Amnesty Journal 21. März 2018

Griff ins Leere

Die Uganderin Margaret Arach Orech sitzt in geblümtem Kleid auf einem Stuhl im Garten

Voller Würde. Margaret Arach Orech.

Die Uganderin Margaret Arach Orech kämpft dafür, dass die Opfer von Landminen nicht vergessen werden.

Von Benjamin Breitegger und Jelca Kollatsch (Foto), Kitgum

19 Jahre nachdem eine Landmine Margaret Arach Orechs rechtes Bein zerfetzte, steht sie auf der Straße in Norduganda, an der es passierte. Über ihrer Prothese trägt sie ein buntes Blumenkleid, in das sie ihre Hände vergräbt. Es reicht fast bis zum Boden. Ein weiches Abendlicht legt sich über die Farne in der Landschaft, erste Regentropfen färben die Erde dunkel. Orechs Blick wandert die unbetonierte Piste entlang, über eine kleine Brücke, die über einen Sumpf führt, vorbei an Strohhütten. Die Straße biegt dort scharf nach rechts ab.

"Von da kamen wir damals mit dem Bus", sagt Orech mit leiser, brüchiger Stimme. Sie hat die Biegung wiedererkannt, nach einer stundenlangen Fahrt mit dem Jeep, sogar aus der entgegengesetzten Richtung. Seit vielen Jahren war sie nicht mehr hier. Nun steht die 62-Jährige gedankenverloren am Straßenrand. Schwarze Wolken schieben sich übers Land. "Mit den Erinnerungen", sagt die Mutter von fünf Kindern, "kommt auch der Schmerz in meinem Beinstumpf wieder".

Margaret Arach Orech ist eines von offiziell rund 2.800 Landminenopfern in Uganda. Mehr als 500 Menschen starben aufgrund der Explosion, die anderen leben mit Behinderungen. Die Regierung erklärte das Land 2012 für "landminenfrei", doch finden Bewohner nach wie vor vereinzelte Sprengkörper. Uganda ist verpflichtet, Landminen zu räumen, weil es die Ottawa-Konvention gegen Antipersonenminen ratifiziert hat.

Das Abkommen wurde im Oktober 1997 in der kanadischen Hauptstadt unterzeichnet – ein internationaler Erfolg. Seit es in Kraft trat, wurden weltweit mehr als 50 Millionen Sprengkörper zerstört. 27 Staaten haben ihr Land von Minen geräumt. Noch im Jahr 1999 zählte die Internationale Kampagne gegen Landminen durchschnittlich 25 Opfer pro Tag. Bis 2013 sank diese Zahl auf ein Drittel. Doch die Kriege in Afghanistan, im Jemen, in Libyen, Syrien und in der Ukraine haben sie wieder ansteigen lassen: Nach Angaben der Kampagne wurden 2016 mindestens 2.000 Menschen durch Landminen getötet und mehr als 6.500 Personen verletzt.

Am Tag vor Weihnachten 1998 saß Orech angespannt in einem Minibus, der von der Stadt Kitgum Richtung Süden raste. Keiner der 24 Passagiere redete, alle waren nervös. Sie wussten, wie gefährlich diese Straße ist. In der ugandischen Provinz mordeten Extremisten der Lord’s Resistance Army (LRA). In der Kurve musste der Busfahrer bremsen. Es knallte. Ein geplatzter Reifen, dachte Orech im ersten Moment. Dann griff sie nach ihrem Bein – ein Griff ins Leere.

Regierungssoldaten fanden sie später in einem Feld, auf der Ladefläche eines LKWs schaffte sie es ins Krankenhaus. Dort besuchten sie Mitarbeiter eines Behindertenverbands und baten sie, an einer Konferenz für Menschen mit Behinderungen in Simbabwes Hauptstadt Harare teilzunehmen. Orech war geeignet, weil sie Englisch spricht. Das Landminenverbot war erst im Vorjahr unterzeichnet worden. So begann für sie zwei Monate nach dem Unglück ein neuer Lebensabschnitt: ein Leben als Aktivistin. Die Kampagne gegen Landminen, eine NGO in Genf mit drei Mitarbeitern, ausgezeichnet 1997 mit dem Friedensnobelpreis, ernannte sie 2006 zu einer ihrer vier Botschafterinnen.

Eine der Forderungen der Kampagne lautet: "Finish the job", erledigt die Aufgabe. Zwar ist der Einsatz von Minen heute international geächtet, abgeschafft sind sie aber nicht. China, Russland, die USA, Indien und Pakistan horten riesige Minenvorräte. Einzelne Länder wie Myanmar produzieren nach wie vor Minen, die Armee setzt sie sogar ein. Minen finden sich auch in Syrien, dem Jemen und in der Ukraine. Noch immer haben 33 Länder das Anti-Landminen-Abkommen nicht unterschrieben. Noch immer liegen in den Böden von fast 60 Ländern Landminen, die jederzeit Menschen töten oder verstümmeln können. Oft trifft es Zivilisten wie Margaret Orech.

"Die meisten Landminenopfer in Uganda sind Kleinbauern, die ihre Felder bestellen", sagt Orech. "Ohne Beine oder Arme geht das nicht mehr." Mit ihrer Hilfe organisieren sich Landminenüberlebende und Familienangehörige von Opfern in Städten wie Gulu, Lira, Kigum, Yumbe. Manchmal schaffen sie es, genug Spenden zu sammeln, damit Amputierte eine Ausbildung absolvieren können. Damit sie lernen, einen Computer zu bedienen oder Geflügel zu züchten, und somit keine Belastung mehr für ihre Familien sind.

Doch Orech wünscht sich mehr Unterstützung für ihre Arbeit. "Besonders frustrierend ist es, missverstanden zu werden." Das beginnt bereits mit dem Titel Botschafterin der Kampagne gegen Landminen. Botschafterin klingt nach einem hohen Amt, nach Einfluss und Geld. Besucht sie das ländliche Uganda, noch dazu mit weißen Journalisten, versammeln sich Amputierte um sie. Sie können sich weder eine Prothese leisten noch die Fahrt nach Gulu, wo die staatliche Orthopädiewerkstatt Prothesen kostenfrei anfertigt. Sie erwarten sich Hilfe. Aber Orech kann nichts Konkretes anbieten. Nur Ratschläge und Ideen. Ihr Titel ist symbolisch. Ihre Organisation, die Uganda Landmine Survivors Association, ist pleite.

Zehn Jahre arbeitete Orech ehrenamtlich, bevor sie das erste Mal unterstützt wurde. Die Kampagne gegen Landminen und die japanische Entwicklungshilfe finanzierten ihr ein Büro. Die NGO Mines Action Canada schickte Praktikanten nach Uganda. Doch seit mehr als zwei Jahren habe ihr Verein keine Förderung mehr erhalten, sagt Orech. Ihre derzeit vier Mitarbeiter arbeiten ehrenamtlich, weil sie von ihrer Aufgabe überzeugt sind und weil sie Erfahrungen sammeln wollen in einem Land, in dem Jobs rar sind. Doch müssen sie das Büro bald räumen, weil sich Orech die Miete nicht mehr leisten kann.

44 Länder hat Orech bis heute besucht, um auf das Schicksal von Minenopfern aufmerksam zu machen. Seit zwei Jahrzehnten, sagt sie, will sie nur eines: "Eine gefahrlosere Welt." Es hat sich viel getan. Konferenzen wurden veranstaltet, Gesetze unterzeichnet. Immer mehr Staaten haben Landminen verboten. Aber Gesetze müssen auch umgesetzt werden. Staaten sollen ihre Landminenopfer unterstützen, so sieht es das Anti-Landminen-Abkommen vor. Doch der Hilfeplan der ugandischen Regierung lief 2014 aus. Seitdem ist nichts passiert. "Es ist an der Zeit, dass die Regierung ihren Job macht", sagt Orech. Ein wenig Kampfgeist klingt noch durch. Solange es Leben gibt, gibt es Hoffnung, das ist ihre Überzeugung. 

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