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Einen Schritt vor, zwei zurück
Sexismus gibt es nach wie vor überall. Dabei würden alle Menschen von mehr Gleichberechtigung profitieren – nicht nur in Deutschland, sondern auf der ganzen Welt.
Von Lea De Gregorio
Wer hat sie noch nicht gehört: Aussagen wie "Heute ist die Lage doch schon viel besser" oder "Heute sind Männer und Frauen doch so gut wie gleichberechtigt". Manche sagen es, wenn ihr Gegenüber bei sprachlichen Äußerungen gendert. Andere, wenn es um ungerechte Bezahlung geht. Menschen, die auf diese Weise diskutieren, haben meistens Frauen in Deutschland im Kopf. Und, wer hätte das gedacht, die Aussagen stammen meistens von Männern.
Und die haben gut reden, zumindest dann, wenn sie von den Ungerechtigkeiten nicht betroffen sind. "Wenn du die Existenz von diskriminierenden Gesellschaftsmechanismen infrage stellst, solltest du nun kurz innehalten und dich fragen, warum du die (Diskriminierungs-) Erfahrung anderer Menschen anzweifelst und was das eventuell über deine eigene Machtposition aussagt", schreiben die Autorinnen des Buches "Feminism is for everyone".
In ihren Augen zeigt sich bereits dann das Problem systematischer Unterdrückung, wenn Diskriminierte Sexismus beweisen müssen. Was mit dem Infragestellen von Diskriminierungserfahrungen beginnt, setzt sich auf allen Ebenen fort. Es ist eine Unterdrückung, die Frauen überall spüren: zu Hause, am Arbeitsplatz und am eigenen Körper.
Gewaltverbrechen nehmen zu
Dass sich die Lage für Frauen in einigen Aspekten verbessert hat, stimmt. Es gibt sie: die vielbeschworenen Erfolge. In Westdeutschland eröffnete das erste Frauenhaus 1976, in Indien 1980. In Deutschland verfügen heute 30 Prozent der Frauen zwischen 30 und 34 Jahren über einen Hochschulabschluss – und haben damit die Männer überholt. Hierzulande schaffte es eine Frau an die Spitze der politischen Macht. Und auch anderswo finden sich Frauen in führenden politischen Ämtern. So wird zum Beispiel Honduras seit diesem Jahr von einer Frau regiert. Und dennoch gibt es Sexismus und Geschlechterungerechtigkeit weiterhin – und zwar überall.
Weltweit werden Menschenrechte von Frauen verletzt – angefangen beim Recht auf körperliche Unversehrtheit. "An fast jedem dritten Tag wird in Deutschland eine Frau von ihrem Partner oder Ex-Partner getötet. Und alle 45 Minuten wird – statistisch gesehen – eine Frau Opfer von vollendeter und versuchter gefährlicher Körperverletzung durch Partnerschaftsgewalt", sagte die damalige Bundesfrauenministerin Franziska Giffey 2019 und bezog sich auf Zahlen des Bundeskriminalamts.
30 Prozent aller Frauen weltweit erleben nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) durch ihren Beziehungspartner physische oder sexualisierte Gewalt. Die Zahlen haben sich während der Corona-Pandemie noch erhöht. Dabei zeigt sich, dass sich die Lage von Frauen in manchen Aspekten verbessert, in anderen aber drastisch verschlechtert hat.
Wirtschaftliche und soziale Abhängigkeit
2020 verzeichnete das westafrikanische Liberia in der ersten Jahreshälfte einen Anstieg geschlechtsspezifischer Gewalt um 50 Prozent. In Nigeria rief die Regierung aufgrund der steigenden Vergewaltigungszahlen während der Corona-Pandemie einen Notstand aus. Auch in Deutschland nahm häusliche Gewalt in der Pandemie zu, was sich nicht zuletzt daran zeigt, dass Frauenhäuser überbelegt sind – wie etwa derzeit in Bremen.
Dass viele Frauen weltweit in gewaltsamen Beziehungen bleiben, liegt unter anderem auch daran, dass sie wirtschaftlich häufig von Männern abhängig sind. "Diese Frauen wissen, dass sie ohne den Partner wenig Überlebenschancen haben. Weil sie kein eigenes Einkommen haben, trennen sie sich auch weniger häufig", sagt Jessica Mosbahi von der Frauenrechts- und Hilfsorganisation Medica Mondiale. Sie erklärt, dass viele der Frauen, die von Gewalt betroffen sind, gleichzeitig existentielle Nöte haben und sich deshalb nicht aus gewaltsamen Partnerschaften befreien. Und schon sind wir beim nächsten Recht, das weltweit verletzt wird, wenn es um Frauen geht: das Recht auf faire Bezahlung. "Viele Frauen sind auch deshalb wirtschaftlich abhängig, weil viele im informellen Sektor arbeiten", sagt Mosbahi. "Das heißt in Arbeitssektoren, für die es keine klaren Regeln gibt und die auch schlechter bezahlt sind."
Ein großer Teil der Arbeit, die viele Frauen verrichten, wird gar nicht entlohnt. "Die Pflege von Angehörigen, die Sorge für die Kinder, die Hausarbeit, all das wird nicht bezahlt, sodass Frauen oftmals keine finanziellen Rücklagen bilden können", sagt Mosbahi. Dreiviertel der sogenannten Care-Arbeit, also der Pflege- und Sorgearbeit, werde von Frauen geleistet. Dass Frauen weltweit häufiger zu Hause bleiben und stattdessen ihr Partner Geld verdient, liegt nicht immer an individuellen Entscheidungen, sondern auch am sogenannten Gender-Pay-Gap. In Europa verdienen Frauen im Schnitt rund 14 Prozent weniger als Männer, in Deutschland sind es 18 Prozent. Diese Ungleichheit setzt sich im Alter fort. Frauen sind am Ende ihres Berufslebens stärker von Altersarmut betroffen: Sie erhalten in Deutschland durchschnittlich 46 Prozent weniger Rente.
Aber es sind nicht allein wirtschaftliche Aspekte, die dafür sorgen, dass viele Frauen in Abhängigkeiten verharren. "Hinzu kommt die Problematik, dass Frauen in vielen Ländern nur sehr schwer alleine leben können, weil das schlichtweg nicht dem patriarchalen Bild entspricht", sagt Mosbahi. Wollen Frauen sich scheiden lassen, geraten sie in einigen Ländern bis heute noch an den gesellschaftlichen Rand. "Selbst wenn Scheidungen erlaubt sind, wird in vielen Ländern das Recht oft nicht ausgeübt, weil geschiedene Frauen mit einem Makel versehen und diskriminiert werden", sagt Mosbahi.
Nicht nur auf gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Ebene werden Frauen diskriminiert. Auch in der Politik ist das so. Das mag vielleicht auch daran liegen, dass Entscheider_innenpositionen viel häufiger mit Männern besetzt werden. Das ungleiche Machtverhältnis der Geschlechter zeigt sich in einer Zahl sehr konkret: Laut Interparlamentarischer Union (IPU) sind nur knapp 26 Prozent aller Parlamentsabgeordneten weltweit Frauen. Und anstatt Frauen zu schützen, sorgen politisch Verantwortliche sogar dafür, dass ihre Lage noch schwieriger wird. So verschärfte der US-Bundesstaat Texas 2021 sein Abtreibungsgesetz und verbot Schwangerschaftsabbrüche bereits ab der 6. Woche, selbst in Fällen von Vergewaltigung. In Mexiko werden 90 Prozent der Gewaltverbrechen an Frauen schlichtweg nicht aufgeklärt, was dafür sorgt, dass diese weiter zunehmen.
Staaten in die Pflicht nehmen
Dabei können Staaten einiges tun, um Frauen stärker vor Menschenrechtsverletzungen zu schützen. Die Anfänge sind gelegt. 1979 wurde die UN-Frauenrechtskonvention (CEDAW) verabschiedet. "Sie verpflichtet die Vertragsstaaten, auf allen Ebenen Diskriminierung von Frauen zu bekämpfen und ihre Gleichstellung zu verwirklichen", sagt Gunda Opfer von der Amnesty-Gruppe Frauenrechte. Viele Vertragsstaaten hätten jedoch Vorbehalte gegen wichtige Artikel formuliert und seien von der Umsetzung des Übereinkommens weit entfernt.
Auf europäischer Ebene soll die sogenannte Istanbul-Konvention, die Konvention zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt, Frauen schützen. Gunda Opfer bezeichnet auch dieses Übereinkommen als "wichtiges Signal". Von den 47 Mitgliedstaaten des Europarats sind derzeit 34 Vertragsstaaten der Konvention. Opfer moniert jedoch, dass elf Staaten sie unterzeichnet, bisher aber nicht ratifiziert haben – und die Türkei im Juli 2021 wieder ausgetreten ist. Die neue Bundesregierung hat angekündigt, Frauenrechte stärker in den Fokus zu rücken. Außenministerin Annalena Baerbock will sich für eine feministische Außenpolitik starkmachen, was Amnesty und andere Organisationen schon lange fordern. Doch was genau ist "feministische Außenpolitik"? Um zu verstehen, was sich hinter dem Begriff verbirgt, hilft zunächst eine Feminismus-Definition der Publizistin Margarete Stokowski: "Für mich bedeutet Feminismus, dass alle Menschen unabhängig von ihrem Geschlecht, ihrer Sexualität und ihrem Körper dieselben Rechte und Freiheiten haben sollen", schreibt die Autorin in ihrem vieldiskutierten Buch "Untenrum frei".
An der Stelle der gleichen Rechte und Freiheiten soll eine feministische Außenpolitik anknüpfen. "Diese Politik stellt menschliche Sicherheit in den Fokus von Entscheidungen statt staatliche Sicherheit. Sie schaut also zum Beispiel darauf, welche Auswirkungen politische Entscheidungen und internationale Konflikte auf Frauen, Mädchen und andere marginalisierte Gruppen haben – und darauf, wie Unterdrückungsmechanismen beendet werden können", sagt Alexia Knappmann, Stabstelle Politik im Generalsekretariat von Amnesty Deutschland. "Feministische Außenpolitik ist somit eine menschenrechtsgeleitete Außenpolitik. Sie beginnt aber beim Blick auf die Ursachen und den systemischen Kontext von Menschenrechtsverletzungen und hinterfragt so zum Beispiel den ungleichen Zugang zu Macht." Sie vertrete dabei einen intersektionalen Ansatz und schaue auch auf andere Diskriminierungsformen wie Rassismus – als Erbe des Kolonialismus.
Diskriminierung kennt viele Formen
Wenn die feministische Außenpolitik ihren Fokus auch auf "andere marginalisierte Gruppen" lenken will, heißt das, dass sie auch jene Menschen besonders schützen will, die nicht mit Uterus geboren wurden. Auch bei der Diskriminierung von transgeschlechtlichen Menschen geht es schließlich oftmals um Machterhalt. Um es mit den Worten der Autorin Emilia Roig zu sagen: "Homo- und Transfeindlichkeit sind Erzeugnisse des Patriarchats, denn queer, Trans, bi- und pansexuelle Menschen, schwule Männer und lesbische Frauen bedrohen die männliche Dominanz durch ihre bloße Existenz."
Auch was die Sichtbarkeit von LGBTI angeht, gibt es Fortschritte. In Deutschland sitzen seit 2021 erstmals zwei trans Frauen im Bundestag, und in den USA kam im selben Jahr erstmals eine trans Frau in ein hohes Regierungsamt – das der Vize-Gesundheitsministerin.
Menschen, die von Transfeindlichkeit unberührt bleiben, mögen jetzt wieder sagen: "Na also, da sind die Erfolge doch!" Aber was für die Rechte aller Frauen weltweit gilt, zeigt sich auch in diesem Bereich: Es gibt Rückschläge. Wenn die Auswirkungen des Machismos in manchen Aspekten überwunden scheinen, zeigt er sich an anderer Stelle umso drastischer. Nach Angaben des Bundesinnenministeriums wurden 2020 in Deutschland 782 homo- und transphob motivierte Straftaten registriert, darunter 154 Gewaltdelikte. Und das polnische Parlament stimmte 2021 für ein Anti-LGBTI-Gesetz, das Pride-Paraden und andere selbstbewusste Demonstrationen der Community verbieten soll.
Ein Feminismus, von dem alle etwas haben
Dabei würden letztlich alle von mehr Feminismus profitieren. "Feminismus kämpft für eine Utopie, die in unserer Vorstellung bedeutet: In der anzustrebenden feministischen Gesellschaft gibt es keine Diskriminierung, keine einengenden Zuschreibungen, keine Ausbeutung und keine Unterdrückung", schreibt das Autor*innenkollektiv FE.IN in seinem Buch "Frauen*rechte und Frauen*hass". "Schließlich würden alle weniger arbeiten, sich sicherer und wertgeschätzt fühlen und Ressourcen, Privilegien, Macht und Verantwortung wären gerecht untereinander aufgeteilt."
Bis all das eintritt, ist Ausdauer gefordert. "Wir kämpfen, weil wir wissen, dass wir, selbst wenn es gut läuft, immer im Training bleiben müssen", schreibt die Schriftstellerin Priya Basil in ihrem Buch "Im Wir und Jetzt. Feministin werden" über ihren täglichen Kampf als Feministin. Um Unterdrückung zu verhindern, müssen nicht nur politische Allianzen gebildet, sondern auch Einstellungen und Machtpositionen im Privaten hinterfragt werden. Und dabei ist jede und jeder gefragt. Damit es am Ende zutrifft, wenn es heißt, dass die Lage heute schon besser ist – und das für alle Frauen gilt, auf der ganzen Welt.
Lea De Gregorio ist Redakteurin beim Amnesty Journal. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.