Amnesty Journal Saudi-Arabien 22. September 2017

Fremde im eigenen Land

Zeichnung einer aufgeschlagenen Zeitschrift

Mehr als 20 Regimekritiker, Journalisten und Geistliche sind im September in Saudi-Arabien festgenommen worden. Kronprinz Mohammed Bin Salman will sie so zum Schweigen bringen.

Von Sebastian Sons

Nadschwa will nicht mehr auf ihren Papa warten. "Er hat nur einen Blog veröffentlicht. Das ist nicht verboten", sagt die 14-Jährige in einem von Amnesty International veröffentlichten Video. Und dennoch sitzt Nadschwas Vater Raif Badawi nun seit mehr als fünf Jahren in Saudi-Arabien im Gefängnis. Der Blogger wurde 2014 wegen "Abfall vom Islam" zu zehn Jahren Haft und 1.000 Peitschenhieben verurteilt. "Juden, Christen und Muslime sind in ihren Rechten gleich", hatte er geschrieben und das konservative religiöse Establishment des Königreichs kritisiert. Außerdem hatte er eine Initiative gestartet, die Frauen Englisch und Computerkenntnisse beibringen wollte. Offenbar zu ­liberal für Saudi-Arabien.

"Mein Mann hat nicht einmal die Religion an sich kritisiert, sondern vor allem das Verhalten der saudischen Religionspolizei", sagt Badawis Frau Ensaf al-Haidar, die schon vor Jahren mit ihren Kindern nach Kanada floh und seitdem auf das Schicksal ihres Mannes aufmerksam macht. "Im Grunde hat er nur gefordert, dass die Menschen in Saudi-Arabien ein normales Leben führen dürfen." Doch das reicht im Königreich aus, um bestraft zu werden. Der Fall Badawi, für den die Peitschenhiebe mittlerweile aus gesundheitlichen Gründen ausgesetzt wurden, ging um die Welt, auch wegen der Initiative seiner Frau. In Deutschland wurden Badawis Schriften unter dem Titel "1.000 Peitschenhiebe. Weil ich sage, was ich denke" veröffentlicht.

Raif Badawi, heute 33 Jahre alt, ist kein Einzelfall. Allein Anfang September wurden laut Amnesty mehr als 20 bekannte islamische Geistliche, Schriftsteller, Wissenschaftler, Journalisten und Aktivisten festgenommen. "Die neue Führung um Kronprinz Mohammed Bin Salman sendet damit eine abschreckende Botschaft: Meinungsfreiheit wird nicht geduldet", urteilt der Amnesty-Nahostexperte Samah Hadid. Noch nie in den vergangenen Jahren sei eine so große Zahl Prominenter in derart kurzer Zeit festgenommen worden.

Zu den Inhaftierten zählt Scheich Salman al-Awda, der mehr als 14 Millionen Follower in sozialen Netzwerken hat – und sich für Reformen sowie eine stärkere Beachtung von Menschenrechten in der Scharia-Gesetzgebung einsetzt. Der Schriftsteller Abdullah al-Maliki wurde ebenfalls festgenommen, auch er setzt sich für Reformen und Menschenrechte in dem Königreich ein.

Bis Ende September hatte die Justiz keine Anklagepunkte ­gegen die beiden genannt, auch bei 20 weiteren Inhaftierten ­waren die Gründe unklar. Allerdings teilte der Staatssicherheitsdienst mit, dass man gegen eine Gruppe vorgehe, die sich "zum Wohle ausländischer Parteien" zum Ziel gesetzt habe, "Aufruhr zu schüren und die nationale Einheit zu beeinträchtigen".

Tausende politische Aktivisten sind derzeit in Saudi-Arabien im Gefängnis. Trotz Kritik aus der ganzen Welt spüren Oppositionelle und Menschenrechtsaktivisten, Angehörige der schiitischen Minderheit und Arbeitsmigranten die Härte des saudischen ­Regimes. Es duldet keine Kritik an den Mitgliedern des Königshauses, an den Religionsgelehrten und am Islam. Wer diese roten Linien überschreitet, dem drohen Haft, Auspeitschungen oder die Todesstrafe. 2016 wurden nach Informationen von Amnesty in Saudi-Arabien 154 Menschen hingerichtet, 2015 waren es sogar 158.

Das Königshaus begründet seine Unbarmherzigkeit mit dem Kampf gegen den dschihadistischen Terror, in dessen Fadenkreuz Saudi-Arabien geraten ist. Seit 2014 verübt der Islamische Staat regelmäßig Anschläge – zunächst auf schiitische Moscheen in der Ostprovinz, zuletzt auch in Riad, Dschidda und Medina. Es vergeht fast kein Tag, an dem in saudischen Medien nicht über vereitelte oder verübte Anschläge oder ausgehobene Terrorzellen berichtet wird.

Der Dschihadismus ist derzeit ohne Frage die gefährlichste Bedrohung für das Land. Das weiß die Regierung um König Salman und nutzt den Kampf gegen den Terror, um unliebsame Kritiker auszuschalten. Auch für das Image in der westlichen Welt ist das harsche Vorgehen gegen Extremisten hilfreich. Als "verlässlichen Partner" lobt selbst die deutsche Regierung Saudi-Arabien.
 

Schiitische Demonstranten auf einer Straße in Qatif, März 2011

Mutig. Schiitische Demonstranten in Qatif, März 2011.

Zu Beginn der arabischen Aufstände 2011 bewunderten viele saudische Frauen und Männer den Mut der Demonstrierenden in Ägypten und Tunesien, für Freiheit und Gerechtigkeit auf die Straße zu gehen. In unzähligen Tweets und Facebook-Posts bekundeten vor allem junge Saudis ihre Solidarität und hofften auf ähnliche Veränderungen im eigenen Land. Aktivistinnen stellten Videos ins Netz, die sie beim Autofahren zeigten. Dabei ist das für Frauen offiziell noch immer verboten. Gleichzeitig kritisierten sie die Bevormundung durch den Mann und die ­Geschlechtertrennung.

Sie hielten damals die Zeit für reif, auf ihre Hoffnungen aufmerksam zu machen. Doch das Regime um den 2015 verstorbenen König Abdullah reagierte knallhart: Je stärker das politische System kritisiert wurde, desto unversöhnlicher handelten die Behörden. Nicht alle Blogger und Aktivisten wurden inhaftiert. Oft reichte es schon, sie bei ihren Familien zu diskreditieren. In einer Gesellschaft, in der der Rückhalt der Familie über die persönliche Zukunft entscheidet, kann das katastrophale Konsequenzen haben. Und so folgten damals einem Aufruf im Internet zum "Tag des Zorns" nicht wie in Kairo oder Tunis Zehntausende, sondern nur ein einziger Demonstrant, der sich einer ­Armada von Sicherheitskräften gegenübersah. Der saudische Frühling war zu Ende, bevor er wirklich begonnen hatte.

Inzwischen agiert das Regime noch unnachgiebiger gegen­über sogenannten Feinden der inneren Ordnung. Darunter leiden vor allem die Angehörigen der schiitischen Minderheit im Land, etwa zehn bis 15 Prozent der mehr als 31 Millionen Einwohner, die vor allem in der ölreichen Ostprovinz leben. Die saudische Islamauslegung des Wahhabismus verunglimpft sie als Ungläubige.

Die konsequente berufliche und politische Ausgrenzung der Schiiten dient dem Regime auch dazu, sich die Loyalität der wahhabitischen Religionsgelehrten zu sichern. Der konfessionell grundierte Konflikt mit Iran trägt ebenfalls dazu bei, sie zu Fremden im eigenen Land zu machen. Den saudischen Schiiten wird unterstellt, Agenten des schiitischen Rivalen um Hegemonie in der Region zu sein, die das sunnitisch-wahhabitische Königshaus stürzen und den Einfluss Irans ausweiten wollen.

Doch dieser Vorwurf ist übertrieben: Viele schiitische Aktivisten fordern lediglich mehr Integration in den Staat, mehr Freiheiten und mehr berufliche Perspektiven. Sie grenzen sich sogar dezidiert vom Iran ab, der ihnen fremd ist. Seit 2011 kam es in der Ostprovinz immer wieder zu schiitischen Protesten, die in gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Demonstrierenden und Sicherheitskräften endeten. Insbesondere die Predigten des prominenten Schiitenklerikers Nimr al-Nimr heizten die Atmosphäre an. 2014 wurde er unter anderem wegen Volksverhetzung und Anstiftung zum Aufruhr zum Tode verurteilt. Das Urteil wurde im Januar 2016 vollstreckt – nicht zuletzt, um wahhabitische Prediger zu besänftigen, denen das harte Vorgehen gegen sunnitische Dschihadisten zu weit geht. Von den insgesamt 47 am selben Tag wie al-Nimr Hingerichteten waren 43 Sunniten.

Doch die Exekution des schiitischen Anführers ließ die Situation ­eskalieren: In Teheran stürmten iranische Demonstrierende die saudische Botschaft; in der Ostprovinz schürte sie den Hass auf das Regime weiter. Rund um al-Awamiyah, der Heimatstadt al-Nimrs, kommt es regelmäßig zu Razzien saudischer Polizisten, die willkürlich Häuser durchsuchen und Verhaftungen vornehmen. Aktivisten behaupten, dass sogar Anschläge auf Kontrollposten inszeniert worden seien, um das harte Vorgehen gegen die schiitische Bevölkerung besser ­legitimieren zu können.

Auch die Situation der etwa acht Millionen Arbeitsmigranten aus Indien, Pakistan und Bangladesch ist miserabel. Erst seit den Berichten über Missstände auf den Baustellen für die Stadien der Fußballweltmeisterschaft 2022 in Katar ist das Leiden der Lohnsklaven am Golf auch im Westen bekannt. Dabei leben asiatische Arbeiter bereits seit dem wirtschaftlichen Aufschwung der 1970er Jahre auf der Kehrseite der saudischen Erfolgsstory. Sie leiden unter dem Kafala-System, das sie abhängig von ihren Arbeitgebern macht. Diese behalten deren Reisepässe ein oder lassen Hausangestellte teilweise bis zu 16 Stunden an sieben Tagen der Woche für sie arbeiten. Fast täglich ­erscheinen Berichte über Misshandlungen, Schlafentzug und Vergewaltigungen.

Neben all diesen Missständen vollzieht sich im Land ein sozialer Wandel, der an Dynamik kaum zu überbieten ist: 70 Prozent der Menschen sind unter 30 Jahre alt. Das macht Saudi-Arabien zu einem sehr jungen Staat, in dem zuletzt die Lust am Diskutieren deutlich zugenommen hat. Über Mängel im Bildungssystem, über Korruption, Drogenmissbrauch oder Frauenrechte wird vor allem online kontrovers diskutiert. Hunderttausende junge saudische Frauen und Männer kehren mit hohen Erwartungen von ihren Studienaufenthalten im Ausland zurück. Viele wollen ihr Land verändern – wirtschaftlich, politisch und kulturell. Sie sind Teil der globalisierten Welt und wollen die verkrusteten Strukturen aufbrechen. Zugleich dient das Chaos in Syrien oder Ägypten auch als warnendes Beispiel: Evolution statt Revolution gilt ­deshalb vielen als Weg – schrittweise Reformen, keine Radikal­lösungen.

Frau mit Niqab am Steuer eines Autos, Riad, März 2014

Frauenprotest. Auf der Stadtautobahn von Riad, März 2014.

Das haben die Entscheidungsträger im saudischen Königshaus verstanden. Deshalb versuchen sie, sich als Reformer und Partner auch der jungen Bevölkerung zu präsentieren. Wichtigs­te Figur dabei ist der 31-jährige Königssohn Mohammed bin Salman, der im Juni zum Kronprinzen ernannt wurde, und den alle nur MbS nennen. MbS ist zum Inbegriff des saudischen Wandels geworden, weil er selbst die Missstände in der saudischen Gesellschaft anspricht. Als designierter Nachfolger seines 81 Jahre alten Vaters könnte er vielleicht schon bald als König das Land prägen.

Mohammed ist Architekt der sogenannten Vision 2030: ­Dieses Reformprogramm soll die Wirtschaft diversifizieren und das Land von Öleinkünften unabhängig machen. Dafür soll die Jugendarbeitslosigkeit von derzeit 30 Prozent massiv gesenkt werden, vor allem durch die Schaffung von Jobs für Frauen, die Stärkung der Privatwirtschaft sowie eine Ausweitung des Tourismus. Selbst über frühere Tabus wie die Eröffnung von Kinos wird nun gesprochen. Ein Komitee für Unterhaltung, von den Saudis "Glücksministerium" genannt, soll sogar US-Filmstars wie Robert de Niro einfliegen.

Kronprinz Mohammed gilt zwar als Aushängeschild des Wandels, gleichzeitig betreibt er aber eine nationalistische Außenpolitik der Konfrontation, die den Konflikt mit dem Iran schürt und dadurch die Region weiter destabilisiert. Als Verteidigungsminister ist er verantwortlich für die katastrophale humanitäre Lage im südlichen Nachbarland Jemen, die sich durch die Angriffe der von Saudi-Arabien geführten Militärallianz seit März 2015 dramatisch verschärft hat.

Zunächst beschränkt sich der Wandel daher weitgehend auf wirtschaftliche Reformen. Politische Veränderungen hingegen wie die Abschaffung der Todesstrafe oder die Erweiterung der Pressefreiheit werden in der von Muhammad bin Salman verantworteten Vision 2030 mit keinem Wort erwähnt. Stattdessen will das Königshaus Reformtempo und -umfang kontrollieren. Das gilt vor allem für die Frage der Frauenrechte: Immer mehr weibliche Führungskräfte drängen an die Spitze der Wirtschaft. So wurde zum ersten Mal eine Frau Chefin der Börse, für kurze Zeit leitete eine saudische Prinzessin die arabische Ausgabe der Modezeitschrift Vogue.

Auch auf internationalem Parkett sind saudische Diplomaten deshalb aktiv, um sich als Beschützer von Menschen- und vor allem Frauenrechten zu präsentieren. Mit Erfolg: Im April 2017 wurde das Königreich in die UN-Kommission für Frauenrechte gewählt. Der Direktor von UN Watch, Hillel Neuer, kommentierte die umstrittene Wahl so: "Saudi-Arabien zu wählen, um Frauenrechte zu schützen, ist in etwa so, wie einen Brandstifter zum Feuerwehrchef der Stadt zu machen."

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