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Israelische Untersuchung zu Toten der Gaza-Flottille nur ein "Reinwaschen"
Mavi Marmara: "Vollkommen vermeidbare Tötungen und Verletzungen einer großen Zahl von zivilen Passagieren"
© APGraphicsBank/Free Gaza Movement
28. Januar 2011 - Amnesty International hat die Ergebnisse der israelischen Untersuchungskommission zur Kaperung der Gaza-Hilfsflotte, die sich im vergangenen Jahr auf dem Weg in den Gazastreifen befand, als pure "Reinwäscherei" verurteilt. Dem Tod der neun türkischen Staatsbürger, die bei dieser Aktion ums Leben kamen, wurde in keiner Weise Rechnung getragen.
In ihrem am 23. Januar veröffentlichten Bericht, kommt die nach ihrem Vorsitzenden benannte Turkel-Kommission, die für die Untersuchung zuständig war, zu dem Schluss, dass die israelischen Streitkräfte (IDF) rechtmäßig vorgegangen seien, als sie am 31. Mai 2010 die Mavi Marmara enterten, an Bord neun Aktivisten töteten und fünf weitere Schiffe in ihre Gewalt brachten. Obwohl der Bericht mehr als 300 Seiten umfasst, ist darin keine Klärung der entscheidenden Fragen enthalten, wie die Aktivisten genau ums Leben kamen und zu welchen Schlüssen die Kommission in Bezug auf das Vorgehens der IDF in jedem einzelnen dieser Todesfälle gelangt ist.
Hiergegen stehen die Schlussfolgerungen im Bericht der durch den UN-Menschenrechtsrat beauftragten Internationalen Untersuchungskommission, der am 22. September 2010 veröffentlicht wurde, in starkem Kontrast. Der Bericht der Internationalen Untersuchungskommission wird aber von der Turkel-Kommission mit keinem Wort erwähnt. Das Versagen der Kommission, den Todesfällen Rechnung zu tragen, bestätigt erneut den Eindruck, dass die israelischen Behörden nicht willens oder in der Lage sind, Verantwortlichkeiten für Verstöße gegen internationales Völkerrecht, die durch israelische Truppen begangen werden, zu klären. Damit verdeutlicht sich ein weiteres Mal, dass nun Folgemaßnahmen notwendig sind, um sicherzustellen, dass die Erkenntnisse der Internationalen Untersuchungskommission thematisiert und die Rechte der Opfer auf wirksame Rechtshilfe aufrechterhalten werden.
Die Turkel-Kommission befand, dass von den 133 Fällen der Gewaltanwendung durch die IDF im Verlauf der Erstürmung der Mavi Marmara, die sie untersucht hatte, 127 in Einklang mit dem internationalen Völkerrecht standen. Für die restlichen sechs Fälle, von denen drei den Einsatz tödlicher Munition umfassten, lagen ihr "keine ausreichenden Informationen" vor, um hierüber zu einer Entscheidung zu gelangen. Bedeutsamerweise begründet die Kommission ihre Analyse der Rechtmäßigkeit der Aktionen, die gegen jene unternommen wurden, die sich der Enterung des Schiffes widersetzten, mit dem humanitären Völkerrecht, das den Schutz von Zivilisten in bewaffneten Konflikten regelt und dem Einsatz tödlicher Gewalt einen sehr viel größeren Spielraum erlaubt als andere internationale Rechtsinstrumente. Amnesty International lehnt die Anwendung dieses gesetzlichen Regelwerks auf die betreffenden Vorfälle kategorisch ab.
Die Kommission gibt auch keinen Hinweis darauf ab, welche Fälle von Gewaltanwendung zum Tod von Personen geführt haben oder ob ihr überhaupt Informationen darüber vorliegen. Sie erklärt jedoch, dass eine detaillierte Analyse zu jedem einzelnen Fall und die schriftlichen Aussagen der israelischen Soldaten, auf denen diese Analysen beruhen, in einem unveröffentlichten Anhang des Berichtes enthalten seien und empfiehlt, dass die israelische Regierung "die Möglichkeit einer Veröffentlichung" desselben prüft. Amnesty International fordert die israelischen Behörden dringend auf, dies unverzüglich zu tun, damit dieser Anhang von unabhängigen Parteien gelesen werden kann.
Der Bericht der Internationalen Untersuchungskommission vom September 2010 kam zu dem Schluss, dass die Anwendung von Gewalt seitens der IDF während der Besetzung der Mavi Marmara "unnötig, unverhältnismäßig, exzessiv und unangemessen" war "und zu vollkommen vermeidbaren Tötungen und Verletzungen einer großen Zahl von zivilen Passagieren geführt hat." Unter Bezug auf die forensischen und waffentechnischen Beweise erklärte die Internationale Untersuchungskommission, dass "mindestens sechs der Tötungen als außergesetzliche, willkürliche und standrechtliche Hinrichtungen bezeichnet werden können."
Zudem befand die Internationale Untersuchungskommission, dass mindestens 24 Passagiere auf der Mavi Marmara durch von israelischen Soldaten abgefeuerte scharfe Munition erhebliche Verletzungen erlitten. Dabei wurden weitere Passagiere der Flottille, die für die israelische Soldaten keinerlei Bedrohung dargestellt hatten, mit Elektroschock-Waffen, mit Plastikmunition, mit aus nächster Nähe abgefeuerten Leichtschlaggeschossen und mit Blendschockgranaten sowie durch direkte körperliche Gewalt verletzt. Die Mission stellte abschließend fest, dass die IDF auch bei der Kaperung dreier weiterer Schiffe der Flottille, der Challenger 1, der Sfendoni und der Eleftheri Mesogios exzessive Gewalt zur Anwendung gebracht hat.
Die Turkel-Kommission behauptet, dass Aktivisten auf der Mavi Marmara Schusswaffen gegen israelische Soldaten eingesetzt hätten, obwohl sie nicht nachweisen konnte, dass Aktivisten überhaupt Schusswaffen an Bord des Schiffes gebracht haben. Dem entgegen stehen vorherige Vorwürfe der IDF in dieser Richtung sowie die Tatsache, dass zwei israelische Soldaten mit Schussverletzungen behandelt werden mussten. Doch beruht diese Beurteilung der Fakten auf den schriftlichen Aussagen von Soldaten, die - wie die Kommission selbst bestätigt – eine "Situation von erheblichem Durcheinander" widerspiegeln. Zudem wurden die Soldaten durch die Kommission nicht noch einmal im Detail befragt. Des Weiteren enthält der Bericht keinen Hinweis darauf, ob die medizinischen Fachkräfte, die die Soldaten behandelt hatten, befragt wurden oder ob man ballistische Untersuchungen durchgeführt hat, um festzustellen, woher deren Verwundungen genau stammen.
Im Kontrast dazu fand die Internationalen Untersuchungskommission "keine Beweise, die darauf hindeuten, dass einer der Passagiere Schusswaffen benutzte oder dass überhaupt jemand Schusswaffen mit an Bord des Schiffes gebracht hätte." Sie hielt diesbezüglich fest, dass die israelischen Behörden sich geweigert hatten, medizinische Unterlagen oder andere Beweismittel beizubringen, um den Vorwurf des Gebrauchs von Schusswaffen durch Aktivisten zu belegen.
Die Turkel-Kommission spricht in ihrem Bericht von den Grenzen der Beweismittel, auf denen ihre Analysen beruhen. Was jedoch weitestgehend unklar bleibt, ist die Frage, ob sie während ihrer sieben Monate andauernden Untersuchungen ausreichende Anstrengungen unternommen hat, um zusätzliche Beweise und Augenzeugenberichte einzuholen. Sie hatte nicht die Befugnis, israelische Soldaten zu befragen und musste sich stattdessen auf deren schriftliche Aussagen sowie auf schriftliche und mündliche Aussagen von übergeordneten Vertretern der israelischen Armee und aus der politischen Führung Israels verlassen, von denen ein großer Teil nicht der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde.
Die Kommission hörte sich die Aussagen von lediglich zwei der über 700 Passagiere und Mannschaften der Flottille an. Die Tatsache, dass die weit überwiegende Mehrheit der Passagiere außerhalb Israels lebt und die Kommission die Teilnehmer der Flottille dazu einlud, für ihre Aussage nach Israel zu kommen, legt den Gedanken nahe, dass nur halbherzig versucht wurde, sich die Aussagen weiterer Zeugen zu beschaffen. Zudem legte die Turkel-Kommission keine Bemühungen an den Tag, die sehr umfangreichen Augenzeugenberichte zu verwerten, die von der Internationalen Untersuchungskommission gesammelt worden waren, alldieweil Israel ihr die Zusammenarbeit verweigert hatte.
Die Kommission verwies darauf, dass sie keinen Zugang zu den Autopsieberichten der während der Kaperung getöteten Personen hatte und nahm dafür in Anspruch, dass ja die türkische Regierung von den israelischen Behörden verlangt habe, vor der Überführung die Leichen in die Türkei keine Autopsien vorzunehmen. Die türkischen Behörden ließen die Getöteten dann selbst obduzieren. Es gibt jedoch keinen Hinweis darauf, dass die Turkel-Kommission – anders als die Internationale Untersuchungskommission – die Türkei etwa um die Autopsieberichte angefragt hätte.
Um die Anwendbarkeit des humanitären Völkerrechts anstelle der internationalen Menschenrechte oder der Strafverfolgungsstandards auf die Kaperung zu rechtfertigen, zog die Kommission höchst umstrittene rechtliche Argumentationen zu Rate. Sie betrachtete die Ereignisse auf der Mavi Marmara als bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen gewaltsam vorgehenden Aktivisten und der israelischen Armee und argumentierte, dass diese Aktivisten "den Schutz ihres zivilen Status für so lange Zeit verloren hatten, wie sie sich direkt an den Feindseligkeiten beteiligten."
Tatsächlich argumentierte die Kommission damit, dass diese Aktivisten rechtmäßig erschossen werden konnten und zwar unabhängig davon, ob sie für das Leben von IDF-Soldaten eine direkte Bedrohung dargestellt hatten oder nicht.
Amnesty International weist diese Interpretation zurück und ist überzeugt, dass Israels Kaperung der Gaza-Hilfsflottille und der Widerstand, den einige an Bord der Mavi Marmara dagegen geleistet hatten, nicht als Bestandteil eines bewaffneten Konfliktes zu betrachten sind. Stattdessen hätten die rechtlichen Vorgaben der internationalen Menschenrechte und der Strafverfolgungsnormen zur Anwendung kommen müssen, in deren Sinne die Anwendung von Gewalt - und insbesondere tödlicher Gewalt – die letzte aller möglichen zu ergreifenden Mittel darstellt.
Amnesty International lehnt auch die Rückschlüsse ab, die die Kommission mit Blick auf den Status des Gazastreifens, die Natur der israelischen Kontrolle über den Gazastreifen und die israelische Abriegelung des Gazastreifens zieht.
Indem sie ein Urteil des Obersten Israelischen Gerichtshofs in der Sache Al-Bassiouni vs. Premierminister zitiert, argumentiert die Turkel-Kommission, dass Israels "effektive Kontrolle" über den Gazastreifen mit dem Rückzug der stationierten israelischen Truppen aus dem Gebiet und mit der Räumung illegaler israelischer Siedlungen im Zuge des "Rückzugsplans" von 2005 beendet wurde.
Amnesty International hat hingegen wiederholt darauf hingewiesen, dass Israel nach wie vor die Besatzungsmacht im Gazastreifen bleibt, weil es dessen Grenzübergänge zu Land, den Luftraum und die territorialen Hoheitsgewässer sowie eine "Pufferzone" innerhalb des Gazastreifens bis heute ohne Unterbrechung unter seiner Kontrolle hält.
Amnesty International bestreitet zudem die Ergebnisse der Kommission, dass der Sinn und Zweck der israelischen Seeblockade "vorrangig militärisch-sicherheitstechnischer" Natur sei. Offizielle Sprecher der israelischen Regierung rechtfertigten die Blockade mehrfach als eine wirtschaftliche Sanktion gegen ein "feindliches Gebilde", so auch die von der Kommission zitierte Akte Al-Bassiouni.
Die Seeblockade muss im Kontext der Abriegelungsstrategie beurteilt werden, die Israels Regierung seit dem Juni 2007 gegen den Gazastreifen betreibt – eine Belagerung, die eine kollektive Bestrafung der gesamten Bevölkerung darstellt und die gegen die Vierte Genfer Konvention verstößt.
Schließlich weist Amnesty International auch die Schlussfolgerung der Turkel-Kommission zurück, dass die Politik der Abriegelung rechtmäßig sei. Seit Juni 2007 wird die gesamte, aus 1,5 Millionen Menschen bestehende Bevölkerung des Gebietes, von denen die Hälfte Kinder sind, durch die Belagerung des Gazastreifens bestraft. Israels "Lockerung" der Blockade im Juni 2010 im Anschluss an die Kaperung der Gaza-Hilfsflottille im Mai und seine Ankündigung vom Dezember 2010, dass bestimmte Warenexporte bald in beschränktem Umfang zugelassen werden würden, konnten die humanitäre Krise im Gazastreifen, wo 80 % der Bevölkerung mit ihrem Bedarf an Grundnahrungsmitteln von internationalen Hilfen abhängig sind, nicht beenden.
Hintergrund
Der Öffentliche Ausschuss zur Untersuchung der Maritimen Vorfälle vom 31. Mai 2010 (die so genannte Turkel-Kommission) wurde durch eine am 14. Juni 2010 verabschiedete, israelische Regierungsresolution ins Leben gerufen. Der Vorsitz des Ausschusses wurde dem ehemaligen Richter des Obersten Israelischen Gerichtshof, Jacob Turkel übertragen. Die weiteren Mitglieder umfassten den General Amos Horev, den Professor Shabtai Rosenne, der am 21. September 2010 verstarb, den Diplomaten Reuven Merhav sowie den Professor Miguel Deutsch. Zwei internationale Beobachter, David Trimble, ehemaliger Premierminister Nordirlands, und Ken Watkin, ehemaliger Leiter der kanadischen Militärjustiz, nahmen an den Anhörungen des Ausschusses teil und stimmten mit den Ergebnissen desselben überein. Der Bericht des Ausschusses findet sich im Internet.
Die Internationale Untersuchungskommission wurde auf den Weg gebracht, nachdem der Präsident des Menschenrechtsrats der Vereinten Nationen den Juristen Karl T. Hudson-Phillips, seines Zeichens pensionierter Richter des Internationalen Strafgerichtshofs und ehemaliger Generalstaatsanwalt von Trinidad und Tobago, zu deren Vorsitzenden ernannt hatte. Die weiteren einberufenen Mitglieder der Mission waren Sir Desmond de Silva aus Großbritannien, ehemaliger Chefankläger des von den Vereinten Nationen gestützten Sondergerichtshofs für Sierra Leone und Frau Mary Shanthi Dairiam aus Malaysia, eines der Gründungsmitglieder des Aufsichtsrats der Organisation International Women’s Rights Action Watch Asia Pacific und ehemaliges Mitglied des Vertragsausschusses der UN-Konvention zur Beseitigung aller Formen der Diskriminierung von Frauen. Am 22. September 2010 veröffentlichte die Mission ihren Bericht, den der Menschenrechtsrat am 29. September 2010 durch die Verabschiedung einer Resolution unterstützte. In seiner Resolution fordert der UN-Menschenrechtsrat, dass im Bericht enthaltenen Schlussfolgerungen ungesetzt werden und ersucht den Hohen Kommissar für Menschenrechte der Vereinten Nationen, ihm auf der 16. Sitzung des Rates im März 2011 über den Stand dieser Umsetzungen zu berichten. Außerdem empfiehlt die Resolution, dass die UN-Generalversammlung den Bericht der Internationalen Untersuchungskommission prüfe.
Die Internationale Untersuchungskommission kommt in ihrem Bericht zu dem Ergebnis, dass "das allen Opfern das Recht auf wirksame Rechthilfe garantiert werden muss" und dass die Opfer "angemessen und unverzüglich entschädigt" werden sollten. Ferner rief die Mission die israelischen Behörden dazu auf, widerrechtlich beschlagnahmtes Eigentum zurückzugeben und bei der Identifizierung der für gravierende Verstöße verantwortlichen Täter zu helfen - mit dem Ausblick, die "Schuldigen strafrechtlich zu verfolgen und die Angelegenheit zu einem Abschluss zu bringen."
Schließlich wies die Internationale Untersuchungskommission auf die dringende Notwendigkeit hin, für eine Lösung der "kläglichen" und "unerträglichen" humanitären Lage im Gazastreifen zu sorgen, die aus der israelischen Blockade resultiert, wobei die Mission in Bezug auf letztere befand, dass diese "einer kollektiven Bestrafung unter Verstoß gegen Israels Verpflichtungen aus dem humanitärem Völkerrecht gleichkommt."