Amnesty Journal Brasilien 14. Januar 2010

Porträt: Marcelo Freixo

"Wir führen einen Krieg"

An Morddrohungen ist Marcelo Freixo gewöhnt. Immer wieder war der brasilianische Menschenrechtler und Abgeordnete des Parlaments von Rio de Janeiro gewarnt worden, seine Arbeit fortzusetzen. Als Vorsitzender eines parlamentarischen Ausschusses hatte er vor zwei Jahren begonnen, die Beteiligung der Regierung an den gesetzeswidrigen Aktivitäten der Milizen zu untersuchen, jener paramilitärischen Gruppen, die bereits über hundert Favelas in Rio de Janeiro kontrollieren. Einem ersten Ergebnisbericht der Kommission folgten bis heute über 200 Verhaftungen, darunter auch viele von ranghohen Polizeibeamten und Politikern.

Im Mai dieses Jahres wurde aus den Drohungen bitterer Ernst. Bei der Durchsuchung eines Milizenquartiers fand die Polizei konkrete Pläne zur Ermordung Freixos und seines Mitarbeiters Vinicius George. Beide baten daraufhin um staatliche Schutzmaßnahmen, die jedoch erst sehr spät und nur unzureichend ergriffen wurden. Erst eine Amnesty-Eilaktion brachte den gewünschten Erfolg. Unzählige Postkarten und Briefe aus aller Welt erreichten die brasilianischen Behörden, machten auf die Arbeit und Situation der beiden Männer aufmerksam und forderten zu ihrem Schutz auf. "Der Gouverneur von Rio, die Leiter der öffentlichen Ministerien, der Polizeichef, selbst der Präsident – sie alle sprachen persönlich bei uns vor, um zu erfahren, warum sie plötzlich diese Karten bekamen. Und sie sorgten schließlich dafür, dass wir geschützt wurden", erzählt Marcelo Freixo.

Seitdem hat sich der Alltag der beiden Männer und ihrer Familien komplett verändert. Tag und Nacht steht ein Polizeiwagen vor ihrer Tür. Sie werden auf Schritt und Tritt von Leibwächtern begleitet. Selbst ein kurzer Ausflug an den Strand, Pflichtprogramm in Rio am Wochenende, gilt als zu gefährlich. Jeder Gang muss vorbereitet und abgesichert werden. Ein ungeplantes Treffen mit Freunden oder ein spontaner Kinobesuch – unmöglich. Die absolute Sicherheit gibt es trotzdem nicht.

Freixo spricht nur ungern über die lebensnotwendig gewordenen Einschränkungen des Polizeischutzes. Eher betont er, dass die Milizen täglich das Leben derjenigen bedrohen, die in den von ihnen kontrollierten Favelas wohnen. Dass sein eigenes Leben nun ebenfalls in Gefahr ist, überrascht ihn nicht. "Man kann diese Arbeit nicht tun, ohne gewisse Risiken einzugehen. Wenn man ein solches Mandat in Rio annimmt, dann aus dem Grund, bestimmten Leuten die Stirn zu bieten. Wir führen einen Krieg! Und wer das nicht akzeptieren will, muss eben woanders arbeiten."

Freixo arbeitet bereits seit über zwanzig Jahren zu Menschenrechten in Brasilien. Lange Zeit war der studierte Historiker als Lehrer in den Gefängnissen Rio de Janeiros tätig und setzte sich für eine Verbesserung der Haftbedingungen ein. Als wissenschaftlicher Mitarbeiter der Menschenrechtsorganisation Justiça Global beriet er Bundes- und Landesbehörden zu verschiedenen Menschenrechtsthemen. Dabei trieb er insbesondere die Entwicklung von Bildungsprojekten und die Thematisierung des Aids-Problems in den Haftanstalten voran.

Vor drei Jahren schließlich kandidierte Freixo erfolgreich für das Parlament des Bundesstaates Rio de Janeiro. Hier übernahm er unter anderem das Mandat für Menschenrechte, in dessen Rahmen er gegen die Milizen ermittelt. Die Herausforderungen und Aufgaben dieses Mandats sind vielfältig, die Gefahren ebenfalls.

Die nächsten Parlamentswahlen in Rio finden 2010 statt. Sollte Freixo nicht wiedergewählt werden, werden er und einige seiner Kollegen die Stadt und vielleicht sogar Brasilien zu ihrer eigenen Sicherheit verlassen müssen. Doch bis dahin gilt es, die ­Ergebnisse der Untersuchungskommission weiter umzusetzen. "Rio ist eine wunderbare Stadt", sagt Freixo, "aber sie muss es für alle sein und nicht nur für einige Auserwählte."

Von Sara Fremberg.

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