Amnesty Journal Deutschland 21. April 2025

Kolonialismus: Das (un)sichtbare Erbe

Eine stillgelegte Zeche in Dortmund, rechts und links eines großen Backsteinbaus ragen Fördertürme in die Höhe, ringsum begrünt, Parkbänke.

"Schloss der Arbeit" wurde die 1902 eröffnete Zeche Zollern einst genannt (Dortmund, Deutschland).

Die Ausstellung "Das ist kolonial." in Dortmund zeigt den Kolonialismus und dessen Kontinuitäten aus einer naheliegenden Perspektive: Sie blickt vor die eigene Tür.

Von Cornelia Wegerhoff

Wie riesige Zwillinge aus Stahl stehen sich die beiden Fördergerüste gegenüber: 35 Meter hoch, grün gestrichen. Dagegen erinnert das symmetrisch an­geordnete Verwaltungsgebäude an eine Schlossanlage. Die roten Backsteinfassaden überraschen mit neugotischen Staffelgiebeln und Zinnen, die Maschinen­halle ziert ein buntverglastes Jugendstilportal. "Schloss der Arbeit" wird die 1902 eröffnete Zeche Zollern in Dortmund genannt. Unter Tage malochten die Berg­leute genauso hart wie überall in der Region. 1966 war Schicht im Schacht. Heute ist das ehemalige Steinkohlebergwerk eine Ikone der Industriekultur und ein Museum des Landschaftsverbands Westfalen-Lippe (LWL).

"Wir zeigen aus der Tradition heraus Geschichte von unten", sagt die stellvertretende Museumsleiterin Jana Golombek. Die Besucher*innen erfahren etwas vom Arbeitsalltag im Bergbau, von Grubenunglücken, von der Zwangsarbeit in den Kriegsjahren. Die aktuelle Sonderausstellung heißt: "Das ist kolonial. Westfalens (un)sichtbares Erbe", denn Kohle war auch ein Treibstoff europäischer Expansion. Industrialisierung und Kolonialismus gingen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Hand in Hand, erklärt Jana Golombek. Das LWL-Museum Zeche Zollern wolle die regionalen Spuren des kolonialen Erbes erkennbar machen und auch im Umgang mit heutigem Rassismus "klare Haltung" zeigen. 

Rechter Shitstorm

2023 fand im Museum eine Ausstellungswerkstatt statt, berichtet Jana Golombek. Ziel sei gewesen, "unterschiedliche Perspektiven von BIPoC zu gewinnen, die bisher in der musealen Auseinandersetzung mit der Regionalgeschichte unterrepräsentiert sind". Die Abkürzung BIPoC steht für "Black People, Indigenous People and People of Colour". Man habe Co-Kura­tor*innen aus den Communitys gewonnen, die unterschiedliche Perspektiven einbrachten. Ein museales Experimentierfeld sei entstanden: ein ­Arbeits- und Lernort, ein Begegnungs- und Ausstellungsraum, Installationen, Comics, ein Buch- und ein Filmprojekt, ein Instagram-Kanal. Gemeinsam mit den "Critical Minds", einem eigens gebildeten Beratungsgremium, wurde auch über Voraussetzungen für eine gute Zusammenarbeit diskutiert. Das Ergebnis war die Einrichtung eines geschützten Raums für BIPoC: Jeden Samstag gab es von 10 bis 14 Uhr ein eigenes Zeitfenster für Museumsbesuche für Menschen, die persönlich von Rassismus betroffen sind.  

Doch nach sechs Monaten sorgte die Ausstellungswerkstatt in Dortmund deutschlandweit für Aufsehen. "Ein massiver rechter Shitstorm" erschütterte das Museum, berichtet Jana Golombek. Nachdem Mitglieder der AfD heimlich im Museum gefilmt und das Video auf TikTok geteilt hätten, stand die Aussage im Raum, das Museum betreibe "Rassismus gegen Weiße". Boykottaufrufe folgten, mehr als 2.000 Hass-Mails gingen ein. Museumsmitarbeiter*innen wurden beschimpft, Polizei und Staatsschutz wurden alarmiert. Eine von rechtspopulistischer Seite angekündigte Demonstration blieb aus. Dafür stärkte eine Welle der Solidarität von Institutionen und Bürger*innen das Team. Der Safer Space bestand bis zum Ende der Ausstellungswerkstatt. Im Juni 2024 begann dann die Sonderausstellung "Das ist kolonial.". 

Eine Ausstellung, Stellwände, darauf verschiedene Gesichter und die Schritzüge "Das ist kolonial" und "Was hat Kolonialismus mit uns zu tun?"

"Was hat Kolonialismus mit uns zu tun?" – aus einer Sounddusche im Ausstellungsraum sprudeln erste Antworten (Zeche Zollern, Dortmund, Deutschland).

Eine Schiebetür öffnet sich. In der ehemaligen Werkstatthalle führen leuchtende Stelen in die Gegenwart. Sie zeigen Porträts von neun Menschen, die in Westfalen und Umgebung leben, und sich fragen: "Was hat Kolonialismus mit uns zu tun?" Aus einer Sounddusche sprudeln erste Antworten. "Es gibt Sachen, die, auch wenn sie vor 400 Jahren passiert sind, bis heute Einfluss auf uns haben", sagt eine Frauenstimme. Eine andere stellt fest: "Ich habe nicht das Privileg, mir auszusuchen, mich damit zu beschäftigen, sondern Rassismus und Kolonialismus wurden schon auf meinen Körper gelegt, bevor ich überhaupt sprechen konnte." 

Völkerschauen im Ruhrgebiet

Anhand von mehr als 250 Exponaten, zahlreichen Geschichten und mehr als 40 Biografien zeigt die historische Aufarbeitung: Nicht nur in Städten wie Hamburg oder Berlin, sondern auch in Westfalen war der Kolonialismus allgegenwärtig. Aus Dortmund und Umgebung zogen Missionare und Soldaten in die deutschen Kolonien. Bauernfamilien aus Westfalen wurden Farmer*innen in Afrika, während die Kaufleute daheim mit Kaffee, Tee und Schokolade handelten. Selbst in Kleinstädten des Ruhrgebiets wurden sogenannte Völkerschauen organisiert. Besonders erschütternd ist das Schicksal von Fatuma: Das fünfjährige Mädchen wurde von einem Missionar aus Ostafrika nach Bielefeld-Bethel gebracht. Fatuma wurde christlich getauft und Elisabeth genannt. Sie musste Säuglinge pflegen und starb aus ungeklärter Ursache im Alter von neun Jahren. 

Deutschland und Kongo – beides ist in mir.
 

Zola
Wiegand M’Pembele

Sensible Inhalte werden in der Ausstellung nicht offen gezeigt. Symbole ­warnen vor rassistischen Darstellungen, Abdeckungen müssen bewusst angehoben werden, Folien auf den Vitrinen brechen die Blicke. "Wir wollen einerseits vor einem ungefilterten Anblick schützen, gleichzeitig aber auch zum Nachdenken anregen, warum bestimmte Objekte nicht (mehr) offen gezeigt werden", sagt Jana Golombek.

In den Texten zur Gelsenkirchener Bergwerks-AG, die die Zeche Zollern ab 1897 erbaute, wird offengelegt, dass Generaldirektor Emil Kirdorf ein überzeugter Verfechter kolonialer Ideen war, dass Mitglieder des Vorstands und Aufsichtsrats Minen- und Bahnunternehmen in den deutschen Kolonien finanzierten und Plantagen in der Südsee besaßen. 

Kein Handy ohne Kongo

"Ich heiße Zola. Und das ist kolonial." Mit diesen Worten stellt sich Co-Kuratorin Zola Wiegand M’Pembele zu Beginn einer Kinderführung vor. "Meine Mutter ist aus Deutschland, mein Vater aus dem Kongo, beides ist in mir", erklärt die Künstlerin und Aktivistin aus dem westfälischen Hamm. Das Gebiet der heutigen Demokratischen Republik Kongo war von 1885 bis 1908 Privatbesitz des belgischen Königs Leopold II. Auf einer Weltkarte können Jung und Alt im Zeitraffer verfolgen, wie europäische Kolonialherren ab dem 15. Jahrhundert bis zur Hochphase im 19. Jahrhundert rund um den Globus Territorien eroberten. Zola Wiegand M’Pembele fragt die Kinder: "Habt ihr ein Handy? Kein Handy ohne Kongo!" Denn in jedem Smartphone steckt Coltan, ein Erz, das im Kongo abgebaut wird. "Und hast Du schon einen Job?", lautet die nächste Frage an eine Zehnjährige in der Gruppe. Denn: "Im Kongo müssen Mädchen und Jungen in deinem Alter schon arbeiten, im Coltan-Abbau." So werden den Kindern koloniale Kontinuitäten klar. Eine Mutter gibt am Ende der Führung zu: "Ich wusste selbst vieles nicht." 

Familien und Schulklassen, die die Ausstellung ohne Führung besuchen, können sich an der Spinne Anansi orientieren, die einen kindgerechten Faden durch die Ausstellung zieht. Das Konzept wurde von Phyllis Quartey mitentwickelt. "Meine Eltern stammen aus Ghana, einem Land, das vor deren Geburt noch 'Goldküste' genannt wurde", erklärt die Co-Kuratorin, Aktivistin, Poetin und Bildungsreferentin. Ihre Großmutter übte Widerstand gegen die britischen Kolonialherren und verweigerte die englische Sprache, weil es in dem Land mehr als 50 eigene Sprachen gab. Was für weiße Ausstellungsbesucher*innen ein Lernort ist, ist für Phyllis Quartey auch "ein Ort des Erinnerns", ein "Friedhof", der sie wütend macht – über die Vergangenheit, aber auch über die Unwissenheit der "lieben weißen Mitmenschen", wie sie es bei einer Schreibwerkstatt 2023 formulierte.

Dass es bis heute viele koloniale Spuren in Westfalen gibt, erklären Terminals in der Ausstellung: Museen, die bis heute koloniales Raubgut "hüten", Denkmäler und Straßennamen, die immer noch koloniale Akteure ehren, obwohl sie etwa für Massenmorde verantwortlich waren. Doppeldeutig ist ein an der Wand hängender großer Besen. Die Borsten sind aus Piassava, einer unverwüstlichen Faser aus Palmen, die in Afrika und Südamerika wachsen.  In Westfalen wurden daraus die ersten "unkaputtbaren" Besen gefertigt. Praktisch, um vor der eigenen Haustür zu kehren.

Am Ende der Kinderführung berichten Zola Wiegand M’Pembele und Phyllis Quartey deshalb auch von Demonstrationen und der Widerstandsbewegung "Black Lives Matter". Ihr Appell: "Werdet unsere Verbündete. Setzt euch auch im Alltag ein: Für uns. Gegen Rassismus!"

Die Ausstellung "Das ist kolonial. Westfalens (un)sichtbares Erbe" ist noch bis zum 26. Oktober 2025 im LWL-Museum Zeche Zollern in Dortmund zu sehen. www.zeche-zollern.lwl.org, Instagram/TikTok: @dasistkolonial

Cornelia Wegerhoff ist freie Journalistin. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.

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