Amnesty Report 12. Mai 2009

Sierra Leone 2009

 

Amtliche Bezeichnung: Republik Sierra Leone Staats- und Regierungschef: Ernest Bai Koroma Todesstrafe: nicht abgeschafft Einwohner: 6 Mio. Lebenserwartung: 41,8 Jahre Kindersterblichkeit (m/w): 290/264 pro 1000 Lebendgeburten Alphabetisierungsrate: 34,8%

Von wenigen gewaltsamen Zwischenfällen vor und nach den im Juli 2008 abgehaltenen Kommunalwahlen abgesehen, war die Sicherheitslage allgemein stabil. Der Prozess gegen den ehemaligen liberianischen Staatspräsidenten Charles Taylor wurde im Januar 2008 in Den Haag fortgesetzt. Zwei der drei Verfahren, die vor dem Sondergerichtshof für Sierra Leone in der Berufungsinstanz anhängig waren, wurden zum Abschluss gebracht, das Urteil im dritten Verfahren wurde für Ende 2008 erwartet. Die sierra-leonische Menschenrechtskommission (Human Rights Commission of Sierra Leone – HRCSL) veröffentlichte ihren ersten Landesbericht. Bei der Umsetzung der Empfehlungen der Kommission für Wahrheit und Aussöhnung (Truth and Reconciliation Commission – TRC) waren allerdings kaum Fortschritte zu verzeichnen. Der Berufung von elf Männern, die wegen Verrats verurteilt worden waren, wurde stattgegeben. Zehn von ihnen waren in erster Instanz zum Tode verurteilt worden. Die elf Freigesprochenen wurden im November 2008 auf freien Fuß gesetzt.

Sierra Leone war nach wie vor ein extrem armes Land mit einer der höchsten Mütter- und Kindersterblichkeitsraten der Welt. Schätzungen zufolge starb jede achte Frau bei der Geburt eines Kindes und jedes vierte Kind vor Erreichen des fünften Lebensjahrs.

Hintergrund

Im Februar 2008 setzte der Präsident einen strategischen Plan für die Gesundheit von Mutter und Kind in Kraft, mit dem die Mütter- und Kindersterblichkeit bis 2010 um 30% verringert werden soll. Geberländer stellten Finanzmittel für die Bekämpfung der Müttersterblichkeit in den nächsten zehn Jahren zur Verfügung.

In ihrem ersten Bericht, der im Juli 2008 vorgestellt wurde, befasste sich die HRCSL mit zahlreichen Menschenrechtsverletzungen, u.a. dem brutalen Vorgehen und dem exzessiven Gewalteinsatz von Polizisten sowie Fällen von Langzeitinhaftierung ohne Anklage. Ein Schwerpunkt des Berichts waren die Rechte von Frauen und Mädchen. Dabei wurden besonders die hohe Mütter- und Kindersterblichkeit und geschlechtsspezifische Gewalt, darunter Genitalverstümmelung, herausgestellt.

Im Juli 2008 fanden Kommunalwahlen statt. Kandidierende Frauen wurden in ihren Gemeinden u.a. mit Mord- und Vergewaltigungsdrohungen unter Druck gesetzt. Insgesamt waren 13% der Bewerber um ein Amt Frauen.

Zwischen jugendlichen Anhängern der Volkspartei von Sierra Leone (Sierra Leone People’s Party – SLPP), der Volksbewegung für den Demokratischen Wandel (People’s Movement for Democratic Change) und dem Allgemeinen Volkskongress (All People’s Congress – APC) kam es das ganze Jahr über zu gewaltsamen Zusammenstößen. Dabei wurden im Januar 2008 in Port Loko vier Menschen getötet und elf Häuser niedergebrannt. Im Juni, Juli und August kam es zwischen den Gruppen erneut zu politisch motivierten Gewalttaten. Daher wurde im Juli im Bezirk Kenema im Vorfeld der Wahlen als Vorsichtsmaßnahme die Armee stationiert. Es gingen aus verschiedenen Bezirken Meldungen über Unruhen ein. 71 der 1324 Kandidaten zogen deshalb ihre Kandidatur zurück.

Das Antikorruptionsgesetz von 2000 wurde 2008 durch eine Neufassung ersetzt. Im Februar 2008 verabschiedete die Regierung eine neue Strategie zur Bekämpfung der Korruption in Sierra Leone. Im Rahmen dieser Strategie richtete die Antikorruptionskommission eine neue Abteilung zur Ermittlung, Informationssammlung und strafrechtlichen Verfolgung ein. Im November 2008 wurden drei hochrangige Staatsbeamte wegen diverser Straftaten nach dem neuen Gesetz angeklagt.

Im Januar 2008 setzte die Regierung eine mit der Überarbeitung der Verfassung beauftragte Kommission ein. Diese legte 136 Änderungsvorschläge für die Verfassung von 1991 vor, die per Volksabstimmung angenommen werden müssen und die im Wesentlichen nichts mit Menschenrechtsfragen zu tun hatten.

Das Integrierte Büro der Vereinten Nationen (UNIOSIL) für friedenssichernde Maßnahmen in Sierra Leone wurde im Oktober 2008 vom Büro für die Friedenskonsolidierung in Sierra Leone (UNIPSIL) abgelöst. Die Prioritäten der Arbeit des Büros waren weiterhin Menschenrechte und Gleichstellungsfragen. Im Juli 2008 bewilligte der UN-Friedenskonsolidierungsfonds mehr als 17 Mio. US-Dollar für soziale Reformprojekte in Sierra Leone.

Sondergerichtshof für Sierra Leone

Der Prozess gegen den ehemaligen liberianischen Staatspräsidenten Charles Taylor wurde im Januar 2008 in Den Haag fortgesetzt. Er musste sich in elf Fällen wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen verantworten, die er in Sierra Leone verübt haben soll, u.a. für widerrechtliche Tötungen, Vergewaltigungen und für den Einsatz von Kindersoldaten. Der Vortrag der Anklagevertretung war Ende des Jahres abgeschlossen.

Im Prozess gegen die führenden Mitglieder der Revolutionären Vereinigten Front (Revolutionary United Front – RUF), Issa Sesay, Morris Kallon und Augustine Gbao, wurden die Vorträge der Verteidigung gehört. Eine Entscheidung des Gerichts stand im Dezember 2008 noch aus.

Im Februar 2008 bestätigte die Berufungskammer des Sondergerichtshofs die erstinstanzlichen Urteile gegen drei Mitglieder des Revolutionsrats der Streitkräfte (Armed Forces Revolutionary Council): Alex Tamba Brima, der mit 50 Jahren Haft bestraft worden war, sowie Ibrahim Bazzy Kamara und Santigie Borbor Kanu, die man zu jeweils 45 Jahren Gefängnis verurteilt hatte.

Das Berufungsverfahren gegen Moinina Fofana und Allieu Kondewa, Mitglieder der Zivilen Verteidigungskräfte (Civil Defence Forces), endete im Mai. Die Berufungskammer verurteilte sie zu Freiheitsstrafen von 15 bzw. 20 Jahren und verdoppelte damit die in der ersten Instanz verhängten Strafen.

Recht auf freie Meinungsäußerung

2008 wurden mehrere Journalisten Repressionen ausgesetzt und in einigen Fällen festgenommen.

  • Im Februar wurde Jonathan Leigh, Chefredakteur des Independent Observer, festgenommen und der Verleumdung sowie Diffamierung des Ministers für Transport und Flugverkehr beschuldigt. Er kam gegen Kaution frei und distanzierte sich von seinen Artikeln.

  • Im März wurde die Journalistin Sylvia Blyden von der Zeitung The Awareness Times festgenommen. Ihr wurde vorgeworfen, "den Präsidenten lächerlich gemacht zu haben". Sie wurde noch am gleichen Tag aus dem Gewahrsam entlassen.

Im Mai drohten die Behörden der Zeitung The New Vision rechtliche Schritte an, falls das Blatt sich nicht von Beiträgen distanziere, die als Kritik an der Regierung gewertet wurden.

Nachdem sie einen Bericht über die Bedingungen der Pressearbeit in Sierra Leone veröffentlicht hatten, erhielten im Oktober Emmanuel Saffa Abdulai, Direktor der Gesellschaft für Demokratische Initiativen (Society for Democratic Initiatives – SDI), und John Baimba Sesay, Pressesprecher der Gesellschaft, von einem unbekannten Anrufer den ganzen Monat lang täglich Morddrohungen. Auch Mitarbeiter des Blatts New Vision, das den Bericht bereits im September abgedruckt hatte, erhielten Morddrohungen.

Übergangsjustiz

Obwohl der Präsident im Februar zugesichert hatte, die Empfehlungen der TRC umzusetzen, gab es 2008 nur wenige Fortschritte. Es wurden keine Schritte eingeleitet, einen Ausschuss für die Fortführung der Arbeit der TRC einzurichten.

Das Mandat der Nationalen Kommission für soziale Maßnahmen, die mit der Durchführung des Entschädigungsprogramms beauftragt ist, wurde verlängert. Der Kommission wurde die Zuständigkeit für die Überwachung des Aufbaus eines Sonderfonds für Kriegsopfer übertragen. Die für Reparationen zuständige Arbeitsgruppe wurde zu einem Lenkungsausschuss für Reparationszahlungen umgebildet und berief auch eine NGO-Vertreterin in ihre Reihen. Polizei und Sicherheitskräfte

Das Vorgehen der Polizei war nach wie vor von Brutalität und dem Einsatz unverhältnismäßiger Gewalt geprägt. Erneut gingen Berichte ein, denen zufolge die Polizei auch sexuelle Gewalt anwandte.

  • Im August 2008 verübten Sicherheitskräfte und Polizei gemeinsam mit Anhängern der SLPP und des APC brutale Angriffe auf Journalisten, die über Versammlungen der beiden Parteien berichteten. Nachdem die SDI und der sierra-leonische Journalistenverband die Regierung aufgerufen hatten, die dafür Verantwortlichen vor Gericht zu bringen, wurde der Vorfall untersucht. Ende 2008 waren noch keine schlüssigen Ergebnisse bekannt geworden.

Justizwesen

Es gelang nicht, die unverhältnismäßigen Verzögerungen bei mündlichen Verhandlungen in Strafsachen sowie die langen Untersuchungshaftzeiten wesentlich zu verringern. Die Gründe dafür waren häufige Vertagung und Zurücksendung in die Haft.

  • Im April 2008 fand endlich das Berufungsverfahren gegen elf Männer statt, die gegen ihre Verurteilung im Januar 2005 Rechtsmittel eingelegt hatten. Obwohl das Gericht im April entschied, dass die Klage gegen sie unbegründet sei, wurden sie erst im November 2008 auf freien Fuß gesetzt.

Die Gerichte waren nach wie vor mit zu wenig Personal und materiellen Ressourcen ausgestattet. Für das ganze Land gab es lediglich 19 Berufsrichter und 13 Staatsanwälte.

Frauenrechte

Die Regierung billigte einen Plan zur Umsetzung der Gleichstellungsgesetze von 2007, der die folgenden Einzelgesetze beinhaltete: das Gesetz gegen familiäre Gewalt, das Gesetz über die Registrierung von Eheschließungen und Ehescheidungen nach traditionellem Ritus und das Landrückgabegesetz. Im Laufe des Jahres wurden Kopien der Gleichstellungsgesetze verteilt und Seminare mit Frauen sowie mit traditionellen und religiösen Autoritäten durchgeführt. Ungeachtet des Inkrafttretens der Gesetze im Jahr 2007 waren Berichten zufolge die Zahlen bei Sexualdelikten, geschlechtsspezifischer und familiärer Gewalt sehr hoch. Die Bemühungen, die Zahl der Genitalverstümmelungen zu verringern, zeitigten nur geringe Erfolge.

Todesstrafe

Im November 2008 wurden zehn Männer freigelassen, die wegen Verrats zum Tode verurteilt worden waren. Ein Berufungsgericht hatte die gegen sie ergangenen Urteile aufgehoben. Bei den zehn Männern handelte es sich um den Obergefreiten Daniel Sandy, den Gefreiten Issa Kanu, den Hauptmann Hindolo Trye sowie um Alhajie Kamanda, Abdulia Taimu Tarawally, Richard Sellu Bockerie, Alhaji Mohamed Kondeh, Alhagie Kargbo, Ibrahim Koroma und Kai Mattia.

Im Mai ergingen drei weitere Todesurteile, und zwar gegen Tahimu Sesay, Gibrilla Dumbuya und Mohamed Tarwalie. Sie wurden für schuldig befunden, einen Mann zu Tode geprügelt zu haben.

Ende 2008 saßen 13 Gefangene in den Todeszellen ein, unter ihnen drei Frauen.

Im August 2008 setzten sich zivilgesellschaftliche Gruppen bei der Kommission für die Überarbeitung der Verfassung vergeblich für die Abschaffung der Todesstrafe ein.

Im Dezember enthielt sich Sierra Leone bei der Abstimmung über eine Resolution der UN-Generalversammlung für ein weltweites Hinrichtungsmoratorium. Amnesty International: Missionen

Delegierte der Organisation besuchten das Land im März und April.

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