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Bittere Armut: Flüchtlingslager nahe Mekelle, 2024
© Andrzej Rybak
Der zwei Jahre dauernde Krieg in Äthiopien wurde Anfang 2023 offiziell beendet. Doch gibt es noch immer Kämpfe und Vertreibung, die Repression gegen die Zivilgesellschaft nimmt drastisch zu.
Aus Addis Abeba und Mekelle von Andrzej Rybak (Text und Fotos)
Die junge Frau sah die Soldaten nicht kommen. Sie waren zu viert, packten sie an den Armen und zerrten sie in eine Hütte am Straßenrand. "Sie fesselten mir die Hände auf dem Rücken, schoben mir ein Tuch in den Mund und warfen mich zu Boden", erzählt die 28-Jährige. "Dann vergewaltigten sie mich, einer nach dem anderen."
Medinas* Stimme bricht. Drei Jahre nach dem Überfall spürt sie immer noch den Schmerz und die Scham – als wäre alles erst gestern passiert. Ihr Blick wird stumpf, als wäre sie tot. Nach einer Pause spricht sie weiter. Sie will, dass die Welt vom Leid der Frauen in ihrer Heimat erfährt. "Ich werde dafür kämpfen, dass die Männer, die uns das angetan haben, im Gefängnis landen", sagt sie. "Die Frauen von Tigray wollen Gerechtigkeit."
Mehr als 600.000 Menschen getötet
Im Herbst des Jahres 2020 brach ein Krieg zwischen der Regionalregierung in Tigray und der äthiopischen Zentralregierung unter Ministerpräsident Abiy Ahmed aus. Die äthiopische Armee wurde unterstützt von Streitkräften des Nachbarstaats Eritrea und der Fano-Miliz, die sich aus Angehörigen der Bevölkerungsgruppe der Amhara zusammensetzt.
Alle Kriegsparteien zogen mordend und plündernd durchs Land. Während des zwei Jahre dauernden Kriegs in Tigray wurden mehr als 600.000 Menschen getötet, mehr als 120.000 Frauen vergewaltigt und fast zwei Millionen Menschen vertrieben. Die Tigrayer*innen sprechen von versuchtem Völkermord, doch die äthiopische Regierung scheint nicht bereit, ihre Einsatzkräfte für die Kriegsverbrechen zu bestrafen.
Obwohl die Regierung vor zwei Jahren ein Friedensabkommen mit Tigray unterzeichnete, sind die äthiopische Armee und die amharische Fano-Miliz im westlichen Teil und auch in einigen Gebieten im Süden des Bundesstaats immer noch präsent. Die amharische Miliz würde West-Tigray gern ihrem Bundesstaat zuschlagen, sie verbietet den Gebrauch der Sprache Tigrinya und vertreibt Tigrayer*innen. "Bei uns in Shire gibt es überall Lager, mit insgesamt mehr als 300.000 Flüchtlingen aus West-Tigray", sagt Medina. "Sie können nicht zurück, ihre Häuser und ihr Land wurden von Amhara-Bauern besetzt."
Medina* fordert Gerechtigkeit für Tigrays Frauen (Name geändert)
© Andrzej Rybak
In den Lagern herrscht Armut, die Lebensmittelhilfen reichen nicht aus, Kinder leiden Hunger. Am Rande von Tigrays Hauptstadt Mekelle leben bis zu 20.000 Flüchtlinge in einem Camp, das sich bei Regen in einen Sumpf verwandelt.
Frauen wie Medina müssen oft allein zurechtkommen. Ihr Mann schloss sich zu Beginn des Kriegs dem Widerstand an und wurde getötet. Ihre Familie hielt zu ihr und pflegte sie, als sie nach der Vergewaltigung wegen einer schweren Sepsis monatelang im Bett bleiben musste. In Shire wurden alle medizinischen Einrichtungen verwüstet, es gab keinen Arzt, der sie behandeln konnte.
Immer wieder neue Angriffe
Der Krieg hinterließ überall in Tigray große Schäden, Soldaten plünderten Geschäfte und Fabriken, auch in Wukro, das 70 Kilometer von Mekelle entfernt liegt. Vor dem Krieg erlebte Wukro einen wirtschaftlichen Aufschwung, die Stadt profitierte von ihrer Lage an der Straße zwischen Mekelle und Eritrea. Heute sind hier "neun von zehn Menschen von internationalen Hilfslieferungen abhängig", sagt Yared Berhe Gebrelibanos, Geschäftsführer der Allianz zivilgesellschaftlicher Organisationen in Tigray. "Die Menschen kämpfen ums Überleben, kaum jemand hat ein Einkommen, und die Sicherheitslage ist katastrophal." Hinzu kommt die Frage: Wird der Frieden halten?
Als Abiy Ahmed 2018 an die Macht kam, galt er als Hoffnungsträger. "Viele haben auf politische Veränderungen gehofft", sagt Befekadu Hailu, Geschäftsführer des Zentrums für die Förderung von Rechten und Demokratie (CARD) in Addis Abeba, dessen Arbeit Ende November ebenso wie die anderer Organisationen der Zivilgesellschaft von der äthiopischen Regierung auf unbestimmte Zeit verboten wurde. "Er ließ politische Gefangene frei, kündigte Reformen an, versprach Pressefreiheit." Politiker*innen verschiedener ethnischer Gruppen unterstützten ihn, selbst Parlamentsabgeordnete aus Tigray waren für ihn, obwohl Abiy die Dominanz Tigrays in der Politik nach fast 30 Jahren beendete. Der neue Ministerpräsident schloss 2018 einen Friedensvertrag mit Eritrea und wurde dafür 2019 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet.
Doch dann begann er, seine Macht auszubauen. "Er hat die Krise verschuldet", urteilt Befekadu Hailu, der als regierungskritischer Blogger in den Jahren 2014 und 2015 im Gefängnis saß und danach zum Menschenrechtsverteidiger wurde. "Schon kurz nach seinem Amtsantritt kam es zu ersten ethnischen Massakern, die auf das Konto der Regierung gehen." Gemeint sind Tötungen und Entführungen im Bundesstaat Oromia im Jahr 2018. Mit dem Feldzug gegen Tigray erfasste die Gewalt das ganze Land. Der Amnesty-Bericht "Ethiopia: Summary killings, rape and looting by Tigrayan forces in Amhara" aus dem Jahr 2022 belegt, dass nicht nur Regierungssoldaten, sondern auch Soldaten aus Tigray Massaker in anderen Teilen Äthiopiens begingen. Sogar nach dem Friedensschluss ging es weiter: Die Milizen der Amhara, allen voran Fano, stellten sich enttäuscht gegen die Regierung. "Die Milizionäre der Fano erhofften sich territoriale Gewinne und mehr Eigenständigkeit", sagt Hailu. "Den Frieden empfinden sie als Verrat."
Befekadu Hailu kritisiert die äthiopische Regierung
© Andrzej Rybak
Seitdem liefern sich amharische Milizen und Regierungstruppen regelmäßig Kämpfe. Die Milizen blockieren Hauptstraßen und lähmen das Land. Die Armee schlägt zurück und massakriert im Bundesstaat Amhara mancherorts die Dorfbevölkerung, wenn diese Kämpfern Zuflucht gewährt. Selbst in größeren Städten wie Bahir Dar und Gonder kommt es zu Kämpfen. Nach einem Bericht von Human Rights Watch, der der UN-Generalversammlung im September 2024 vorgestellt wurde, wurden seit August 2023 mehr als 2.000 Zivilpersonen in Amhara getötet.
Ein Land im Ausnahmezustand
"Die Lage in Äthiopien ist außer Kontrolle", klagt der Menschenrechtsverteidiger Hailu. "Die Geheimdienste gehen brutal gegen alle vor, die sie zur Opposition zählen. Es gibt Morde, Vergewaltigungen, willkürliche Festnahmen. In den Gefängnissen wird gefoltert, Menschen verschwinden spurlos. Gewaltsame Umsiedlungen gehören zum Alltag. Ich kenne kaum eine Straftat, die nicht verübt wird – und das in jedem Landesteil." Die Regierung verhängte im August 2023 den Ausnahmezustand in Amhara, der ihr erlaubte, Tausende Menschen willkürlich und ohne Anklage zu inhaftieren. Er lief zwar im Juni 2024 formell aus, aber es gibt weiterhin Repression.
Nicht nur die Regierung ist für Menschenrechtsverletzungen verantwortlich: Häufig kommt es zu Gewaltausbrüchen zwischen ethnischen Gruppen. Politiker*innen und Milizionäre der Amhara, die im äthiopischen Kaiserreich viel Macht und Einfluss besaßen, wollen die alten Verhältnisse wiederherstellen. Politiker*innen der Bevölkerungsgruppe der Oromo werfen der Amhara-Minderheit in ihrem Bundesstaat vor, in der Kaiserzeit Land besetzt zu haben und drohen mit Vertreibung. Im Juni 2022 töteten Kämpfer der Oromo Liberation Front (OLF) 400 Amhara-Bauern und -Bäuerinnen in Tole Kebele.
Die Oromo sind mit fast 35 Prozent die größte Bevölkerungsgruppe Äthiopiens. Sie erhielten erst nach dem Sturz der kommunistischen Regierung im Jahr 1991 einen eigenen Bundesstaat, wurden aber permanent von der Regierung unterdrückt. Von Abiy, der Oromo ist, erhofften sie sich politische Vorteile, doch diese Hoffnung wurde enttäuscht. Deshalb unterstützten viele Oromo Tigray im Kampf gegen die Zentralregierung. Seit 2018 wurden immer wieder Oromo-Aktivist*innen und Politiker*innen ermordet – womöglich auf Befehl der Regierung. In April 2024 wurde Bate Urgessa, ein führender OLF-Politiker, tot in einem Straßengraben gefunden, nachdem er am Abend zuvor von Regierungssoldaten entführt worden war.
Menschenrechtsaktivist*innen und Journalist*innen, die solche Verbrechen dokumentieren wollen, leben gefährlich. Im Juni 2024 musste Dan Yirga, der geschäftsführende Direktor des Äthiopischen Menschenrechtsrats, das Land Hals über Kopf verlassen. "Der Geheimdienst bedrohte mich massiv", sagt er. "Sie haben mir zu verstehen gegeben, dass sie mich töten werden, wenn ich weitermache." Zweimal sei er nur knapp einem versuchten Anschlag entkommen, Agenten hätten ihn beschattet und nachts zu Hause aufgesucht. 2022 hatte Amnesty International in Deutschland die Arbeit des Äthiopischen Menschenrechtsrats mit dem Menschenrechtspreis ausgezeichnet, Dan Yirga hatte den Preis entgegengenommen.
Dan Yirga vom Äthiopischen Menschenrechtsrat (Addis Abeba, 2022)
© Maheder Haileselassie
Derzeit lebt Dan Yirga in Nairobi. "Meine Kolleg*innen in Äthiopien versuchen, ihre Arbeit fortzusetzen, obwohl die Regierung gegen sie vorgeht", sagt er. "Der Ministerpräsident beschuldigt die Zivilgesellschaft aller möglichen Verbrechen und stellt Menschenrechtler*innen als vom Ausland bezahlte Agent*innen dar, die gegen das Wohl des Landes arbeiten." Auch die Mitarbeiter*innen der Nichtregierungsorganisation CARD bekommen Drohanrufe und werden eingeschüchtert. "Agent*innen versuchen, unsere Veranstaltungen zu stören, indem sie Leute bedrohen, die uns Räume vermieten", erzählt Geschäftsführer Befekadu Hailu. "Manchmal brechen sie in unsere Büros ein und stehlen unsere Computer, manchmal verhängen sie Geldstrafen." Die Menschenrechtsverteidiger*innen riskieren täglich eine Festnahme.
"Wir leben in Angst"
Viele Fachleute erkennen im ethnischen Föderalismus, der in der äthiopischen Verfassung verankert ist, einen wichtigen Grund für die Probleme. "Die Verfassung schafft ethnische Bundesstaaten, die über viele Rechte verfügen", sagt Hailu. "Wir brauchen Föderalismus, aber einen, der nicht mit ethnischer Zugehörigkeit verbunden ist." Politische Gruppierungen werden in Äthiopien oft auf ethnischer Basis gebildet; sie bekämpfen andere Gruppen, um an die Macht zu kommen. "Da ist Desintegration bereits angelegt."
Menschenrechtsverteidiger*innen appellieren an den Westen, mehr Druck auf die Regierung auszuüben, damit die Gewalt aufhört. "Äthiopien ist auf ausländische Hilfen angewiesen", sagt Dan Yirga. "Deutschland und die EU müssten die Einhaltung der Menschenrechte, die Bestrafung von Kriegsverbrechen und die Rückkehr zu demokratischen Standards zur Bedingung für weitere Unterstützung machen." Doch die internationale Gemeinschaft, von Kriegen in der Ukraine und im Nahen Osten abgelenkt, scheint die Menschenrechtsverletzungen der Regierung bewusst ignorieren zu wollen.
In der Hauptstadt Addis Abeba, in der rund 3,5 Millionen Menschen aus allen ethnischen Gruppen leben, ist die Gewalt, die die Provinzen erschüttert, kaum zu spüren. Aber auch hier hat der Krieg Narben hinterlassen. "Wir leben in Angst", sagt die Tigrayerin Mariam*, die einst als Ärztin in einem Krankenhaus arbeitete. Während des Kriegs wurde sie vom Geheimdienst abgeholt und ins Gefängnis gesteckt. "Niemand erklärte mir, warum ich inhaftiert werde, es gab keine Anklage", sagt sie. "Ich saß mit Dutzenden anderen Frauen in einer Zelle und wurde immer wieder verhört."
Zehntausende zwangsweise umgesiedelt
Nach drei Monaten kam sie frei, psychisch schwer gezeichnet. "Ich fühle mich nicht mehr sicher, wenn ich aus dem Haus gehe oder wenn ich am Telefon Tigrinya spreche", klagt Mariam. "Ich misstraue inzwischen sogar Menschen, die ich seit Jahren kenne – vor allem, wenn sie Amhara oder Oromo sind."
Nicht nur Menschen aus Tigray haben in Addis Abeba Probleme mit den Behörden. Ministerpräsident Abiy will die Hauptstadt zur modernsten Stadt des Kontinents machen und lässt dafür Zehntausende Menschen zwangsweise umsiedeln. Im historischen Piassa-Viertel im Zentrum, wo es einst von Geschäften und Cafés wimmelte, mussten Hunderte Häuser neuen Wohnblocks und Regierungsbauten weichen. Anfang des Jahres fuhren Dutzende Bulldozer auf und planierten große Teile des Stadtviertels. "Die Regierung zerstört Existenzen", klagt Dan Yirga. "Als unsere Mitarbeiter*innen den Zerstörungswahn dokumentieren wollten, wurden sie festgenommen und ins Gefängnis gesteckt." Zeug*innen sind unerwünscht.
Viele der umgesiedelten Familien wohnten seit Generationen im Viertel, sie betrieben Werkstätten, Fleischereien und Bäckereien, Geldwechselstuben, Juwelier- und Goldgeschäfte, Lebensmittel- und Textilläden. Nun müssen die meisten in halbfertige Wohnblocks am Stadtrand ziehen, wo es weder Schulen für die Kinder noch Arbeit für die Erwachsenen gibt. Im Oktober begannen die Behörden, auch im Stadtteil Kazanchis Häuser abzureißen und Menschen umzusiedeln. "Alles, was ich mir aufgebaut habe, wird nun zerstört", schimpft Dawit*. Sein kleiner Obstladen liegt in Trümmern. "Die Regierung hat uns erst Wasser und Strom abgestellt, dann begann der Abriss. Wie soll ich jetzt meine Familie ernähren?"
*Name geändert
Andrzej Rybak ist freier Autor und Journalist. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.
So arbeitet Amnesty International aktuell zu Äthiopien: www.amnesty.de/aethiopien-menschenrechtssituation-interview-amnesty-researcherin-haimanot-bejiga