Russland: Inhaftierter Ukrainer ohne medizinische Versorgung

Die Grafik zeigt eine Gefängnistür mit Gitterstäben.

Der ukrainische Staatsbürger Oleksandr Marchenko verbüßt seit November 2020 eine zehnjährige Haftstrafe wegen Spionage in Russland. Nach eigenen Angaben ist er unschuldig und wurde im November 2018 entführt und gefoltert, um ein "Geständnis" zu erzwingen. Oleksandr Marchenko hatte Schilddrüsenkrebs und leidet unter zahlreichen weiteren gesundheitlichen Problemen. Die russischen Behörden verweigern ihm die dringend benötigte medizinische Versorgung. Das ist lebensgefährlich und könnte den Tatbestand der Folter erfüllen.

Appell an

Arkadiy Aleksandrovich Gostev

Director of Federal Penal Service


14, Zhitnaya Street

Moscow, 119049

RUSSISCHE FÖDERATION

Sende eine Kopie an

Botschaft der Russischen Föderation

S. E. Herrn Sergej J. Netschajew

Unter den Linden 63-65


10117 Berlin

Fax: 030-2299 397

E-Mail: info@russische-botschaft.de

Amnesty fordert:

  • Sorgen Sie bitte dafür, dass Oleksandr Marchenko die von ihm benötigte medizinische Versorgung erhält und ordnen Sie unverzüglich eine zielführende und unabhängige Untersuchung seiner Vorwürfe wegen Folter und anderer Misshandlungen an.

Sachlage

Oleksandr Marchenko, einem ukrainischen Staatsangehörigen, der in der Strafkolonie IK-8 der russischen Republik Burjatien eine zehnjährige Haftstrafe verbüßt, wird die notwendige medizinische Versorgung verweigert. Seitdem ihm 2016 wegen einer Krebserkrankung die Schilddrüse entfernt wurde, benötigt er täglich Medikamente, monatliche Blutuntersuchungen und weitere medizinische Untersuchungen alle drei Monate. Seit seiner Inhaftierung 2018 hatte er jedoch bisher erst eine Blutuntersuchung im Juli 2021, die von seiner Familie privat organisiert wurde. Nach Angaben seiner Rechtsbeistände wurden ihm in mindestens zwei Fällen von den Strafvollzugsbehörden über längere Zeiträume hinweg die benötigten Medikamente verweigert. Einmal von April bis Mai 2021, als er im Untersuchungsgefängnis SIZO-1 und in der Strafkolonie IK-14 in Krasnodar festgehalten wurde, und dann vom 12. bis 28. Dezember 2021, als er in SIZO-1 in Ulan-Ude in Burjatien inhaftiert war. Ohne seine lebenswichtigen Medikamente hat sich sein Gesundheitszustand deutlich verschlechtert. Derzeit werden ihm in der Strafkolonie IK-8 die regelmäßig erforderlichen Untersuchungen verweigert. Die von ihm dringend benötigten Medikamente müssen von der Familie auf eigene Kosten bereitgestellt werden. Die Verweigerung medizinischer Versorgung kann eine Form von Folter oder anderer Misshandlung darstellen.

Besorgniserregend ist auch, dass die Verwaltung der Hafteinrichtung SIZO-1 in Ulan-Ude Oleksandr Marchenko nach Angaben seiner Rechtsbeistände mit dem Tod und sexualisierter Gewalt gedroht haben soll. Berichten zufolge wurde er außerdem 15 Tage lang zusammen mit einem an Tuberkulose erkrankten Mann in eine Strafzelle gesperrt, weil er versucht hatte, das ukrainische Konsulat zu erreichen. Im März 2022 steckte ihn die Verwaltung der Strafkolonie IK-8 wegen seiner ukrainefreundlichen Ansichten 28 Tage lang in eine Strafzelle.

Hintergrundinformation

Hintergrund

Wie der ukrainische Staatsangehörige Oleksandr (Aleksandr) Marchenko seinen Rechtsbeiständen berichtete, reiste er im Dezember 2018 wegen persönlicher Angelegenheiten von der ukrainischen Hauptstadt Kiew über Russland in das von Russland besetzte Donezk in der Ostukraine. Am 18. Dezember 2018 wurde er bei der Rückreise über Russland von maskierten Männern entführt. Ihm zufolge stülpten die Männer ihm einen Sack über den Kopf, nahmen ihm sein Mobiltelefon und andere persönliche Dinge weg und brachten ihn in ein geheimes Gefängnis der sogenannten "Volksrepublik Donezk" (DNR). Dort wurde er ohne Kontakt zur Außenwelt im Keller in einer fensterlosen Zelle ohne Bett, Toilette oder fließendes Wasser festgehalten. Ab dem Tag seiner Entführung war Oleksandr Marchenko Folter und anderen Misshandlungen wie Stromstößen ausgesetzt, bis er sich bereiterklärte, sich in einem "Geständnis" auf Video selbst zu belasten.

Am 18. Februar 2019 wurde er gezwungen, Dokumente zu unterschreiben, denen zufolge er keine Beschwerden gegen das "Ministerium für Staatssicherheit der DNR" vorzubringen habe. Danach wurde er zur russischen Grenze gefahren und dem russischen Geheimdienst FSB übergeben. Die Angehörigen des FSB stülpten Oleksandr Marchenko eine Tasche über den Kopf und brachten ihn auf einer mehrstündigen Fahrt zum regionalen FSB in Krasnodar. Dort wurde er zu einem Mann befragt, den er nach eigenen Angaben nie kennengelernt hatte. Wie Oleksandr Marchenko seinen Rechtsbeiständen mitteilte, wurde er nach dem Verhör von Angehörigen des FSB zu einer Polizeiwache gebracht, wo er die Nacht verbrachte. Auf der Grundlage eines von der Polizei konstruierten Protokolls über eine Ordnungswidrigkeit entschied ein Gericht am nächsten Tag, Oleksandr Marchenko für zehn Tage in Haft zu nehmen. Im Anschluss daran leitete die Polizei zwei weitere konstruierte Verwaltungsverfahren gegen Oleksandr Marchenko ein, und zwar immer dann, sobald er seine vorherige Verwaltungshaft vollständig verbüßt hatte (am 1. März 2019 und am 16. März 2019). So blieb er weiter in Haft.

Während seiner willkürlichen Verwaltungshaft wurde Oleksandr Marchenko wiederholt von Angehörigen des FSB sowie "Sicherheitskräften" der "DNR" verhört und dazu gezwungen, ein "Geständnis" zu unterschreiben. Sie drohten ihm und seiner Familie und verweigerten ihm den Zugang zu einem Rechtsbeistand. Am 1. Mai 2019 wurde Oleksandr Marchenko von einem Gericht wegen Schmuggels in Untersuchungshaft genommen, zunächst für zwei Monate. Diese Haft wurde im Anschluss mehrfach verlängert. Am 6. Dezember 2019 wurde Oleksandr Marchenko wegen Spionage angeklagt. Am 26. November 2020 verurteilte das Regionalgericht in Krasnodar ihn nach Paragraf 276 des russischen Strafgesetzbuchs ("Spionage") zu zehn Jahren Gefängnis in einer Strafkolonie mit strengen Haftbedingungen. Seine Rechtsmittel wurden abgelehnt.

Amnesty International und andere Menschenrechtsorganisationen haben Fälle dokumentiert, in denen Personen vom sogenannten "Ministerium für Staatssicherheit" in der von Russland besetzten Ostukraine ihrer Freiheit beraubt wurden, indem sie in geheime Haft genommen und gefoltert und anderweitig misshandelt wurden, um ein "Geständnis" zu erzwingen, das dann zu ihrer "Verurteilung" herangezogen wurde. Nähere Informationen zu solchen Praktiken finden Sie in dem gemeinsamen Bericht von Amnesty International und Human Rights Watch "You Don’t Exist: Arbitrary detentions, enforced disappearances, and torture in eastern Ukraine" unter https://www.amnesty.org/en/documents/eur50/4455/2016/en/