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Tunesien: Hungerstreik im Gefängnis
Wurden angeklagt und teilweise inhaftiert, weil sie die tunesische Regierung kritisierten (v.l.n.r.): Abdelhamid Jelassi, Ridha Belhaj, Lazhar Akremi, Khayyam Turki, Jaouhar Ben Mbarek, Issam Chebbi, Ghazi Chaouachi und Chaima Issa.
© privat
Am 26. September trat der bekannte Oppositionelle Jaouhar Ben Mbarek aus Protest gegen seine ungerechtfertigte Inhaftierung in den Hungerstreik. Am 2. Oktober kündigten fünf weitere inhaftierte Angeklagte in dem gleichen Fall, Khayyam Turki, Issam Chebbi, Ghazi Chaouachi, Ridha Belhaj and Abdelhamid Jelassi, ebenfalls einen Hungerstreik an. Den politischen Aktivist*innen Chaima Issa und Lazhar Akremi, die nach fast fünf Monaten willkürlicher Inhaftierung im gleichen Fall im Juli 2023 freigelassen wurden, wurde willkürlich untersagt, ins Ausland zu reisen oder "an öffentlichen Orten aufzutreten". Das Antiterrorgericht in Tunesien ermittelt gegen alle acht wegen des Versuchs, "die Staatsform zu verändern", worauf gemäß Paragraf 72 des Strafgesetzbuchs die Todesstrafe steht.
Appell an
PRÄSIDENT
Kais Saied
Route de la Goulette
Site archéologique de Carthage
TUNESIEN
Sende eine Kopie an
Botschaft der Tunesischen Republik
S.E. Herrn Wacef Chiha
Lindenallee 16
14050 Berlin
Fax: 030-3082 06 83
E-Mail: at.berlin@tunesien.tn
Amnesty fordert:
- Lassen Sie Jaouhar Ben Mbarek, Khayyam Turki, Issam Chebbi, Ghazi Chaouachi, Ridha Belhaj und Abdelhamid Jelassi bitte umgehend frei, heben Sie die Einschränkungen gegen Chaima Issa und Lazhar Akremi auf, und lassen Sie alle Anklagen gegen sie fallen, da diese allein auf der Ausübung ihrer Menschenrechte oder auf friedlichem Dissens beruhen.
- Stellen Sie bis zur Freilassung der Inhaftierten sicher, dass sie Zugang zu einer angemessenen medizinischen Versorgung nach den Grundsätzen der Medizinethik erhalten, zu denen Vertraulichkeit, Patientenautonomie und die Einwilligung nach Aufklärung gehören.
- Stellen Sie bitte überdies die gezielte Festnahme von Regierungskritiker*innen wegen der friedlichen Ausübung ihrer Rechte auf Meinungs- und Vereinigungsfreiheit ein.
Sachlage
Die Oppositionellen Jaouhar Ben Mbarek, Khayyam Turki, Issam Chebbi, Ghazi Chaouachi, Ridha Belhaj und Abdelhamid Jelassi befinden sich nach wie vor in Haft. Chaima Issa und Lahzar Akremi wurden zwar im Juli aus dem Gefängnis entlassen, sind jedoch weiterhin Gegenstand von Ermittlungen und ungerechtfertigten Einschränkungen, um sie für ihren politischen Aktivismus zu bestrafen. Die laufenden Ermittlungen gegen die acht Personen basieren auf der Wahrnehmung ihrer Rechte auf Meinungs-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit nach dem Völkerrecht, zu deren Einhaltung Tunesien verpflichtet ist.
Am 26. September teilten die Rechtsbeistände von Jaouhar Ben Mbarek eine Erklärung ihres Mandanten in den Sozialen Medien, um die Öffentlichkeit über seinen Hungerstreik zu informieren. Der Angeklagte trat noch am gleichen Tag in den Hungerstreik, um gegen seine ungerechtfertigte Inhaftierung und Strafverfolgung zu protestieren. Jaouhar Ben Mbarek kündigte an, seinen Hungerstreik erst dann zu beenden, wenn er und die anderen Angeklagten in dem Fall freigelassen würden. Am 2. Oktober schlossen sich mit Khayyam Turki, Issam Chebbi, Ghazi Chaouachi, Ridha Belhaj und Abdelhamid Jelassi fünf weitere Angeklagte im gleichen Fall aus den gleichen Gründen dem Hungerstreik an.
Am 13. Juli wurden die politischen Aktivist*innen Chaima Issa und Lazhar Akremi, gegen die ebenfalls in dem Fall ermittelt wurde, nach fast fünf Monaten willkürlicher Inhaftierung vorläufig auf freien Fuß gesetzt. Am 14. Juli wurde beiden Politiker*innen untersagt, ins Ausland zu reisen oder an "öffentlichen Orten aufzutreten". Am 24. November wird Chaima Issa vor einem Militärgericht der Prozess gemacht, da sie auch gegen Paragraf 24 des drakonischen Cybercrime-Gesetzes 2022-54 verstoßen haben soll. Die Vorwürfe beziehen sich auf kritische Bemerkungen, die sie in einem Radiointerview am 22. Dezember 2022 über die Behörden gemacht hatte. Bei einer Verurteilung drohen ihr bis zu zehn Jahre Haft.
Hintergrundinformation
Seit Februar 2023 laufen in Tunesien gegen mindestens 40 Personen strafrechtliche Ermittlungsverfahren wegen haltloser Verschwörungsvorwürfe. Amnesty International hat die Fälle von acht Personen dokumentiert, die derzeit im Zusammenhang mit diesen Ermittlungen inhaftiert sind. Zu ihnen gehören der Politiker Khayam Turki, der am 11. Februar 2023 festgenommen wurde, der Dissident und Politiker Abdelhamid Jelassi, der am 12. Februar 2023 festgenommen wurde, und der oppositionelle Aktivist Issam Chebbi, der am 22. Februar 2023 in Gewahrsam genommen wurde; außerdem der oppositionelle Aktivist Jaouhar Ben Mbarek, der am 24. Februar 2023 festgenommen wurde, und schließlich die Rechtsanwälte Ghazi Chaouachi und Ridha Belhaj, die am 25. Februar 2023 in Gewahrsam kamen. Die bekannte Oppositionspolitikerin Chaima Issa und der Regimekritiker Lazhar Akremi, die am 22. Februar bzw. 13. Februar 2023 festgenommen wurden, wurden nach fast fünf Monaten willkürlicher Inhaftierung am 13. Juli 2023 vorläufig freigelassen.
Gegen alle acht wird aufgrund konstruierter Verschwörungsanklagen nach zehn Bestimmungen des tunesischen Strafgesetzbuches ermittelt, darunter Paragraf 72, der die Todesstrafe für den Versuch vorsieht, "die Staatsform zu verändern". Außerdem stehen sie wegen Verstößen gegen 17 Paragrafen des Antiterrorgesetzes von 2015 unter Anklage, darunter Paragraf 32, der eine Freiheitsstrafe von bis zu 20 Jahren für die "Bildung einer terroristischen Vereinigung" vorsieht. Amnesty International betrachtet die Anklagen und die damit einhergehenden Ermittlungen als unbegründet. Die Angeklagten wurden zu ihren Beziehungen untereinander und zu ausländischen Diplomat*innen befragt, zu Treffen, an denen sie gemeinsam teilgenommen haben, sowie zum Inhalt von Gegenständen, die von Polizist*innen bei ihrer Festnahme beschlagnahmt wurden, darunter persönliche Notizen und WhatsApp-Nachrichten. Ihnen wurden keine Beweise dafür vorgelegt, dass sie international als Straftaten anerkannte Handlungen begangen haben.
Der Richter und das Berufungsgericht in Tunis lehnten die Anträge der Rechtsbeistände auf Entlassung der acht Verdächtigen aus der Untersuchungshaft zunächst ab. Im Juli ließ das Gericht Chaima Issa und Lazhar jedoch frei, mit der Auflage, nicht ins Ausland zu reisen oder an "öffentlichen Orten aufzutreten". Für die verbleibenden sechs Angeklagten verlängerte das Gericht die Untersuchungshaft mit der Begründung, der "ordnungsgemäße Ablauf der Ermittlungen" müsse sichergestellt werden. Am 21. September 2023 lehnte das Berufungsgericht in Tunis den Antrag auf Haftentlassung der verbleibenden sechs Angeklagten, namentlich Jaouhar Ben Mbarek, Khayyam Turki, Issam Chebbi, Ghazi Chaouachi, Ridha Belhaj und Abdelhamid Jelassi, ab.
Im September 2023 leiteten die Behörden separate Gerichtsverfahren gegen die Rechtsbeistände Dalila Msaddek Ben Mbarek und Islam Hamza ein, weil sie sich in Radiosendungen öffentlich zu dem Fall geäußert hatten. Beide sind Mitglieder des Verteidigungsausschusses. Gegen sie wird gemäß des repressiven Cybercrime-Gesetzes 54 wegen der "Verbreitung falscher Nachrichten" ermittelt.
Am 14. Februar 2023 äußerte sich UN-Hochkommissar für Menschenrechte Volker Turk besorgt über die jüngste Festnahmewelle gegen zivilgesellschaftlich engagierte Personen und vermeintliche Regierungsgegner*innen sowie über die anhaltende Aushöhlung der Justiz durch die tunesischen Behörden. Ein*e Sprecher*in des Hochkommissars sprach ausdrücklich die Strafverfolgung von "vermeintlichen politischen Gegner*innen" auf der Grundlage von "Verschwörung gegen die Staatssicherheit" an. Der UN-Hochkommissar forderte die Behörden auf, "das Rechtsstaatsprinzip und die internationalen Standards für faire Gerichtsverfahren in allen Gerichtsverfahren zu respektieren und umgehend alle willkürlich Inhaftierten freizulassen, auch diejenigen, die sich wegen der Wahrnehmung ihrer Rechte auf freie Meinungsäußerung in Haft befinden". Am 22. Februar erklärte Präsident Saied alle, die "es wagen, sich auf die Seite krimineller Netzwerke zu stellen", zu "Mitschuldigen". Diese Aussage sowie die Tatsache, dass der Präsident im Jahr 2022 insgesamt 57 Richter*innen willkürlich entlassen hatte, hat in der Justiz zu einem zunehmend eingeschüchterten Klima geführt.
Am 25. Juli 2021 gab sich Präsident Saied Notstandsbefugnisse, die, so seine Begründung, gemäß der tunesischen Verfassung von 2014 zustehen würden. Seit seiner Machtergreifung hat Präsident Saied das ehemalige tunesische Parlament aufgelöst, per Präsidentenverfügung Gesetze erlassen, die das Recht auf freie Meinungsäußerung gefährden, eine neue Verfassung ausarbeiten lassen und versucht, seinen Einfluss auf die Justiz zu vergrößern. Am 1. Juni 2022 entließ Präsident Saied willkürlich 57 Richter*innen auf der Grundlage von Vorwürfen wie Versäumnissen bei der Untersuchung terrorismusbezogener Fälle, Ehebruch oder der Beteiligung an "durch Alkohol angeheizten Partys". Das Justizministerium weigerte sich, der vom tunesischen Verwaltungsgericht angeordneten Wiedereinsetzung von 49 dieser Richter*innen Folge zu leisten.
Seit dem 25. Juli 2021 haben die tunesischen Behörden strafrechtliche Ermittlungen gegen mindestens 74 Oppositionelle und andere vermeintliche Feinde des Präsidenten eingeleitet. Darunter befinden sich mindestens 44 Personen, denen Straftaten im Zusammenhang mit der Ausübung ihrer Menschenrechte vorgeworfen werden.