Amnesty Journal 23. Februar 2024

Gemeinsam gegen den Hass

Menschen bei Nacht auf einer Straße, dicht gedrängt, sie protestieren, eine Frau mit Megaphon in der einen Hand und einem Schild in der anderen: "Stop War" steht darauf.

Eine Handvoll Initiativen setzt sich weiter für die Gleichberechtigung von jüdischen und palästinensischen Israelis ein – kritisch beäugt von der Mehrheitsgesellschaft, aber mit langem Atem.

Von Markus Bickel

Amnon Be’eri Sulitzeanu seufzt. "95 Prozent dessen, was ich zurzeit mache, hat mit der aktuellen Krise zu tun, sowohl persönlich als auch beruflich", sagt der Kovorsitzende der Abraham Initiatives, der ersten israelischen Nichtregierungsorganisation, die jüdisch-palästinensisches Zusammenleben ins Zentrum ihrer Arbeit rückte. Und das, obwohl der Krieg im Gazastreifen mit seinen humanitären und menschenrechtlichen Auswirkungen gar nicht in den Aufgabenbereich der NGO fällt: "Unsere Mission besteht darin, ein Übergreifen des Konflikts auf Israel selbst zu verhindern, etwa indem wir in gemischten jüdisch-arabischen Betrieben beratend zur Seite stehen", sagt Be’eri Sulitzeanu, der jüdische der beiden Vorsitzenden der Organisation. 

Furcht vor gewaltsamer Vertreibung

In vielen Firmen, in denen jüdische und palästinensische Israelis zusammenarbeiten, knirsche es gewaltig, das Misstrauen sei riesig – so wie schon im Mai 2021, als Ausschreitungen in binationalen Städten wie Haifa, Akkon, Jaffa und Lod das dünne Band des interkonfessionellen Zusammenlebens auf eine harte Probe stellten (Amnesty Journal 03/23). "Eskalation verhindern und Dialog ermuntern", auf diese Formel lasse sich die Arbeit der Abraham Initiatives herunterbrechen. Das sei leichter gesagt als getan: "Vor allem auf palästinensischer Seite herrscht eine beispiellose Stille vor, zum Teil aus Angst vor Arbeitsplatzverlust, zum Teil aus Sorge vor Schlimmerem", sagt Be’eri Sulitzeanu. 

Die kommt nicht von ungefähr. Immer wieder wecken Äußerungen von rechtsextremen Ministern der Regierung unter Ministerpräsident Benjamin Netanjahu Furcht vor einer gewaltsamen Vertreibung. Das erinnert fast zwangsläufig an die Geschichte der Nakba von 1948, als Hunderttausende Palästinenser*innn vor jüdischen Milizen aus ihren Häusern flohen oder vertrieben wurden. Allein auf die humanitäre Lage im Gazastreifen ­hinzuweisen, wo seit Oktober mehr als 28.000 Menschen getötet wurden (Stand: Mitte Februar), kann einen den Job kosten, so groß ist das Misstrauen. Zwei Millionen der 9,5 Millionen Israelis gehören der palästinensischen Minderheit an und viele von ihnen werden als Bürger zweiter Klasse behandelt.

Lehrer*innen brauchen in diesen Tagen sehr viel Rat und Führung, um ­dafür zu sorgen, dass Regeln des Zusammenlebens eingehalten werden.

Amnon
Be‘eri Sulitzeanu
Kovorsitzender der Abraham Initiatives

Aber nicht nur in Fabriken, Krankenhäusern und Büros, auch in Schulen ­machen sich überall im Land die Auswirkungen des Kriegs zwischen Hamas und israelischer Armee bemerkbar. Die Abraham Initiatives investieren deshalb bereits seit Jahrzehnten in die Ausbildung von Lehrerinnen und Lehrern, die jüdischen Kindern und Jugendlichen Arabisch beibringen. "Sie brauchen in diesen Tagen sehr viel Rat und Führung, um ­dafür zu sorgen, dass Regeln des Zusammenlebens eingehalten werden", so ­Amnon Be'eri Sulitzeanu.

Ganz aktuell jedoch stehe die in Lod, südlich von Tel Aviv, ansässige NGO dafür ein, "Leben zu retten". So habe man in der Negev-Wüste in Absprache mit der Armee Dutzende mobile Unterkünfte und Sirenenanlagen in Beduinendörfer geliefert. Deren Bewohner*innen hätten häufig wegen unvollständiger Papiere keinen Anspruch auf staatliche Unterstützung, erzählt Be'eri Sulitzeanu. Vom Raketenbeschuss aus dem Gazastreifen sind die sogenannten nicht anerkannten Gemeinden aber genauso betroffen. 

Wir bringen die zusammen, die einen anderen Weg gehen wollen. Die verstehen, dass man die Hamas nicht zerstören kann, ­indem man Gaza in Grund und Boden bombt.

Rula
Daood
Standing Together

Welche Traumata der Angriff der Hamas am 7. Oktober 2023 auf beiden Seiten offen­gelegt hat, bekommt Rula Daood Tag für Tag zu spüren. Gemeinsam mit dem jüdischen Aktivisten Alon-Lee Green steht die israelische Palästinenserin an der Spitze der Bewegung Standing Together, einem jüdisch-israelischen Zusammenschluss, der sich für Frieden einsetzt. "Wir bringen die zusammen, die einen anderen Weg gehen wollen. Die verstehen, dass man die Hamas nicht zerstören kann, ­indem man Gaza in Grund und Boden bombt", sagt die 38-Jährige. 

Allein das zu sagen, macht Menschen wie Daood nach den von der Hamas verübten Massakern mit mehr als 1.200 Toten zu einer isolierten Gruppe in einer Gesellschaft, die im Krieg vereint ist. "Für die israelische Rechte ist es schon Verrat, über Frieden nur laut zu sprechen", sagt Daood. 50 Jahre nach dem Jom Kippur-Krieg im Jahr 1973, der von einer ganzen Generation als Überlebenskampf wahrgenommen wurde, ist auch die Generation ’23 damit konfrontiert, selbst im eigenen Land vor Tod und Vernichtung nicht sicher zu sein. Mit massiver Aufrüstung und radikaler Abschottung für Sicherheit zu sorgen, hat sich als Illusion erwiesen.

Nur gemeinsam geht es

Diese Erkenntnis ist es zugleich, die Daood Hoffnung gibt. Standing Together genieße so viel Zulauf wie nie, die Zahl der Mitglieder habe sich seit dem 7. Oktober verdoppelt. Vor allem junge Palästinenserinnen und Palästinenser schlössen sich der Bewegung an, die 2016 gegründet wurde. Damals eskalierte die Gewalt innerhalb Israels, die linken Parteien Meretz und Avoda, die sich nach den Oslo-Abkommen Anfang der 1990er Jahre für eine Aussöhnung mit den Palästinen­ser*in­nen ausgesprochen hatten, verloren an Zuspruch. 

Was bleibt, sind kleine NGOs, die die Durchsetzung gleicher Bürger- und Menschenrechte zum Kern ihrer Arbeit gemacht haben: Neben den Abraham Initiatives sind das Gruppen wie Combatants for Peace, gegründet von früheren Soldat*innen der israelischen Armee und ehemaligen palästinensischen Kämpfern, oder Parents Circle – Families Forum, ein Zusammenschluss von Angehörigen der in dem Konflikt ums Leben gekommenen Israelis und Palästinenser*innen. Sie eint ihre Überzeugung, dass der Konflikt nur gemeinsam und auf der Grundlage gleicher Rechte für alle gelöst werden kann.

Auch Daood sieht zu einer israelisch-palästinensischen Partnerschaft keine Alternative. Das hätten schon die Demonstrationen nach dem Machtantritt der neuen Regierung 2023 gezeigt, auf denen Standing Together immer wieder darauf hingewiesen habe, dass die Besatzung des Westjordanlands einer langfristigen Lösung des Konflikts im Wege stehe. Dass sich der Konflikt nicht von heute auf ­morgen lösen lasse, sei ihr bewusst: "Als Graswurzelbewegung verstehen wir es als unsere Aufgabe, von unten zu wirken. Wir müssen den Menschen zeigen, dass es einen anderen Weg gibt als den, den Premierminister Netanjahu seit Jahren als den einzig möglichen vorgibt. Dass Frieden möglich und nötig ist."

Den Glauben daran hat auch Dahlia Scheindlin nicht verloren, die der Initative One Land for All angehört, die sich für eine Konföderation zwischen Westjordanland, Gazastreifen, Ostjerusalem und Israel ausspricht – auf der Grundlage gleicher Rechte für alle. Nur drei Tage nach dem Überfall der Hamas sei der Vorstand zu einer gemeinsamen Sitzung zusammengekommen – ein kleines Wunder angesichts der tiefen Traumata, die dadurch wieder aufgerissen worden seien. Eines ändere sich aber auch durch den jüngsten Konflikt nicht, sagt Scheindlin: "Niemand wird verschwinden, und Israelis und Palästinenser werden weiterhin in diesem Land leben – die Frage ist nur, wie."

Markus Bickel ist ein deutscher Journalist und Autor. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.

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