Amnesty Journal Iran 21. Februar 2024

Sichtbare und unsichtbare Ketten

Eine Zeichnung im Cartoon-Stil, das einen amerikanischen Nato-Soldaten zeigt, der einem Taliban mit Teufelshörnern und -schwanz ein als Geschenk verpacktes Mini-Afghanistan übergibt, hinter dem Taliban Explosionen und getötete Menschen in Blutlachen am Boden.

Politische Cartoons: Zeichnung der afghanischen Künstlerin Shira Badakshi (Februar 2023)

Shira Badakshi eckte mit politischen Cartoons in Afghanistan an. Daraufhin verbot ihr die Familie das Zeichnen. Jetzt lebt sie in Teheran, geht putzen – und zeichnet wieder.

Von Sabine Küper-Büsch

Vierzehn Jahre lang hat Shira Badakshi* (Name ist der Redaktion bekannt) keinen Stift mehr angefasst. Die erste neue Zeichnung der in Teheran lebenden Afghanin ist technisch meisterhaft und inhaltlich tieftraurig. Sie spiegelt eine Lebenssituation wider, die von Leid geprägt ist, ihre eigene. Eine junge Frau versucht zu fliegen und wird von einer Kette am Boden gehalten. "EU" und "falsche Versprechungen" steht auf der daran fixierten Eisenkugel. Todesstrafe im Iran, Deportationen aus Pakistan, eine unüberwindliche Grenze zur Türkei und ein Heimatland, in dem Frauen nicht mehr atmen dürfen, das thematisiert der Cartoon. "Ich habe zweimal versucht, in die Türkei zu fliehen und bin an der Grenze gescheitert. Mein Leben im Iran ist die Hölle, und nach Afghanistan kann ich nicht zurück", sagt Badakshi.

Zwei Tage und Nächte verhört

Im vergangenen Jahr war die 38-Jährige in Teheran zur Geheimpolizei bestellt worden. Sie hatte mit ihrer in den kurdischen Provinzen lebenden Familie telefoniert. "Die Geheimpolizei war wegen der Frauendemonstrationen nach dem Tod von Jina Mahsa Amini besonders aggressiv. Zwei meiner Cousins waren in Kurdistan von der Polizei angeschossen worden, einem gelang es zu fliehen. Von mir wollten sie seinen Aufenthaltsort wissen. Er sei Terrorist der Demokratischen Partei Kurdistans. Ich hatte keinerlei Informationen dazu." Shira Badakshi wurde zwei Tage und zwei Nächte lang verhört. Man drohte ihr, ihre Kinder umzubringen, zwang sie, sich nackt auszuziehen, schlug sie und trat ihr ins Gesicht. Im Anschluss musste sie sich zwei Zähne ziehen lassen und lebt seitdem in der Angst, erneut vorgeladen zu werden.

Die Afghanin lebt seit zwei Jahren mit ihren beiden Kindern in Teheran und verdient ihr Geld als illegal arbeitende Reinigungskraft, weil sie im Iran eigentlich nicht arbeiten darf. "Der Iran ist das Land mit den brutalsten Menschenrechtsverletzungen weltweit", sagt sie. "Die eigenen Bürger*innen werden ausgepeitscht, gefoltert, gehenkt und auf der Straße einfach erschossen. Afghanische Flüchtlinge sind momentan der Blitzableiter für alle." Shira Badakshi berichtet von täglich steigendem Alltagsrassismus. Sie arbeitet, wenn sie einen Job bekommt, mindestens zehn Stunden und wird oft unter falschen Anschuldigungen ohne Lohn nach Hause geschickt. "Eine Hausfrau beschuldigte mich, ich hätte den Pool nicht gründlich genug gesäubert." Seit dem Sommer 2023 hat sie Probleme, ihren Sohn (14) und ihre Tochter (13) in der Schule unterzubringen. Die Schulleitung nahm ihr eine Gebühr von 50 Euro pro Kind ab, dafür muss sie eine Woche putzen. Nach nur zwei Wochen kam der Sohn weinend nach Hause, Lehrer*innen und Mitschüler*innen hänselten ihn, als Afghane habe er im Klassenzimmer nichts zu suchen. "Für mich ist das unerträglich", sagt Badakshi. "Ich durfte selbst nicht zur Schule gehen und möchte meinen Kindern dieses Schicksal unbedingt ersparen."

Ich war ein emotionales und verträumtes kleines Mädchen. Alle meine Wünsche und Träume verschwanden über Nacht.

Shira
Badakshi
Zeichnung im Cartoon-Stil: Eine junge Frau mit einem Zeichenbrett in der Hand und offenem langen Haar  greift in den Himmel, wo eine Taube fliegt; die Frau trägt eine Fußfessel mit einer Kugel, auf der "EU- false promises" geschrieben steht. Um die Frau herum die Grenzen zur Türkei, zum Iran, zu Afghanistan und Pakistan. Erdogan, ein Mullah, ein Taliban und ein pakistanischer General posieren wie Grenzer und versperren den Weg in ihre Länder. Am Himmel fliegt ein gerupftes Huhn mit menschlichem Gesicht.

Selbstporträt: Zweimal scheiterte die 38-Jährige Künstlerin beim Versuch, den Iran Richtung Türkei zu verlassen.

Shira Badakshis Leben ist von Migration zwischen Afghanistan und dem Iran geprägt. Politische Verfolgung zwang bereits ihre Mutter ins Exil. Sie stammte aus einer kurdischen Familie, die bei den Peshmerga in den Bergen zum Irak Widerstand gegen die Mullahs und deren Repression leistete. Die damals 14-Jährige heiratete aus sozialer Not und bekam sieben Kinder. Ihre Tochter Shira war ein verträumtes kleines Mädchen, das früh anfing, auf Wände und Böden zu kritzeln. In der Grundschule zeichnete sie bereits Landschaften, ihre Mitschüler*innen und die Tiere der Nachbarschaft. Als die Taliban 1994 das erste Mal die Macht in Afghanistan übernahmen, war Shira neun Jahre alt, die Familie siedelte in den Iran über.

Erstes Einkommen als Cartoonistin

"Ich habe meine Kindheit bis zu meinem 14. Lebensjahr im Iran verbracht. Meine Familie war so arm, dass wir uns die meiste Zeit nicht einmal Mahlzeiten leisten konnten. Für etwas Geld gaben meine Eltern mich an eine afghanische Familie und zwangen mich, zu heiraten. Ich war damals 15 und durfte nicht mehr zur Schule gehen. Ich war ein emotionales und verträumtes kleines Mädchen. Alle meine Wünsche und Träume verschwanden über Nacht." 2002 zog die zwölfköpfige Familie von Shiras Mann nach Afghanistan zurück und nahm sie und ihre mittlerweile zwei Kinder mit. Sie beschreibt die Schwiegerfamilie als repressiv und bildungsfeindlich. "Ich war 17 und wollte so gern in Afghanistan zur Schule gehen, aber das wurde mir nicht erlaubt."

2008 gab es einen Wendepunkt in Shira Badakshis Leben. Die Familie war nach Kunduz gezogen, dort gab es ein von der deutschen GIZ (Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit) gefördertes Medienprojekt, das Kulturmagazin "Negin" (Juwel). Dort begann sie professionell zu zeichnen. Das Einkommen, das sie mit nach Hause brachte, überzeugte die Familie, sie Cartoonistin werden zu lassen. Die Zeitschrift setzte sich für Frauenrechte ein. Badakshi schrieb Berichte über Korruption und sexuelle Übergriffe in der Gemeinde, porträtierte weibliche Gefangene. Das gefiel dem Gouverneur von Kunduz nicht, der selbst in mehreren Beiträgen kritisiert und abgebildet worden war. Shira Badakshi wurden Prügel angedroht, sie durfte die weiblichen Häftlinge nicht mehr besuchen.

Verfolgt von den Taliban

Eines Nachts wurde das Gebäude der Zeitschrift von Unbekannten in Brand gesteckt, die finanzielle Unterstützung der GIZ wurde auch eingestellt, vermutlich wollte man keinen Ärger mit dem Gouverneur. Die Cartoonistin arbeitete noch eine Weile als Illustratorin für eine deutsche NGO, bebilderte Aufklärungspublikationen über sexuellen Missbrauch. Zu Hause malte sie auch Motive aus christ­lichen Darstellungen von Jesus, Maria und Engeln, die sie auch den Kindern der Nachbarn zeigte.

Die Eltern beschuldigten sie, für das Christentum zu missionieren. "Zuerst wurde ich von den Nachbarn und dem Imam der Moschee beschimpft, dann überfielen die Taliban nachts unser Haus. Das heißt: Sie drangen aus Versehen in das Haus der Nachbarn ein, die zum Glück nicht zu Hause waren." Am nächsten Tag zog die Familie in ein anderes Viertel und verbot Shira, jemals wieder einen Zeichenstift in die Hand zu nehmen und das Haus zu verlassen. "Bevor Afghanistan vollständig von den Taliban übernommen wurde, flohen wir 2021 aus Kundus in den Iran."

Versuche, in die Türkei zu reisen, scheiterten. Die türkische Grenzpolizei griff sie zweimal auf und schob sie zurück – ein von Amnesty International mehrfach kritisiertes "Pushback" von Flüchtlingen. "Ich bin viele Male zum Büro des Hohen Flüchtlingskommissars (UNHCR) in Teheran gegangen, aber sie sagten uns, wir sollten anrufen und gaben uns eine Nummer, die nicht existierte." Nach 14 Jahren Pause hat Shira Badakshi im Zuge eines internationalen Hilfsprogramms nun wieder angefangen zu zeichnen. Momentan arbeitet sie an Skizzen zu einer Graphic Novel über zwei historische Figuren: König Amanullah Khan und Königin Soraya von Afghanistan. Soraya war 1927 die erste Frau, die vom Times Magazine als "progressive Royale" zur Frau des Jahres erklärt wurde.

Sabine Küper-Büsch ist freie Journalistin. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.

Weitere Artikel