Aktuell 30. Januar 2013

Ägypten: Tod und Zerstörung bei Protesten

28. Januar 2013 – In Ägypten hat das gewaltsame Vorgehen der Sicherheitskräfte gegen Demonstrierende am vergangenen Wochenende erneut Todesopfer gefordert. Mindestens 45 Menschen starben, mehr als 1.000 wurden verletzt. Amnesty International dokumentierte die tödliche Gewalt vor Ort.

Ein Mitarbeiter von Amnesty International untersuchte Tötungen in Suez und trug beunruhigende Augenzeugenberichte von übermäßiger Gewalt zusammen - darunter einige Vorfälle, in denen Sicherheitskräfte tödliche Gewalt einsetzten, obwohl es nicht unbedingt notwendig war, um Leben zu schützen, und Demonstrierende keine unmittelbare Bedrohung für die Sicherheitskräfte oder andere darstellten. Die Sicherheitskräfte verletzten damit ägyptisches Recht, welches zwar internationalen Standards nicht gerecht wird, aber dem Einsatz von Schusswaffen durch die Polizei Grenzen setzt. Ägyptisches Recht schreibt zum Beispiel vor, hörbare Warnungen auszusprechen und auf die Füße zu zielen.

"Da die Proteste heute zum Gedenken an den blutigsten Tag der 'Revolution des 25. Januar' weiter gehen, müssen die ägyptischen Behörden klare Anweisungen zur Überwachung der Demonstrationen erteilen, um das Recht auf friedliche Versammlungsfreiheit zu gewährleisten und unnötige oder übermäßige Gewalt zu vermeiden," sagte Hassiba Hadj Sahraoui, stellvertretende Leiterin der Abteilung Mittlerer Osten und Nordafrika.

"Es muss absolut deutlich gemacht werden, dass diejenigen, die willkürlich und übermäßig Gewalt einsetzen, vor Gericht gebracht werden. Der Rückgriff auf Gewalt mancher Demonstrierenden stellt der Polizei keinen Freifahrtschein aus, Demonstrantinnen und Demonstranten zu erschießen und zu schlagen. All dies geschieht vor dem Hintergrund jahrzehntelanger Straffreiheit für das Handeln der Sicherheitskräfte – die in manchen Fällen sogar mit Tötungen davongekommen sind."

Gewalteskalation nach Demonstrationen in Suez

Mindestens neun Personen, einschließlich eines Mitglieds der Sicherheitskräfte, sind in Suez am Abend des 25. Januar gestorben. Protestierende berichteten Amnesty International, dass kurz nachdem tausende Frauen, Männer und Kinder eine Demonstration zum Sicherheitsdirektorat in Suez abgeschlossen haben, Sicherheitskräfte Tränengas einsetzten. Berichten zufolge haben Sicherheitskräfte versucht, Demonstrantinnen und Demonstranten an der Erstürmung des Gebäudes zu hindern.

Die Gewalt eskalierte, als ein Angehöriger der Sicherheitskräfte, vermutlich ein Wehrpflichtiger der Bereitschaftspolizei, von einer Leuchtrakete, die vermutlich von einem Demonstrierenden abgefeuert wurde, im Nacken getroffen und schwer verletzt wurde. Protestierende sagten gegenüber Amnesty International aus, dass die Bereitschaftspolizei an diesem Punkt "in Panik geriet" und anfing, wahllos zu schießen und flüchtende Demonstrantinnen und Demonstranten zu verfolgen. Nach Angaben ärztlicher Quellen führte dies zu acht weiteren Todesopfern, größtenteils in der Umgebung des nahegelegenen Rathauses.

Am 26. Januar führten aus Kairo angereiste Gerichtsmediziner in Suez post-mortem Untersuchungen in der Gegenwart der Militärstaatsanwaltschaft durch. Der Leiter der Forensik Ihsan Kamil Georges wurde beim Online-Nachrichtendienst al-Ahram mit den Worten zitiert, dass Demonstrantinnen und Demonstranten in Suez mit scharfer Munition erschossen wurden, in manchen Fällen aus nächster Nähe und von hinten.

Während die Unruhen weiter anhalten, sammelten Amnesty Mitarbeiter Zeugenaussagen über den Einsatz unnötiger und übermäßiger Gewalt seitens der Sicherheitskräfte:

  • Ahmed Fawzi berichtete Amnesty International, dass er mit seinem Motorrad fuhr, als sein Freund, der 16-jährige Mostafa Mohamed Aid, der hinter ihm saß, in die Nieren geschossen wurde und starb
  • Mahmoud Nabil (25) wurde in seinem Auto am Strand abseits der Konfrontationen zwischen Polizei und Demonstrierenden erschossen, sagten lokale Aktivisten in Suez
  • Amnesty International untersuchte außerdem Blutflecken am Eingang eines Gebäudes der "Märtyrer Straße", weit vom Rathaus entfernt, wo einer der Demonstrierenden laut Anwohnern erschossen wurde
  • Demonstrierende teilten Amnesty International mit, dass Sicherheitskräfte sie willkürlich schießend gegen 22:00 Uhr ins Allgemeine Krankenhaus von Suez verfolgten

"Es war ausgerechnet in der Stadt Suez, wo die ersten Demonstrierenden durch Polizeikugeln in der "Revolution des 25 Januar" starben. Es ist tragisch, dass genau zwei Jahre später nicht nur niemand für ihren Tod bestraft wurde, sondern erneut Demonstrantinnen und Demonstranten widerrechtlich von Sicherheitskräften getötet wurden," erklärte Hadj Sahraoui. Nach Angaben von lokalen Aktivisten wurden sechs Personen, einschließlich eines Mitglieds der Sicherheitskräfte, im Anschluss an den Gewaltausbruch verhaftet. Der Staatsanwalt kündigte Untersuchungen zu der Gewalt an.

Todesstrafen im Prozess um Ausschreitungen während des Fußballspiels in Port Said

Am 26. Januar brachen auch in Port Said gewaltsame Auseinandersetzungen als Reaktion auf das Urteil eines Gerichts in Kairo aus, 21 Angeklagte zum Tode zu verurteilen und ihre Akten an den Großmufti zur Ratifizierung der Todesurteile weiterzuleiten. Die Angeklagten wurden der Verantwortung für den Tod von 73 Personen während Ausschreitungen bei einem Fußballspiel im Februar 2012 für schuldig befunden. Amnesty International lehnt die Todesstrafe in allen Fällen als äußerst grausame, unmenschliche und entwürdigende Strafe und als Verletzung des Rechts auf Leben ab.

In Protesten gegen das ihrer Auffassung nach unfaire Gerichtsurteil kollidierten Unterstützer der Angeklagten gewaltsam mit den Sicherheitskräften in der Nähe des Gefängnisses in Port Said, in dem die Angeklagten inhaftiert sind. Laut Angaben des Gesundheitsamtes in Port Said starben 31 Personen und 322 wurden im Zuge der Gewalt am 26. Januar verletzt. Mindestens zwei Mitglieder der Sicherheitskräfte waren unter den Toten. Dem Amt zufolge wurden am 27. Januar weitere fünf Personen getötet und 536 verletzt, als unbekannte Angreifer auf Trauerumzüge das Feuer eröffneten.

Anwohner schätzen die Zahl der Todesopfer höher. Amnesty International dokumentierte weitere Tote, die im Leichenschauhaus am späten Nachmittag des 28. Januar eintrafen. Während die Zusammenstöße außerhalb der örtlichen Polizeistationen weitergingen, teilten Demonstrantinnen und Demonstranten der Organisation mit, dass sie sich der Ausgangssperre widersetzen und auf den Straßen verbleiben werden. Über das Wochenende wurden zudem eine Anzahl öffentlicher Gebäude, die der Muslimbruderschaft zugeordnet werden, angegriffen.

Am 27. Januar gab das Innenministerium bekannt, dass 120 Personen im Zusammenhang mit den landesweiten Unruhen in Haft sind. "Die ägyptischen Behörden müssen sicherstellen, dass Untersuchungen zu diesen tragischen Todesfällen von einer unabhängigen und unparteiischen Stelle durchgeführt werden, die nicht selbst an den Tötungen beteiligt ist und die Verantwortlichen vor Gericht bringen," sagte Hassiba Hadj Sahraoui. "Die jüngsten Ereignisse in Ägypten zeigen, dass es nur dann einen Weg vorwärts gibt, wenn eine wirkliche Rechenschaftspflicht für Übergriffe durch die Polizei besteht und Gerechtigkeit durch ein unabhängiges Gerichtswesen etabliert wird."

Präsident Mursi verkündete am 27. Januar einen einmonatigen Ausnahmezustand und verhängte eine Ausgangssperre in den Provinzen Suez, Ismailia und Port Said. Er erklärte seine Entschlossenheit, weitere Maßnahmen zu ergreifen und dass er nicht zögern würde "noch viel mehr zum Wohl Ägyptens" zu tun. Die Armee wurde zusätzlich eingesetzt, um Ruhe und Ordnung wiederherzustellen.

Amnesty International ruft zu einem Ende übermäßiger Gewalt von Seiten der Sicherheitskräfte auf und fordert - sofern nicht unvermeidbar zum Schutz von Menschenleben - auf den Einsatz tödlicher Gewalt zu verzichten. Die ägyptische Regierung muss prüfen, ob weniger einschneidende Maßnahmen nicht besser geeignet wären, um Ordnung wiederherzustellen.

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