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Sturm im Staat, den es nicht gibt
Gang der Verzweiflung. Madino Barkhadle Elmi schreitet über ihren vom Zyklon "Sagar" im Mai 2018 zerstörten Limonenhain.
© Klaus Petrus
Jahrelang wurde Somaliland von Dürren heimgesucht, dann fegte im Mai ein Zyklon übers Land – und warf die Frage auf, ob dieser Staat überhaupt überleben kann.
Von Andrea Jeska (Text) und Klaus Petrus (Fotos)
Die Tage im Hain sind süß und bitter. Süß, weil die Früchte reif sind und es eine gute Ernte werden wird, vielleicht die beste nach den Jahren der Dürre. Und bitter, weil Madino Barkhadle Elmi Angst hat um ihre Ernte – und im Schatten der Bäume wieder und wieder betet: "Allah, lass den Regen kommen. Aber nur so viel, wie es braucht, damit alles gedeiht. Keinen, der den Fluss erneut in ein reißendes Ungeheuer verwandelt."
Sieben Meter trennen die Limettenbäume der 60-jährigen Bäuerin von jenem Punkt, an dem die brodelnden Wassermassen sich beruhigten und müde im Sand versanken. In der Nacht auf den 20. Mai dieses Jahres verwüstete der Zyklon "Sagar" den Norden Somalilands und Teile der angrenzenden Regionen in Puntland und Dschibuti. Mit 100 Stundenkilometern kam er vom Indischen Ozean, zertrümmerte die Küstendörfer und raste dann über das Land. Mit Wind, sintflutartigem Eisregen und einer gewaltigen Wassermasse, die alles wegschwemmte. "Sagar" tötete mehr als 50 Menschen und Hunderttausende Tiere, Zehntausende Familien verloren ihr Land.
Somaliland liegt im Norden Somalias und im äußersten Osten Afrikas am Golf von Aden. Es ist etwa drei Mal so groß wie die Schweiz – und ein Land, das es eigentlich nicht gibt, jedenfalls nicht auf der Weltkarte der internationalen Anerkennung. Eine Karte, die sich nicht nach Realitäten, sondern nach politischen Interessen richtet. Staaten, die sich abspalten, haben es schwer im internationalen Bestreben, die Unverletzlichkeit von Grenzen zu erhalten und Sezessionswünschen keinen Vorschub zu leisten. Sie haben es auch dann schwer, wenn sie, wie Somaliland, bewiesen haben, auf dem eigenen Weg erfolgreich zu sein – demokratischer und friedlicher als der Staat, von dem sie sich lösten.
Gezeichnet vom Zyklon. Madino Barkhadle Elmi.
© Klaus Petrus
Neuer Staat nach dem Bürgerkrieg
Nach dem Ende der Kolonialherrschaft im Jahr 1960 schlossen sich Britisch-Somalia und Italienisch-Somalia zum heutigen Somalia zusammen, um die durch die Kolonialzeit zersplitterten Somalis in einem Staat zu vereinen. Doch die Allianz erwies sich als brüchig, weil der Norden sich vernachlässigt und marginalisiert fühlte. Als 1969 die Diktatur von Siad Barre begann, formierte sich im Norden eine Rebellenbewegung. Die Regierung in Mogadischu reagierte mit der Bombardierung nordsomalischer Städte. 50.000 Menschen wurden getötet, 800.000 vertrieben. 1991, nach einem erbitterten Bürgerkrieg und dem Sturz Barres, erklärte sich der Norden zum eigenen Staat in den Grenzen des einstigen Britisch-Somalias.
Seither kämpft das Land mit 3,5 Millionen Bewohnern darum, international anerkannt zu werden. Ganz ohne Hilfe von außen hat es die Regierung in der Hauptstadt in Hargeisa geschafft, die Clans, die die Struktur der Gesellschaft bestimmen, zu vereinigen, die Rebellen zu entwaffnen, ein Steuersystem, eine Verfassung und ein Zwei-Kammer-Parlament zu etablieren. In der einen Kammer sitzen gewählte Vertreter, in der anderen Vertreter der Clans. Die Wahlen verliefen stets fair. Ohnehin herrscht, ganz im Gegensatz zu Somalia, Frieden im Land. Die islamistische Terrororganisation Al-Shabab, die Somalia im Griff hat, hat es dank der Grenzkontrollen bislang nicht geschafft, hier Fuß zu fassen.
"Sagar", der erste Zyklon, an den man sich in Somaliland erinnern kann, traf ein Gebiet, das so schön wie arm ist, so tapfer wie verzweifelt. Eines, das sich nach vier Jahren anhaltender Trockenheit gerade wieder erholte. Von 2013 bis 2017 war so gut wie kein Regen gefallen, die Flüsse waren ausgetrocknet, das Gras und die Ernten verdorrt. Bereits damals waren unendlich viele Tiere umgekommen. Eine Katastrophe für die umherziehenden Hirten – und für die Staatskasse. Somaliland lebt von der Viehzucht und dem Export von drei Millionen Schafen, Ziegen, Rindern und Kamelen in die Länder der Arabischen Halbinsel. Die Steuern auf den Viehexport machen drei Viertel des Regierungsbudgets aus. Deshalb keimte auch neue Hoffnung auf, als Ende 2017 eine neue Regenzeit kam.
Der Fluss, der alles mitnahm, auch 300 der 400 Hektar Ackerland von Elmi, heißt Dibirowayn. Seit Menschengedenken war er ein ruhiger Fluss, in vielen Jahren hatte er nur wenig Wasser. Vor dem Zyklon war er etwa 60 Meter breit. Als er nach seinem Toben wieder zur Ruhe kam, hatte er auf einer Länge von siebzig Kilometern ein Wadi von 400 Metern Breite gegraben. Links und rechts davon stehen die Abbruchkanten bis zu zwölf Meter hoch. An deren Rand hängen die verschonten Bäume und Schollen wie Verzweifelte, die sich mit letzter Kraft festklammern.
Entwurzelt. Awdal im Westen Somalilands nach dem Zyklon "Sagar".
© Klaus Petrus
Was wächst, wird verkauft
Die Provinz Awdal liegt im Westen von Somaliland, es ist der Obst- und Gemüsegürtel des Landes. Was dort wächst, wird auf den Märkten der Hauptstadt Hargeisa verkauft: Papayas, Zitronen, Wassermelonen, Gurken, Tomaten, Paprika und Mangos. Elmi hat ihr Leben auf diesem Land verbracht. Seit sie geboren wurde, lebt sie in der Provinzhauptstadt Baki, einem Ort mit 21.000 Einwohnern, der sich in ein Tal zwischen Bergketten schmiegt. Sie ist eine kleine Frau mit zarten Gliedern und den großen Händen einer Bäuerin. 50 Jahre lang haben sie und ihre Familie von den Erträgen der Äcker und der Limettenbäume gelebt. Das Tal, die Berge, Äcker und Flüsse, Regenzeiten und Dürren sind die Elemente, aus denen sie das Bild ihrer Welt formt. Und aus dem Glauben an einen Gott, den man um Gnade bitten darf, selbst dann noch, wenn man keine irdische Hilfe erwarten kann.
Doch die Folgen von "Sagar" sind nicht das einzige Problem des Landes. Menschenrechtsorganisationen wie das Human Rights Center werfen der Regierung von Somaliland Unterdrückung der Meinungs- und Pressefreiheit vor, willkürliche Inhaftierungen, Missbrauch von Polizeigewalt, Anwendung der Todesstrafe und die Missachtung von Frauenrechten. Noch immer werden 95 Prozent aller Mädchen beschnitten, die Müttersterblichkeit ist zwar rückläufig, aber immer noch eine der höchsten Afrikas.
Und dann ist da noch das Clansystem, ein komplexes Geflecht aus Abstammung, Zugehörigkeit und Hierarchien. Nicht das Sein, sondern das Hineingeboren-Sein ist in Somaliland entscheidend für das Fortkommen. Wer durch das Land reist, spürt bald die Unzufriedenheit, denn alle Erfolge Somalilands können ein Problem nicht lösen: den Geldmangel der Regierung. Die Nichtanerkennung des Landes behindert ausländische Investitionen und den Zufluss von Hilfsgeldern. Was an Einnahmen nach Somaliland fließt, kommt, wenn nicht aus dem Viehhandel, aus der Diaspora: rund 800 Millionen US-Dollar pro Jahr. Es ist Geld, das zumeist in die zurückgebliebenen Familien, aber auch in den Staatshaushalt geht. Es ist das Geld, das in der Hauptstadt Hargeisa für einen Bauboom sorgte. Sogar in den Jahren, als das Land unter der Dürre ächzte. Und es ist das Geld, das nur jene verdienen können, die der höheren Bildungsschicht oder dem regierenden Clan angehören. Die verarmte Landbevölkerung hat meist niemanden, der ihr Zuwendungen schickt.
Nun, da sie Hilfe bräuchten, werden vor allem abseits der Städte die Zweifel an der Abspaltung von Somalia wieder laut. In den Restaurants von Baki, in den Büros der Provinzpolitiker, am Rande des abendlichen Fußballspiels wird oft über die Wiedervereinigung getuschelt – alle Somalis in einer Nation. Denn was nützt die Unabhängigkeit, wenn sie Somaliland isoliert und verarmen lässt, heißt es. Niemand von denen, die das sagen, will dafür mit seinem Namen geradestehen. Eine solche Forderung, flüstern sie, führe direkt ins Gefängnis.
Zusammengeflickt. Dürre und Zyklon haben den nomadischen Pastoralisten zugesetzt.
© Klaus Petrus
Warten auf Hilfsgelder
In Baki sitzt Bürgermeister Mohamed Ahmed Afeye vor seinem Schreibtisch und ringt nach Antworten, wenn man ihn nach denen fragt, die alles verloren haben. Auf seinem Schreibtisch liegt eine dicke Schicht Staub, von der Wand blickt ernst das schmale Gesicht des somaliländischen Präsidenten Muse Biji Abdi. Eilig holt Afeye eine Liste mit den Namen der Bauern, die nun ohne Acker und Ertrag dastehen, hebt hilflos die Hände und sagt: "Es gibt keine Pläne für eine Zukunft. Wir können nichts tun, außer auf Hilfsgelder zu warten."
Wer tagsüber durch die staubigen Straßen von Baki geht, sieht fast nur Frauen: am Brunnen, in den Gärten, vor den Häusern inmitten der Kinder. Die Männer sitzen indes viel versteckter – wie vielerorts am Horn von Afrika – im Schutz der Veranden und kauen Khat. Die narkotisierenden Blätter sind neben Dürre und Naturkatastrophen, fehlender politischer Anerkennung und ausbleibenden Investitionen ein weiteres, vielleicht sogar das entscheidende Hindernis auf Somalilands Weg. Das Khat ruiniert Familien, verschlingt Einkommen und macht aus jenen, die es kauen, dumpfe, blutäugige, faulzähnige Taugenichtse. Das Khat ist ein Fluch – auch wenn die Abhängigen sagen, seine Wirkung befreie von Hoffnungslosigkeit und Hunger.
Gegen das Khat ist Bürgermeister Afeye noch machtloser als gegen den Geldmangel seiner Regierung. Beides, sagt er, ginge ja Hand in Hand. Keine Arbeit, kein Ausweg, kein Ausweg, kein Verzicht auf die Droge. Aufklärung zum Thema Drogenmissbrauch sei zwecklos, nicht nur jetzt, in Zeiten der Not, sondern auch schon in den Jahren zuvor. "Jeder Politiker in diesem Land, der gegen Khat mobilisiert, verliert Wähler. Und keine Katastrophe wird die Leute dazu bringen, von der Droge zu lassen."
Bürgermeister ohne Macht. Mohamed Ahmed Afeye in seinem Büro in Baki.
© Klaus Petrus
Neuanfang mit wenig Hoffnung
Gleich nach "Sagar" hat die Regierung verkündet, den Viehzüchtern mit neuen Tieren zu helfen. Doch als das Ausmaß des Zyklons offenbar wurde, die Anzahl der betroffenen Familien auf mehr als 100.000 wuchs, wurde klar, dass sie sich das doch nicht leisten kann. Somalilands Staatshaushalt beträgt umgerechnet etwa 250 Millionen US-Dollar im Jahr. Für andere Regierungen ein Taschengeld. Es bräuchte immense Investitionen, den Bauern eine neue Zukunft zu verschaffen. Eine andere, als auf wenig fruchtbarem Land neu anzufangen oder in die Stadt zu ziehen, um dort sein Dasein als Tagelöhner zu fristen.
"Vor 'Sagar' gab es Hoffnung, wir könnten das Leben der Menschen zum Besseren wenden. Jetzt fangen wir wieder von vorne an", sagt der Programmkoordinator der Welthungerhilfe, Thomas Hoerz. Die deutsche Hilfsorganisation hat ihr Büro für die Region Awdal in der Stadt Borama – drei Autostunden oder zweihundert Kilometer Fahrt durch leeres, unbewohntes Land von Baki entfernt. Seit 2001 ist die Organisation in Somaliland tätig, leistet Nothilfe und langfristige Unterstützung oder gibt Tipps für die Anpassung an den Klimawandel. Sie hat die Bauern unterstützt, bessere Ernten zu erzielen, indem sie ein aufwendiges Bewässerungssystem aus Rohren gebaut hat, die das Wasser des einzigen Flusses der Region auf die Felder transportieren. Der Zyklon hat es wie Spielzeug zerbrochen und die Rohre umhergeworfen. "'Sagar' hat die gesamte Landschaftsstruktur verändert", sagt Hoerz. "Hunderte Brunnen sind versandet, man wird dort über Jahrhunderte nicht mehr anbauen können. Für die verschonten Farmen werden wir neue Brunnen bohren, die mit Solarpumpen betrieben werden. Und wir werden den Leuten Arbeitsmaßnahmen anbieten, mit denen sie ein wenig Geld verdienen können."
Gegen die großen Schäden kann er mit den wenigen Hilfsgeldern, die nach Somaliland fließen, nichts tun. "Wir können unsere Hilfe nicht nach einer Katastrophe richten", sagt Hoerz. "Wir müssen uns weiterhin auf die Probleme konzentrieren, die es sonst noch gibt. Die Auswirkungen des Klimawandels waren bislang abstrakt, 'Sagar' hat sie deutlich gemacht", erklärt er. Und: "Wir kämpfen auch mit Entwaldung, Erosion und weiteren Dürren. Diese werden sogar vielleicht noch mehr Menschen- und Tierleben kosten, als es der Zyklon getan hat."
Endlich Hilfe. Baki im Juni 2018.
© Klaus Petrus