verbraucherschutzbehörde FTC wegen des Cambridge-Analytica-Skandals ein Rekordbußgeld von fünf Milliarden Dollar gegen Facebook verhängt. Trotzdem stieg der Aktienkurs von Facebook nach Veröffentlichung der Bußgeld-Nachricht.

Die Lektion? Unternehmen und Investor_innen wären froh darüber, wenn es bei diesem Einzelfall bliebe. Facebook erhält eine verhältnismäßig geringe Geldstrafe und wird eventuell ein paar Datenschutzverbesserungen vornehmen. Fünf Milliarden sind nichts für einen Konzern, der im vergangenen Jahr einen Gewinn nach Steuern von 22 Milliarden Dollar erwirtschaftete. Danach heißt es wieder: "Business as usual".

Das dürfen wir nicht zulassen. Es ist höchste Zeit, wirkungsvolle Maßnahmen gegen die Bedrohung der Menschenrechte durch den "Überwachungskapitalismus" zu ergreifen.

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