Amnesty Journal 28. November 2013

Das Schweigen brechen

Yejide Kilankos Roman "Der Weg der Töchter" ­schildert eine Jugend in Nigeria. Eine zentrale Rolle spielt dabei die Auseinandersetzung mit sexueller ­Gewalt in der Familie.

Von Wera Reusch

Die Geschichte fängt beschaulich an. Moraya wächst in einer Mittelschichtfamilie in der nigerianischen Stadt Ibadan in behüteten Verhältnissen auf. Die erste große Aufregung erlebt sie, als ihre kleine Schwester auf die Welt kommt – denn Eniayo ist Albino. Doch während die Urgroßtante dies für ein großes Unglück hält, mahnen die aufgeklärten Eltern, es gebe keinen Grund, die Schwester zu verstecken, und Moraya solle gut auf sie aufpassen.

Als Moraya zwölf ist, nimmt die Familie einen Cousin der Mädchen auf. Der etwas ältere Bros T. ist durch arrogantes Verhalten, kleine Diebstähle und schlechte Schulnoten aufgefallen. Da seine Mutter nicht mehr mit ihm zurande kommt, soll er sich nun in Morayas Familie einfügen. Dies scheint zunächst auch zu gelingen – bis zu einer Nacht, als Bros T. die Abwesenheit der Eltern nutzt, um das Mädchen zu vergewaltigen. Die Zwölfjährige ist völlig verstört und weiß sich nicht zu helfen, ­zumal es nicht bei einer Vergewaltigung bleibt. Angesichts der Drohungen ihres Cousins wagt Moraya nicht, über die Vorfälle zu sprechen. Erst als Bros T. beginnt, auch ihre kleine Schwester zu bedrängen, stellt sie ihn bloß. Der Junge wird weggeschickt, das unangenehme Thema wird in der Familie jedoch totgeschwiegen. Moraya ist völlig alleingelassen und unternimmt ­einen Selbstmordversuch.

Die nigerianische Schriftstellerin Yejide Kilanko lebt in Kanada und arbeitet als Kindertherapeutin. "Der Weg der Töchter" ist ihr erster Roman. In einem Interview erzählte die 38-Jährige, dass ihre Arbeit sie zu diesem Buch inspiriert habe. "'Der Weg der Töchter' ist zwar ein Roman, er gibt aber sehr genau wieder, was derzeit vor sich geht", sagte Kilanko. Sexuelle Gewalt gegen Frauen und Kinder sei nach wie vor ein sehr großes Problem in der nigerianischen Gesellschaft.

In ihrem Roman bietet die Schriftstellerin eine hoffnungsvolle Perspektive: Moraya trifft schließlich auf Verständnis bei ihrer erwachsenen Cousine Morenike. Die weiß, was das Mädchen durchmacht, denn sie wurde als 15-Jährige von einem einflussreichen Freund ihres Vaters vergewaltigt. Morenike ist eine der eindrucksvollsten Figuren des Romans – die Universitätsdozentin lebt allein mit ihrem Sohn, ist politisch aktiv und lebensklug. Dank ihrer Unterstützung gelingt es Moraya, wieder Würde und Selbstvertrauen zu erlangen.

Ihr Schreiben sei insofern feministisch, als sich darin ihre persönlichen Überzeugungen widerspiegelten, sagte Yejide Kilanko in einem Interview: "Ich glaube fest an den Wert und das Potenzial von Mädchen, unabhängig von ihrer sozialen Lage. Ich glaube daran, dass Frauen Gleichberechtigung und Beteiligung an Entscheidungsprozessen verdienen, ob Zuhause, am Arbeitsplatz oder im öffentlichen Leben."

Die Autorin erzählt die Geschichte Morayas zwar sehr konventionell, in Form eines Rückblicks der Ich-Erzählerin. Überzeugend ist jedoch insbesondere, wie sie die Folgen sexueller Gewalt darstellt, sei es die Scham und Verzweiflung der Protagonistin, die Entfremdung von ihrer Familie oder ihre gescheiterten Liebesbeziehungen – Kilanko schildert die jahrelange Traumatisierung ihrer Protagonistin eindringlich, aber nicht sensationsheischend.

Yejide Kilanko: Der Weg der Töchter. Aus dem Englischen von Uda Strätling. Graf Verlag, Berlin 2013, 384 Seiten, 18 Euro.

Weitere Artikel