Informieren Europa und Zentralasien 02. Mai 2017

Ja zu den Neinsagern


Um die Meinungsfreiheit gegen Recep Tayyip Erdogan zu verteidigen, braucht die türkische Demokratiebewegung die Unterstützung der europäischen Zivilgesellschaft.

Von Mithat Sancar, Professor für Staatsrecht an der Universität Ankara

Die Spaltung der türkischen Gesellschaft ist durch das Verfassungsreferendum im April noch tiefer geworden, die Polarisierung noch stärker: Im Prinzip stehen sich nun zwei politische Lager gegenüber, die in etwa gleich stark sind. Angesichts des knappen Ausgangs des Volksentscheids wird es Präsident Recep Tayyip Erdogan schwerfallen, breite Akzeptanz für weitere Vorhaben zu erzielen. Auch Politiker seiner Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) können auf Dauer nicht ignorieren, dass der Aufbau einer neuen Ordnung unter Ausschluss der Hälfte der Bevölkerung nicht möglich ist. Die Diskussion über die Legitimität des Referendums wird sich deshalb nicht einfach unterdrücken lassen.
 
Das gilt umso mehr, als die Schaffung gesellschaftlichen Zusammenhalts die wichtigste Funktion von Verfassungen in liberal-demokratischer Tradition ist. Wenn deren Legitimität jedoch derart in Zweifel gezogen wird wie nun in der Türkei, lässt sich eine auf freiheitlichen und rechtsstaatlichen Prinzipien beruhende Integration unmöglich herstellen. Auch wenn es noch zu früh ist, um sichere Voraussagen zu treffen, rechnen wir deshalb mit einer Fortsetzung der repressiven Praktiken durch Erdogans Regierung, seine Sicherheitskräfte und die Justiz. Nur wenn er bereit wäre, seine Allianzen zu überdenken und auf die Opposition zuzugehen, wäre eine neue Politik möglich. Unter diesen Voraussetzungen Meinungs- und Versammlungsfreiheit zu verteidigen, braucht starke Bündnispartner.

Auch wenn das Nein-Lager knapp fünfzig Prozent der Bevölkerung ausmacht, gestaltet sich die Bildung einer einheitlichen, demokratischen Oppositionsfront schwierig. Schließlich kommen in ihr viele verschiedene politische Strömungen zusammen. Dennoch setzen wir darauf, gemeinsam gegen das von Erdogan angestrebte autokratische System anzukämpfen. Nur so ist unserer Ansicht nach eine Normalisierung des Landes möglich. Natürlich bin ich gerne bereit, zwischen den verschiedenen Teilen der Opposition, aber auch zwischen dem Nein-Lager und der Basis des Ja-Lagers zu vermitteln. Denn ermunternd ist, dass die meisten Nein-Stimmen beim Referendum aus zwei geographisch sehr weit voneinander entfernten Regionen stammen: aus den Kurdengebieten im Osten des Landes und aus den Küstengebieten im Westen. Das heißt, politisch und emotional sind durchaus Berührungspunkte vorhanden, die hilfreich sind, um Gräben zu überwinden.
 
Die Zivilgesellschaft ist in der Pflicht
Helfen können auch zivilgesellschaftliche Gruppen aus Europa, deren Aktivitäten für uns wichtiger sind als Maßnahmen der europäischen Regierungen. So habe ich auch die Auftrittsverbote für türkische Regierungsmitglieder durch mehrere deutsche Gemeinden verstanden – als Reaktion der Zivilgesellschaft, die sich gegen einen Diskurs auflehnte, der gegen ihre Grundprinzipien verstößt. Wir fühlen uns dieser demokratischen Bewegung des Westens zugehörig und unterstützen ihren Kampf gegen Rechtsextremismus und Rechtspopulismus. Außerdem teilen wir die Überzeugung, dass nur eine breite demokratische Öffentlichkeit dafür sorgen kann, dass sich am Ende freiheitliche Prinzipien durchsetzen.
 
Das heißt auch dafür einzutreten, dass jene Journalisten und Abgeordneten, die in der Türkei im Gefängnis sitzen, freigelassen werden. Zu verhindern, dass sie in Vergessenheit geraten, setzt eine lange demokratisch-freiheitliche Tradition fort.
 
Auch eine Fortsetzung der Verhandlungen über einen EU-Beitritt halte ich für richtig. Die Krise zwischen Brüssel und Ankara ist schließlich auf Erdogans Politik zurückzuführen, nicht auf die der Europäischen Union: Er war es, der den Kurs verschärft hat, nicht europäische Politiker. Ein Abbruch der Beitrittsverhandlungen würde außerdem bedeuten, dass sich die EU-Staaten ohne Not ihres härtesten Sanktionsmittels berauben – und das zu einem Zeitpunkt, wo noch etliche andere Wege vorhanden sind, die türkische Regierung zurück zu einer Politik der Demokratisierung zu bewegen.
 
Todesstrafe als rote Linie
Die Entscheidung Bundeskanzlerin Angela Merkels, gelassen, aber politisch entschieden auf die Provokationen aus Ankara zu reagieren, war deshalb richtig. Bei den Faschismusvorwürfen handelte es sich um eine Wahltaktik Erdogans, um die Bundesregierung zu einem schärferen Ton zu zwingen – und durch nationalistische Rhetorik mehr Stimmen beim Referendum zu gewinnen. Wäre die Bundesregierung im gleichen Ton darauf eingegangen, hätte das Erdogan genutzt.
 
Doch Polemik kann eine vernünftige Politik nicht ersetzen. Sie muss vielmehr aus Praktiken bestehen, die auf demokratischen Grundprinzipien beruhen – und nicht auf ständig schärferen Aussagen, die eine Weiterführung der Beitrittsverhandlungen eines Tages wirklich unmöglich machen könnten. Mit der Einführung der Todesstrafe, wie von Erdogan im April angekündigt, wäre eine solche rote Linie überschritten. Doch entschieden ist darüber noch nicht. Wir müssen abwarten, in welche Richtung er weitere Schritte unternimmt.
 
Dass von Erdogans Politik auch die Deutschtürken in der Bundesrepublik betroffen sind, macht ein rationales, wohl abgewogenes Verhalten umso wichtiger. Deshalb halte ich es auch für gefährlich, die rund 420.000 Menschen in Deutschland, die bei dem Referendum für die Verfassungsänderungen gestimmt haben, pauschal zu stigmatisieren. Zu behaupten, sie hätten sich alle blind für den Autoritarismus entschieden, ist ein rechtsextremes Argument. Wir müssen vielmehr nach den Gründen suchen, wie es möglich war, dass sich so viele von Erdogans Rhetorik angezogen fühlten.
 
Sicherlich sind einige davon in der sogenannten deutschen Integrationspolitik zu finden, doch das allein erklärt die Abwendung dieses Gesellschaftsteils von demokratischen Prinzipien nicht. Sie reiht sich vielmehr ein in den allgemeinen rechtspopulistischen Trend: Vor diesem Hintergrund müssen sich die demokratischen Kreise sowohl in Deutschland wie in der Türkei fragen lassen, wie es passieren konnte, dass wir keine Berührungspunkte zu diesen Menschen mehr herstellen konnten. Was jedoch nicht passieren darf, ist, im Zuge dieser notwendigen Debatte die doppelte Staatsangehörigkeit infrage zu stellen. Denn damit setzt man den gesellschaftlichen Zusammenhalt auch in Deutschland aufs Spiel – und betreibt das Geschäft der Rechtspopulisten. Das zu verhindern, ist Aufgabe einer kritischen Öffentlichkeit.
 
Informationen über Mithat Sancar
Mithat Sancar wurde 1963 in Nusaybin an der türkisch-syrischen Grenze geboren. Er studierte Jura an der Universität Ankara und wurde 1995 mit einer Arbeit über die "Interpretation der Grundrechte" promoviert. Seit 2007 ist er Professor für Staatsrecht an der Universität Ankara. Gemeinsam mit dem Politikwissenschaftler Tanıl Bora übersetzte er Jürgen Habermas' "Strukturwandel der Öffentlichkeit" ins Türkische. Sancar war 1990 einer der Gründer der Menschenrechtsstiftung der Türkei (TIHV) und 1999 des Instituts für Menschenrechte (TIHAK). Im Juni 2015 zog er als Abgeordneter der Demokratischen Partei der Völker (HDP) ins Parlament in Ankara ein.

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