Chile: Straflosigkeit hält auch vier Jahre nach Protesten weiter an

Diese Urgent Action ist beendet.

Am 3. Januar erhob die Regionale Staatsanwaltschaft in Santiago de Chile Anklage gegen drei derzeitige bzw. ehemalige hochrangige Kommandanten der Polizei. Sie will die drei Polizeikräfte wegen ihrer mutmaßlichen Rolle bei der Unterdrückung der Massenproteste Ende 2019 zur Rechenschaft ziehen. Nach der Anhörung durch die Anklage wird ein Prozess gegen diejenigen erwartet, die für das Leid Tausender Menschen verantwortlich sind. Dabei müssen sämtliche Garantien für ein ordnungsgemäßes Verfahren und einen fairen Prozess eingehalten werden, um das Recht der Opfer auf Wahrheit, Gerechtigkeit, Wiedergutmachung und Nichtwiederholung in vollem Umfang zu gewährleisten. 

Das Foto zeigt eine Gruppe von sechs Polizisten mit Helmen und Schutzschildern. Vor ihnen steht ein weiterer Polizist mit Helm, der mit einem Gewehr anlegt und zielt.

Am 18. Oktober jährt sich der Beginn massiver sozialer Unruhen in Chile zum vierten Mal. Im Rahmen der Proteste kam es zu zahlreichen Menschenrechtsverletzungen durch chilenische Polizeikräfte, den Carabineros. Bis heute ist keine Führungskraft innerhalb der Polizei für diese Menschenrechtsverletzungen zur Rechenschaft gezogen worden. Die strafrechtlichen Ermittlungen zu ihrer Rolle und ihrer mutmaßlichen Verantwortung verlaufen ergebnislos. Amnesty International fordert ein Ende der Straflosigkeit und Gerechtigkeit für die Betroffenen.

Appell an

Xavier Armendáriz
Prosecutor of the Centre-North Metropolitan Region
Av. Pedro Montt 1606
Santiago Centro
CHILE

Sende eine Kopie an

Botschaft der Republik Chile
I.E. Frau Maria Magdalena Atria Barros
Mohrenstr. 42
10117 Berlin
Fax: 030-726 203 603
E-Mail: echile.alemania@minrel.gob.cl

 

Amnesty fordert:

  • Vier Jahre Straflosigkeit ist nicht zu rechtfertigen. Wir fordern Sie auf, bei Vorliegen ausreichender Beweise unverzüglich Anklage gegen die Führungskräfte der Carabineros zu erheben, die für die begangenen Straftaten und Menschenrechtsverletzungen verantwortlich sein könnten. Die Verantwortlichen müssen in einem fairen Verfahren mit allen verfahrensrechtlichen Garantien zur Rechenschaft gezogen werden.

Sachlage

Am 18. Oktober 2019 brachen in Chile soziale Unruhen aus. Seitens der Sicherheitskräfte kam es zu zahllosen Menschenrechtsverletzungen, Hunderte verloren ihr Augenlicht durch Schüsse der Carabineros. Es ist besorgniserregend, dass vier Jahre nach diesen Ereignissen immer noch Straffreiheit herrscht, insbesondere im Hinblick auf die polizeilichen Führungskräfte. Im Jahr 2020 veröffentlichte Amnesty International den englischsprachigen Bericht Eyes on Chile: Command responsibility and police violence during the period of social unrest. Darin kam die Organisation zu dem Schluss, dass sowohl Fallstudien als auch Augenzeugenberichte darauf hindeuten, dass die wiederholte unnötige und unverhältnismäßige Anwendung von Gewalt eine gezielte polizeiliche Maßnahme war und keine isolierte Verfehlung einzelner Beamt*innen, die Befehle ihrer Vorgesetzten missachteten. Deshalb hat die Menschenrechtsorganisation die chilenische Generalstaatsanwaltschaft immer wieder aufgefordert, die Verantwortung der operativen und strategischen Führungskräfte zu klären, die in ihrer Rolle die wiederholte Begehung von Menschenrechtsverletzungen angeordnet oder stillschweigend zugelassen haben. Amnesty International fordert die Justiz auf, Verfahren gegen alle mutmaßlich Verantwortlichen einzuleiten und diese strafrechtlich zu verfolgen. Zu diesen könnten auch der Generaldirektor und der Direktor der Nationalen Direktion für Ordnung und Sicherheit (Dirección Nacional de Orden y Seguridad, DIOSCAR) gehören, die zum Zeitpunkt der Ereignisse im Amt waren. Den Opfern und ihren Angehörigen muss Zugang zur Justiz verschafft werden.

Hintergrundinformation

Hintergrund

Am 18. Oktober 2019 hatte in ganz Chile eine massive Protestbewegung eingesetzt, die sich an hohen Fahrpreisen im Nahverkehr entzündet hatte, sich dann aber schnell gegen soziale Missstände und die Regierung richtete. Für viele Chilen*innen waren die Proteste der letzte Strohhalm, nachdem ihnen der Zugang zu wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechten jahrzehntelang zunehmend eingeschränkt worden war. Die weitgehend friedlichen Proteste wurden massiv unterdrückt. Doch obwohl die staatlichen Repressionsmaßnahmen ein Ausmaß erreichten, das es seit der Pinochet-Regierung nicht mehr gegeben hatte, konnten die Proteste nicht gestoppt werden. Die Carabineros setzten grundlos weniger tödliche Waffen ein und feuerten wiederholt ungerechtfertigt und wahllos potenziell tödliche Munition ab, wobei sie in vielen Fällen auf die Köpfe der Menschen zielten. Immer wieder setzten sie übermäßig und unnötigerweise Tränengas ein, darunter auch im Umfeld von Krankenhäusern, Universitäten, Wohnhäusern und sogar Schulen, wodurch auch Kinder und Menschen mit Behinderungen getroffen wurden. Tausende von Menschen wurden verletzt. Hunderte trugen schwere Augenverletzungen durch Gummischrot und Tränengas davon, die wahllos und in unangemessener Weise eingesetzt wurden. Es gab Berichte von Folter und sexualisierten Übergriffen an gefangengenommenen Demonstrierenden. Die meisten der dokumentierten Menschenrechtsverletzungen wurden von den Carabineros begangen. Deren Führungskräfte – die ihre Einheiten kontrollieren und sicherstellen müssen, dass Gewalt nur im Einklang mit nationalem Recht, dem Völkerrecht und internationalem Standards angewendet wird – haben diese Menschenrechtsverletzungen nicht verhindert.

Ein typisches Beispiel, das die entsprechenden Verantwortlichkeiten deutlich macht, ist der Fall von Gustavo Gatica, der bei den Protesten im November 2019 durch Schüsse aus Schrotflinten sein Augenlicht verlor. Die chilenische Polizei leitete zwar eine interne Untersuchung der Vorfälle ein, kam aber zu dem Schluss, dass niemand ihrer Mitarbeiter*innen verantwortlich gemacht werden könne. Im Juni 2020 deckte Amnesty International allerdings einen möglichen Versuch der Carabineros auf, die Verwicklung eines ihrer Beamten – der als "G-3" identifiziert wurde – zu vertuschen. Seit dem 29. September 2023 wird gegen diesen Beamten wegen seiner Rolle bei dem Angriff auf Gustavo Gatica strafrechtlich ermittelt. Die Staatsanwaltschaft hat Anklage gegen ihn erhoben, ein Verfahren steht jedoch noch aus. Die Befehlskette in diesem Fall soll in einem eigenen Verfahren untersucht werden.

In dem Bericht Eyes on Chile: Police violence and chain of command responsibility during the period of social unrest stellte Amnesty International die mögliche strafrechtliche Verantwortung von mindestens drei Führungskräften der Carabineros im Zusammenhang mit massiven Verletzungen des Rechts auf körperliche Unversehrtheit von Demonstrant*innen fest. Die Menschenrechtsorganisation startete eine weltweite Kampagne, in der die Generalstaatsanwaltschaft aufgefordert wird, gegen die Führungskräfte zu ermitteln. In dem Bericht empfahl Amnesty International außerdem eine strukturelle Polizeireform, die den militärischen Charakter und die Struktur der Carabineros ins Visier nimmt. Die Organisation fordert eine stärkere Kontrolle durch zivile Behörden, sowie weitere dringende Änderungen, damit die Einhaltung internationaler Menschenrechtsnormen gewährleistet werden kann.

Die Menschenrechtsverletzungen durch Polizeikräfte im Zusammenhang mit den sozialen Unruhen Ende 2019 hatten nach Angaben des Nationalen Menschenrechtsinstituts (INDH) zu 10.568 Anzeigen geführt. Bis Ende 2022 hatte die Staatsanwaltschaft jedoch nur 127 Anklagen erhoben. In 27 Fällen kam es zu Verurteilungen, acht weitere Fälle endeten mit einem Freispruch. Bis heute wurde gegen keine der Führungskräfte der Carabineros Anklage erhoben, die während der Unruhen im Amt waren.