Amnesty Journal Deutschland 12. Juli 2024

Der Wahn vom Volkskörper

Demonstrierende stehen in Berlin auf einer Straße, sie tragen Mundnasenschutzmasken und Transparente, auf denen Frauen und Kinder abgebildet sind.

Konservative und rechte Organisationen mobilisieren in Deutschland gegen Geschlechtergerechtigkeit und Frauenrechte.

Von Patricia Hecht

Jährlich im September startet ein Kreuzzug in Berlin-Mitte. Noch vor wenigen Jahren trugen die stumm marschierenden Demonstrierenden weiße Holzkreuze vor sich her. Mittlerweile lassen sie rote und gelbe Luftballons flattern, halten hellgrüne Plakate und Transparente mit Fotos von lachenden Babys in die Höhe. "Marsch für das Leben" heißt die Veranstaltung, an der Tausende teilnehmen. Sie soll einen möglichst positiven Eindruck hinterlassen – und gegen Schwangerschaftsabbrüche mobil machen. Diese sind hierzulande seit rund 150 Jahren illegal, in Paragraf 218 des Strafgesetzbuchs geregelt und nur unter bestimmten Voraussetzungen möglich und straffrei.

Organisiert wird der "Marsch" vom Bundesverband Lebensrecht, der eine "biblisch-christliche" Positionierung für sich beansprucht. Seine Verbindungen zu konservativen und rechten Parteien und Organisationen sind jedoch eng. Der frühere Unionsfraktionschef Volker Kauder sandte Grußworte, der CDU-Bundestagsabgeordnete Hubert Hüppe stand schon am Rednerpult. Die den Unionsparteien nahestehenden "Christdemokraten für das Leben" organisieren Busfahrten zur Demonstration.

Auch AfD macht mobil

Auch die AfD macht mobil: Die "Christen in der AfD" rufen immer wieder zum "Marsch" auf, die Bundestags­abgeordnete Beatrix von Storch trug 2014 das Fronttransparent. Ein Jahr später führte sie den Marsch zusammen mit Martin Lohmann an, ehemals Vorsitzender des Bundesverbands Lebensrecht. Der wiederum publiziert regelmäßig in der rechtskonservativen Zeitung Junge Freiheit. 2018 forderte die rheinland-pfälzische AfD-Fraktion gar ein "Lebensschutzinformationsgesetz", um staatlicherseits über das "Lebensrecht Ungeborener" aufzuklären.

Der Begriff "Lebensschutz" ist ein ­antifeministisches Schlagwort. Es nimmt historisch Bezug auf den vermeintlich zu schützenden "organischen Volkskörper" und wird heute unter anderem von völkischen Gruppierungen genutzt, schreibt der Soziologe und Autor Andreas Kemper in dem im März erschienenen Diskursatlas "Antifeministische Narrative" des grünennahen Gunda-Werner-Instituts. Damit gehen weitere Begriffe einher: "Gender-Ideologie" greift Geschlechterforschung und Gleichstellungspolitik an. Das Schlagwort "Frühsexualisierung" wendet sich gegen Sexualaufklärung von Kindern. "Homo-Lobby" brandmarkt die Queer-Bewegung als Verschwörung. All diese Begriffe transportieren den Anti­feminismus im deutschsprachigen Raum, schreibt Kemper. 

Motiv für rechtsextreme Anschläge

Bis in die frühen 1970er Jahre ging es beim Antifeminismus schlicht um einen "Kampf gegen Feminismus, für die Vorherrschaft des Mannes in der Familie aus Mutter, Vater und Kind", sagt Kemper. "Heute tritt Antifeminismus als Opferideologie auf", das Opfer sei die wehrhafte Männlichkeit, Feminismus und Queer-Feminismus seien bedrohlich und müssten bekämpft werden.

"Für uns als Organisation ist der Begriff Antifeminismus noch recht neu", sagt Katharina Masoud, Expertin für ­Geschlechtergerechtigkeit bei Amnesty International. "Antifeministische Bewegungen richten sich gegen geschlechtliche Gleichstellung und Emanzipation." Frauen und LGBTI würden dabei von vornherein zu Menschen zweiter Klasse gemacht. Dies sei ein genereller Angriff auf Menschenrechte.

Tobias Ginsburg beschreibt die hiesige Szene antifeministischer Männerbündler in seinem Buch "Die letzten Männer des Westens", für das er under­cover etwa in Burschenschaften, unter ­Incels, die ihre fehlende Beziehung zu Frauen dem Feminismus anlasten, und in religiös-faschistischen Organisationen recherchierte. "Frauen werden abstrahiert, sie werden zur Verkörperung für den Verlust tatsächlicher oder vermeintlicher Privilegien", sagt der Autor. Manchmal werde daraus wahnhafter Frauenhass: "Je tiefer im rechten Milieu, desto klarer hat die Frau die Funktion als Brutkasten und Haussklavin." 

Die Angst davor, dass der westliche Mann ausstirbt, und der Hass gegen die Emanzipation von Frauen und LGBTI steckt in so ziemlich ­allen rechtsterroristischen Manifesten der vergangenen zehn Jahre.

Tobias
Ginsburg
Autor des Buches "Die letzten Männer des Westens"

Das zeige sich am deutlichsten in rechtsextremen Anschlägen wie in Utoya, Christchurch und Halle. "Die Angst davor, dass der westliche Mann ausstirbt, und der Hass gegen die Emanzipation von Frauen und LGBTI steckt in so ziemlich ­allen rechtsterroristischen Manifesten der vergangenen zehn Jahre", sagt Ginsburg. 

Der Attentäter von Halle etwa streamte seine Tat im Netz, das Video eröffnete er mit den Worten: "Feminismus ist schuld an der sinkenden Geburtenrate im Westen." Die wiederum sei die Ursache für Massenimmigration. Das folgt der Verschwörungsideologie des "großen Austauschs", einem wirkmächtigen Konzept der Neuen Rechten. Aufgrund von hohen Geburtenraten unter nicht-weißen und niedrigen unter weißen Frauen stehe ein "Genozid" der europäischen Gesellschaften bevor. Schuld daran trage auch der Feminismus.

Frauen und ihre Körper nehmen in ­einem solchen Weltbild eine passive Rolle ein: Sie sind Hüllen für das Ziel, die "Volksgemeinschaft" zu erhalten. Eine selbstbestimmte Sexualität oder das Recht auf Schwangerschaftsabbruch ­stehen diesem Weltbild diametral ent­gegen.

"2,1 Kinder pro Frau als Zielgröße und Bestandsniveau"

Dieses Denken spiegelte auch ein Plakat der AfD im Bundestagswahlkampf 2017 wider: Es zeigte den Torso einer weißen Schwangeren. Darunter stand: "Neue Deutsche? Machen wir selber". 2020 definierte die Partei in einem Konzept zur Sozialpolitik 2,1 Kinder pro Frau als Zielgröße und "Bestandsniveau" für den deutschen Volkserhalt. Gleichzeitig wertet die AfD Familienentwürfe jenseits der sogenannten traditionellen Familie aus Vater, Mutter und Kind ab, schreibt das Deutsche Institut für Menschenrechte. Die Partei verweigere die Rechtsgleichheit ­aller Menschen und propagiere ein nationalvölkisch definiertes Volk – Stichwort "Lebensschutz". 

Jüngst entzündete sich die Debatte um Schwangerschaftsabbrüche wieder neu. Im April stellte eine von der Bundesregierung eingesetzte Kommission für ­reproduktive Rechte ihren Bericht vor. Darin hatte sie geprüft, ob und wie Schwangerschaftsabbrüche außerhalb des Strafgesetzbuchs geregelt werden sollten. Für die ersten drei Monate einer Schwangerschaft ist der Bericht eindeutig: Völkerrechtlich und verfassungsrechtlich sei die Kriminalisierung von ­Abbrüchen "nicht haltbar".

Es ist unbedingt nötig, dass die politischen Konsequenzen aus den Empfehlungen der Kommission gezogen und Abbrüche legalisiert werden.

Katharina
Masoud
Expertin für ­Geschlechtergerechtigkeit bei Amnesty International

Unionsfraktionsvize Dorothee Bär, die selbst schon ein Grußwort an die ­radikalen Abtreibungsgegner*innen des "Marschs für das Leben" schickte, bezeichnete den Bericht als "hochgefährlich". Die AfD warnte, die Empfehlungen der Kommission dienten "als der erste Schritt eines langfristigen Vorhabens, ­Abtreibungen als ein natürliches 'Menschenrecht' zu etablieren". Das müsse unter allen Umständen verhindert werden. 

Katharina Masoud von Amnesty ­International fordert hingegen genau das: Der UN-Frauenrechtsausschuss habe Deutschland bereits vor einem Jahr dazu aufgerufen, Schwangerschaftsabbrüche gemäß der Leitlinien der Weltgesundheitsorganisation vollständig zu entkriminalisieren. "Es ist unbedingt nötig, dass die politischen Konsequenzen aus den Empfehlungen der Kommission gezogen und Abbrüche legalisiert werden", sagt sie. Eine menschenrechtsbasierte ­Politik müsse sich auch gegen antifeministische Diskurse stellen.

Patricia Hecht arbeitet als Redakteurin bei der taz sowie als freie Autorin. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.

Weitere Artikel