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Lesben und Schwule werden in Russland durch Gesetze und im Alltag diskriminiert. Der LGBT-Sportverband verschafft Sportlerinnen in diesem feindseligen Umfeld Freiräume.
Von Ronny Blaschke, Moskau
Der kleine Kunstrasenplatz am Stadtrand von Moskau wird von einem Zeltdach überspannt. Von außen kann man nicht hineinschauen, das ist Sorina besonders wichtig. Über ihrer schwarzen Trainingsjacke schlackert ein orangefarbenes Leibchen, ihre mittellangen Haare hat sie zu einem Zopf gebunden. Wenn sie mit einem kräftigen Schuss das Tor verfehlt, lächelt sie trotzdem. Sie klatscht sich mit ihren Gegnerinnen ab, sie machen Witze, umarmen sich. "Es geht uns nicht nur um das Gewinnen", sagt sie später. "Der Fußball ist für uns ein Schutzraum. Hier müssen wir keine Rolle spielen, hier geht es um uns."
Ihren Nachnamen möchte sie nicht nennen, denn Sorina ist lesbisch. Die 33-Jährige ist in Tomsk aufgewachsen, im westlichen Teil Sibiriens. Als sie elf war, nahm ihr Vater sie zum ersten Mal mit ins Stadion. "Wen sollen wir anfeuern?", fragte sie, und ihr Vater sagte: "Die Jungs in den weißen Trikots." Seitdem ist sie dem Fußball verfallen. Doch selbst zu kicken in der Machogesellschaft Russlands? Das traute sie sich lange nicht zu.
Als sie 14 war, las ihre Mutter ihr Tagebuch und fand heraus, dass sie eine lesbische Tochter hatte. Daraufhin verschlechterte sich ihr Verhältnis, und Sorina schottete sich immer weiter ab. Erst an der Universität stellte sie fest, dass es andere Studentinnen gab, die ebenfalls Frauen liebten. Sie wollten traditionelle Geschlechterbilder abstreifen und gründeten das Fußballteam "1604", nach dem Gründungsjahr ihrer Stadt.
Sorina schlägt vor, uns für ein Interview in einem kleinen Büro zu treffen, das in einem Hinterhof im Zentrum Moskaus liegt. Als es an der Tür klingelt, schreckt sie kurz hoch. Sie geht zur Gegensprechanlage, blickt auf den Bildschirm und ist erleichtert: keine Neonazis, keine wütenden Nachbarn, keine Behörden. Sie öffnet einem Bekannten die schwere Eisentür, als sei sie eine Sicherheitskraft in einer Bank. "Wir werden im russischen Fußball doppelt diskriminiert", sagt Sorina. "Weil wir Frauen sind und weil wir lesbisch sind."
Nach ihrem Architekturstudium in Tomsk zog Sorina nach Moskau, wo sie fast fast niemanden kannte. In den sozialen Medien stieß sie auf die Russian LGBT Sport Federation, einen schwul-lesbischen Sportverband mit 1.700 Mitgliedern. Wieder gründete sie ein Fußballteam. Die Spielerinnen genießen die Bewegung, das Gerangel vor dem Tor. Fußballspielen gibt ihnen Selbstvertrauen und ermöglicht es ihnen, auszubrechen, zumindest für ein paar Stunden. Sorina hat Spaß daran, andere zu motivieren, doch bringt das auch Gefahren mit sich.
Ab durch die Mitte. Der schwul-lesbische Sportverband bei den EuroGames 2015 in Stockholm.
© Russian LGBT Sport Federation
Denn zivilgesellschaftliche Organisationen stehen in Russland seit einigen Jahren stark unter Druck. Seit 2012 müssen sich Nichtregierungsorganisationen als "ausländische Agenten" registrieren lassen, wenn sie finanzielle Unterstützung aus dem Ausland erhalten und "politisch tätig" sind. Tausende Aktivisten gaben seither auf, gingen ins Ausland oder halten sich mit Kritik zurück. Die Russian LGBT Sport Federation ist nicht als "ausländischer Agent" registriert, denn Sport gilt in Russland als vergleichsweise unpolitisch. Gegenüber Behörden und Hallenvermietern stellt Sorina ihr Team als einen Kreis von alten Schulfreundinnen vor. Sie betont, dass es um Bewegung und Gesundheit gehe, unverdächtige Themen. Zweimal pro Woche nutzen sie die späten, weniger nachgefragten Abendstunden. Sie verlassen die Hallen in kleinen Gruppen, kommunizieren in geschlossenen Foren. "Und im Sommer warten wir, bis ein Platz frei wird."
Neben sportlichen Aktivitäten organisiert der LGBT-Verband immer wieder auch Partys, Leseabende und Festivals. So zum Beispiel 2013 die "Open Games" mit 300 Teilnehmern. Zu den prominenten Gästen zählten der US-Olympiasieger und Weltmeister im Wasserspringer Greg Louganis und die niederländische Sportministerin Edith Schippers. Beide verließen die "Open Games" vorzeitig. Minuten später ließ die Polizei die Halle räumen, angeblich wegen Terrorgefahr. Andere Sportstätten und Hotels zogen ihre Unterstützung zurück und begründeten dies mit Überbuchungen, Stromausfällen und Klempnerproblemen. In einer Halle zündeten Vermummte eine Rauchbombe. Seitdem bucht der Verband für größere Veranstaltungen einen Sicherheitsdienst.
Die Tätigkeiten des Verbands werden nicht nur durch das "Agentengesetz" massiv erschwert: Seit 2013 ist es in Russland verboten, gegenüber Minderjährigen positiv über Homosexualität zu sprechen. Der Schock, den dieses Gesetz auslöste, wirkt bis heute nach, auch bei Alexander Agapov, dem Präsidenten der Russian LGBT Sport Federation. An einem Sonntagnachmittag befestigt er im Goethe-Institut in Moskau eine Regenbogenflagge an der Bühne – an einem Sonntag, weil dann garantiert keine Sprachschüler vor Ort sind. Anschließend wird der Film "Wonderkid" gezeigt, der von einem schwulen Jugendkicker handelt. Alexander Agapov hatte jedem Publikumsgast die Anfahrtsbeschreibung persönlich geschickt. Es gab keine Plakate, keine Onlinewerbung. Die US-Botschaft in Moskau half beim Visa-Antrag für den englischen Regisseur Rhys Chapman, der als Ehrengast zur Filmvorführung kam.
Alexander Agapov ist ein nachdenklicher, wortgewandter Mann, mit Interessen weit über den Sport hinaus. Der 35-Jährige ist unter schwierigen Verhältnissen in einem Moskauer Vorort aufgewachsen. Er studierte Geschichte, war sich früh seiner schwulen Identität bewusst und führte das Leben eines Einzelgängers. Agapov wurde gemustert, bedroht, einmal sogar überfallen. Im Internet fand er die Russian LGBT Sport Federation. Drei Viertel der Mitglieder stammen aus Moskau und Sankt Petersburg, seit ihrer Gründung im Jahr 2011 hat der Verband siebzig Wettbewerbe organisiert. Im Vergleich zu Europa mag das wenig sein, doch Agapov erklärt: "In den kleinen Städten der Provinz gibt es keine Schwulenbars. Der Sport ermöglicht Begegnungen und hilft bei der persönlichen Emanzipation."
Nach dem Zerfall der Sowjetunion war die Hoffnung groß auf eine wachsende gesellschaftliche Teilhabe. "Russland hatte Anfang des Jahrtausends eine blühende Szene", erzählt Ekaterina Kochergina vom Lewada-Zentrum, dem letzten unabhängigen Meinungsforschungsinstitut in Russland. Schulen starteten Wettbewerbe, Studierende gründeten Bündnisse, es entstanden Tausende Vereine, Nachbarschaftshilfen, Umweltgruppen. Auch im Umfeld der Fußballvereine übernahmen Menschen Verantwortung.
Doch der Staat schränkte die Grundrechte zunehmend ein. Als die Olympischen Winterspiele 2014 nach Sotschi und die Fußball-WM 2018 nach Russland vergeben wurden, hofften viele Aktivisten auf einen Rückgang der Repressionen. Doch das Gegenteil war der Fall: Stattdessen gab es Netzsperren, Vorratsdatenspeicherung und Einschränkungen der Versammlungsfreiheit. 2014, 2015 und 2016 wurden jeweils etwa 1.000 Menschen wegen "staatsfeindlicher Aktionen" inhaftiert – 2017 waren es rund 4.000.
Die ablehnende Haltung der Bevölkerung gegenüber Homosexuellen hat nach Einschätzung von Ekaterina Kochergina verschiedene Ursachen. Finanzielle Sorgen werden mit Ablehnung kompensiert, die sich vor allem gegen Einwanderer aus Zentralasien, aber auch gegen Homosexuelle richtet, weil sie keine Kinder gebären können. Laut Prognosen könnte die Einwohnerzahl des Landes von 143 Millionen bis zum Jahr 2050 um zwanzig Millionen sinken. "Deshalb nimmt auch der Druck auf Frauen zu. Dabei ist die Geburtenrate bei uns nicht wesentlich geringer als in anderen Industrienationen", erklärt Kochergina. "Homophobie und Sexismus gehen oft einher." Nach Angaben des Lewada-Zentrums kennen nur zwölf Prozent der russischen Bevölkerung Schwule oder Lesben persönlich, 35 Prozent halten Homosexualität für eine Krankheit.
Die Fußball spielende Aktivistin Sorina möchte die WM zum Anlass nehmen für Workshops, Fanturniere oder eine Ausstellung zur LGBT-Sportbewegung. Frühere Weltmeisterschaften haben nicht nur Fans zusammengebracht, sondern auch Wissenschaftler, Sozialarbeiter, Fanbetreuer. Die Weltmeisterschaft in Deutschland 2006 strahlte damals auf alle Bereiche des Fußballs aus, auch auf die Frauenligen. Wie wird es in diesem Jahr sein? Die erste russische Liga der Frauen zählt gerade mal acht Teams, landesweit existieren nur rund 30 größere Frauenvereine. Eine landesweite Talentförderung wie in Deutschland, USA oder Schweden gibt es nicht. "Der Fußball spiegelt die gesellschaftliche Entwicklung wider", sagt Sorina. "Frauen gehören für viele in die Küche."
Alexander Agapov sieht in der WM eine Chance, auf vernachlässigte Themen aufmerksam zu machen. Er ist in diesen Monaten viel unterwegs, stellt seine Arbeit bei NGOs und Botschaften vor – ob in Düsseldorf oder Bratislava, Kopenhagen oder Berlin. Doch viele Organisationen sind vorsichtig geworden, sie wollen nicht in Russland als "ausländische Agenten" eingestuft werden. Manchmal wird erst seine dritte E-Mail beantwortet, manchmal erhält er keine Antwort. Manchmal lernt er jemanden kennen, der ihn weitervermitteln kann. Und manchmal wartet er einfach, bis sich ihm ein Mikrofon bietet.
So wie im März in Zürich im pompösen Hauptquartier des Weltfußballverbandes Fifa, als 250 Gäste eine Konferenz zu "Gleichberechtigung und Inklusion" verfolgten. Als die Moderatorin die Diskussion fürs Publikum öffnete, hob Alexander Agapov sofort die Hand. Er war nervös und fühlte sich unwohl, weil sein Kommentar nichts mit Entwicklungsprojekten in Afrika oder Asien zu tun hatte, nichts mit HIV-Prävention oder Landminen. Doch er wusste auch, dass es bei solchen Anlässen kaum Gelegenheiten zur Mitsprache gibt. Agapov erzählte den Gästen, dass er bei der Fifa und deren Sponsoren um Unterstützung gebeten, aber unbefriedigende Antworten erhalten habe. Und er kritisierte, dass ein WM-Quartier in Tschetschenien zugelassen wurde, obwohl in der Region Homosexuelle gefoltert und ermordet wurden. Nach dem Kommentar Agapovs herrschte Stille, auf dem Podium fühlte sich niemand angesprochen. Einige Konferenzteilnehmer wunderten sich auf Twitter und Facebook, warum LGBT-Rechte bei der Fifa nicht stärker zur Sprache kommen. In der Mittagspause kam Agapov mit Verbandsmitarbeitern ins Gespräch, die ihm Unterstützung zusicherten.
Alexander Agapov hat es nicht leicht, in Russland einen ordentlich bezahlten Job zu finden, sein Ehrenamt macht ihn zu einer öffentlichen Figur. Und der LGBT-Sportverband benötigt Geld für seine Veranstaltungen und um Sportler zu unterstützen, aber bis heute hat sich in der Zivilgesellschaft keine verlässliche Spendenkultur gebildet. "Die russische Gesellschaft ist individualisiert", sagt Alexander Agapov. "Viele Menschen haben finanzielle Probleme, sie kümmern sich um ihre Grundbedürfnisse." Irgendwann möchte die Russian LGBT Sport Federation eine eigene, kleine Geschäftsstelle haben, auch wenn sie vermutlich kein großes Namensschild über die Tür hängen kann.