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Russland: Rechtsmittel von Ukrainer abgelehnt
In Russland inhaftiert: Der Ukrainer Oleksandr (Aleksandr) Marchenko.
© privat
Am 7. Februar hat der Oberste Gerichtshof von Burjatien die Rechtsmittel von Oleksandr (Aleksandr) Marchenko gegen seine Verurteilung wegen "Diskreditierung der russischen Streitkräfte" abgelehnt. Der inhaftierte Ukrainer war zuvor wegen dieses Vorwurfs bereits zu einer Geldstrafe verurteilt worden. Oleksandr Marchenko verbüßt seit November 2020 eine zehnjährige Haftstrafe wegen Spionage in verschiedenen Strafkolonien in Russland. Er wird erneut Rechtsmittel einlegen.
Appell an
Amtierender Staatsanwalt der Republik Burjatien
Mikhail Yurievich Filichev
23a, Borsoeva Street
Ulan-Ude
Republic of Buryatia
RUSSISCHE FÖDERATION
Sende eine Kopie an
Botschaft der Russischen Föderation
S. E. Herrn Sergej J. Netschajew
Unter den Linden 63-65
10117 Berlin
Fax: 030-2299 397
E-Mail: info@russische-botschaft.de
Amnesty fordert:
- Ich fordere Sie auf, dafür zu sorgen, dass Oleksandr Marchenko in der Strafkolonie FKU IK-2 weder Folter noch anderen Formen der Misshandlung ausgesetzt ist.
- Bitte stellen Sie außerdem sicher, dass er nicht mehr in einer Arrestzelle festgehalten wird.
- Sorgen Sie bitte außerdem dafür, dass er die von ihm benötigte medizinische Versorgung erhält und ordnen Sie unverzüglich eine zielführende und unabhängige Untersuchung seiner Vorwürfe wegen Folter und anderer Misshandlungen an.
Sachlage
Am 7. Februar bestätigte der Oberste Gerichtshof von Burjatien das gegen Oleksandr Marchenko gefällte Urteil des Bezirksgerichts von Ulan-Ude Oktyabrsky, das ihn wegen eines Verstoßes gegen Paragraf 20.3.3 (1) des Gesetzbuchs für Ordnungswidrigkeiten zu einer Geldstrafe verurteilt hatte. Oleksandr Marchenko selbst streitet alle Vorwürfe der "Diskreditierung der russischen Streitkräfte" ab.
Oleksandr Marchenko verbüßt seit November 2020 eine zehnjährige Haftstrafe wegen Spionage in verschiedenen Strafkolonien in Russland. Dort ist er ständiger Verfolgung und Schikane durch die Behörden ausgesetzt. So wurde er unter fadenscheinigen Anschuldigungen für sechs Monate in einer Arrestzelle festgehalten, nachdem er zum ersten Mal Rechtsmittel gegen seine Verurteilung eingelegt hatte. Der Kontakt zu seiner Lebensgefährtin ist ihm noch immer untersagt. Am 17. Februar wurde er in die Strafkolonie FKU IK-2 nach Ulan-Ude, Hauptstadt von Burjatien, verlegt.
Die Behörden der Strafkolonie FKU IK-8, in der Oleksandr Marchenko bis zu seiner Verlegung in die Strafkolonie FKU IK-2 am 17. Februar festgehalten wurde, haben ihn wiederholt willkürlich und aus fadenscheinigen Gründen Disziplinarmaßnahmen unterzogen. So wurde er beispielsweise am 31. August 2022 für sechs Monate in eine Arrestzelle gesteckt, weil ihm vorgeworfen wurde, dass er sich geweigert hatte bei der Reinigung des Gebäudes mitzuhelfen. Nachdem er gegen das gegen ihn laufende Verwaltungsverfahren Rechtsmittel eingelegt hatte, hielten die Behörden ihn für weitere sechs Monate aus fadenscheinigen Gründen in einer Arrestzelle fest. Darüber hinaus haben ihm auch die Behörden der Strafkolonie IK-8 den Kontakt zu seiner Lebensgefährtin verweigert. Außerdem wurde Oleksandr Marchenko nach Angaben seiner Familie der Zugang zu der von ihm dringend benötigten medizinischen Versorgung verwehrt, einschließlich täglich benötigter Medikamenten, monatlicher Bluttests und Untersuchungen zur Überwachung seiner Schilddrüsenerkrankung, die alle drei Monate vorgenommen werden müssten. Die von ihm dringend benötigten Medikamente müssen von seiner Familie auf eigene Kosten bereitgestellt werden. Die Verweigerung medizinischer Versorgung kann eine Form von Folter bzw. anderer Misshandlung darstellen. Die Umstände von Oleksandr Marchenkos Fall und die Art und Weise, wie er in der Strafkolonie FKU IK-8 behandelt wurde, geben Grund zu der Annahme, dass es sich um ein fingiertes Verwaltungsverfahren gegen ihn handelt und dass er wegen seiner Staatsangehörigkeit verfolgt wird.
Hintergrundinformation
Wie der ukrainische Staatsangehörige Oleksandr (Aleksandr) Marchenko seinen Rechtsbeiständen berichtete, reiste er im Dezember 2018 wegen persönlicher Angelegenheiten von der ukrainischen Hauptstadt Kiew über Russland in das von Russland besetzte Donezk in der Ostukraine. Am 18. Dezember 2018 wurde er bei der Rückreise über Russland von maskierten Männern entführt. Ihm zufolge stülpten die Männer ihm einen Sack über den Kopf, nahmen ihm sein Mobiltelefon und andere persönliche Gegenstände weg und brachten ihn in ein geheimes Gefängnis der sogenannten "Volksrepublik Donezk" (DNR). Dort wurde er ohne Kontakt zur Außenwelt im Keller in einer fensterlosen Zelle ohne Bett, Toilette oder fließendes Wasser festgehalten. Ab dem Tag seiner Entführung war Oleksandr Marchenko Folter und anderen Misshandlungen wie Stromstößen ausgesetzt, bis er sich bereiterklärte, sich in einem "Geständnis" auf Video selbst zu belasten.
Am 18. Februar 2019 wurde er gezwungen, Dokumente zu unterschreiben, denen zufolge er keine Beschwerden gegen das "Ministerium für Staatssicherheit der DNR" vorzubringen habe. Danach wurde er zur russischen Grenze gefahren und dem russischen Geheimdienst FSB übergeben. Die Angehörigen des FSB stülpten Oleksandr Marchenko eine Tasche über den Kopf und brachten ihn auf einer mehrstündigen Fahrt zum regionalen FSB in Krasnodar. Dort wurde er zu einem Mann befragt, den er nach eigenen Angaben nie kennengelernt hatte. Wie Oleksandr Marchenko seinen Rechtsbeiständen mitteilte, wurde er nach dem Verhör von Angehörigen des FSB zu einer Polizeiwache gebracht, wo er die Nacht verbrachte. Auf der Grundlage eines von der Polizei konstruierten Protokolls über eine Ordnungswidrigkeit entschied ein Gericht am nächsten Tag, Oleksandr Marchenko für zehn Tage in Haft zu nehmen. Im Anschluss daran leitete die Polizei zwei weitere konstruierte Verwaltungsverfahren gegen Oleksandr Marchenko ein, und zwar immer dann, sobald er seine vorherige Verwaltungshaft vollständig verbüßt hatte (am 1. März 2019 und am 16. März 2019). So blieb er weiter in Haft.
Während seiner willkürlichen Verwaltungshaft wurde Oleksandr Marchenko wiederholt von Angehörigen des FSB sowie "Sicherheitskräften" der "DNR" verhört und dazu gezwungen, ein "Geständnis" zu unterschreiben. Sie drohten ihm und seiner Familie und verweigerten ihm den Zugang zu einem Rechtsbeistand. Am 1. Mai 2019 wurde Oleksandr Marchenko von einem Gericht wegen Schmuggels in Untersuchungshaft genommen, zunächst für zwei Monate. Diese Haft wurde im Anschluss mehrfach verlängert. Am 6. Dezember 2019 wurde Oleksandr Marchenko wegen Spionage angeklagt. Am 26. November 2020 verurteilte das Regionalgericht in Krasnodar ihn nach Paragraf 276 des russischen Strafgesetzbuchs ("Spionage") zu zehn Jahren Gefängnis in einer Strafkolonie mit strengen Haftbedingungen. Seine Rechtsmittel wurden abgelehnt.
Seitdem ihm 2016 wegen einer Krebserkrankung die Schilddrüse entfernt wurde, benötigt er täglich Medikamente, monatliche Blutuntersuchungen und weitere medizinische Untersuchungen alle drei Monate. Seit seiner Inhaftierung 2018 hatte er jedoch bisher erst eine Blutuntersuchung im Juli 2021, die von seiner Familie privat organisiert wurde. Nach Angaben seiner Rechtsbeistände wurden ihm in mindestens zwei Fällen von den Strafvollzugsbehörden über längere Zeiträume hinweg die benötigten Medikamente verwehrt. Einmal von April bis Mai 2021, als er im Untersuchungsgefängnis SIZO-1 und in der Strafkolonie IK-14 in Krasnodar festgehalten wurde, und dann vom 12. bis 28. Dezember 2021, als er in SIZO-1 in Ulan-Ude in Burjatien inhaftiert war. Ohne die für ihn lebenswichtigen Medikamente hat sich sein Gesundheitszustand deutlich verschlechtert. Auch in der Strafkolonie IK-8 wurden ihm die regelmäßig erforderlichen Untersuchungen verweigert. Die von ihm dringend benötigten Medikamente müssen von der Familie auf eigene Kosten bereitgestellt werden. Die Verweigerung medizinischer Versorgung kann eine Form von Folter bzw. anderer Misshandlung darstellen. Nach Angaben seiner Rechtsbeistände soll die Verwaltung der Hafteinrichtung SIZO-1 in Ulan-Ude Oleksandr Marchenko darüber hinaus mit dem Tod und mit sexualisierter Gewalt gedroht haben. Berichten zufolge wurde er außerdem 15 Tage lang zusammen mit einem an Tuberkulose erkrankten Mann in eine Strafzelle gesperrt, weil er versucht hatte, das ukrainische Konsulat zu erreichen. 2022 hielt ihn die Verwaltung der Strafkolonie IK-8 mindestens acht Mal in Straf- oder Arrestzellen fest und verwehrte ihm den Kontakt zu seiner Lebensgefährtin.
Amnesty International und andere Menschenrechtsorganisationen haben Fälle dokumentiert, in denen Personen vom sogenannten "Ministerium für Staatssicherheit" in der von Russland besetzten Ostukraine ihrer Freiheit beraubt wurden, indem sie in geheime Haft genommen und gefoltert und anderweitig misshandelt wurden, um ein "Geständnis" zu erzwingen, das dann zu ihrer "Verurteilung" herangezogen wurde. Nähere Informationen zu solchen Praktiken finden Sie in dem gemeinsamen Bericht von Amnesty International und Human Rights Watch "You Don’t Exist: Arbitrary detentions, enforced disappearances, and torture in eastern Ukraine" unter https://www.amnesty.org/en/documents/eur50/4455/2016/en/.
Am 4. März 2022 wurde ein neues Gesetz verabschiedet, das erdrückende Geldstrafen oder Haftstrafen von bis zu 15 Jahren für "Verbrechen" wie die "vorsätzliche Verbreitung von Falschnachrichten" über die russischen Streitkräfte (Paragraf 207.3 im Strafgesetzbuch) oder die "Diskreditierung" russischer Truppen (Paragraf 280.3 im Strafgesetzbuch und Paragraf 20.3.3 im Gesetzbuch für Ordnungswidrigkeiten) vorsieht. Im Verlauf der darauffolgenden drei Tage wurden gemäß dieses neuen Gesetzes – in welchem wirksam sowohl das Wort "Krieg" als auch Friedensappelle verboten wurden – mehr als 140 Menschen festgenommen. Bis Dezember 2022 kam es zu mehr als 180 bzw. 100 Strafverfahren aufgrund solcher Anschuldigungen und mindestens 5.518 Verwaltungsverfahren wegen "Diskreditierung". Denjenigen, gegen die Verwaltungsstrafen wegen "Diskreditierung" verhängt wurden, könnte beim nächsten Mal eine strafrechtliche Verfolgung drohen.