Parlamentarier von Militärgericht verurteilt

Appell an

President of the Republic

Kais Saied


Route de la Goulette

Site archéologique de Carthage

Tunisie

Sende eine Kopie an

Botschaft der Tunesischen Republik

I.E. Frau Hanene Tajouri ep. Bessassi


Lindenallee 16

14050 Berlin


Fax: 030-3082 06 83

E-Mail:
at.berlin@tunesien.tn

Amnesty fordert:

  • Ich bitte Sie, Yassine Ayari unverzüglich freizulassen und die militärische Strafverfolgung gegen ihn einzustellen. Er wird nur aufgrund der Ausübung seines Rechts auf freie Meinungsäußerung verfolgt.
  • Ich fordere die Behörden außerdem auf, die Strafverfolgung von Zivilpersonen durch Militärgerichte einzustellen und die Anwendung von Verleumdungsgesetzen als repressives Instrument gegen kritische Stimmen zu beenden.

Sachlage

Die Strafverfolgung des Parlamentsabgeordneten Yassine Ayari durch das Militärgericht in Tunis verstößt gegen das Recht auf freie Meinungsäußerung und internationale Menschenrechtsstandards.

Yassine Ayari verbüßt momentan im Mornaguia-Gefängnis in der Nähe von Tunis eine zweimonatige Haftstrafe. Jetzt wurde er dort von der Militärstaatsanwaltschaft in einem neuen Fall gegen ihn verhört. Nach Angaben seines Rechtsbeistandes hat diese wegen vier Facebook-Beiträgen Ermittlungen eingeleitet, die der Abgeordnete am 25., 26., 27. und 28. Juli veröffentlicht hat. In den Posts, die Amnesty International vorliegen, kritisierte Yassine Ayari scharf, was er als Machtmissbrauch des Präsidenten ansieht. Er bezeichnete dessen Entscheidung vom 25. Juli 2021, das Parlament zu suspendieren, als "Militärputsch mit ausländischer Planung und Koordination" und benutzte Wörter wie "Pharao" und "dumm", um den Präsidenten zu charakterisieren.

Yassine Ayar wird nur bestraft, weil er sein Recht auf freie Meinungsäußerung wahrgenommen hat. Die Kritik an der Übernahme von Sondervollmachten durch den Präsidenten am 25. Juli 2021 oder an der Entscheidung der Armee, das Parlament zu schließen und die Abgeordneten am Betreten der Räumlichkeiten zu hindern, sowie die Bezeichnung "Putsch" für diese Vorgänge sind legitime Kritik, die durch Paragraf 19 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte, an den Tunesien gebunden ist, geschützt ist. Die Verfolgung von Yassine Ayari nach Paragraf 91 des tunesischen Militärjustizgesetzes, welcher die Verleumdung der Armee unter Strafe stellt, verstößt gegen die völkerrechtlichen Verpflichtungen Tunesiens. Sie stellt einen zynischen Versuch dar, Kritiker_innen des Präsidenten zum Schweigen zu bringen und diejenigen einzuschüchtern, die mit der Auflösung des Parlaments durch diesen nicht einverstanden sind.

Gegen Yassine Ayari sind sieben weitere Verfahren vor Zivilgerichten anhängig, die alle auf seine Facebook-Beiträge zurückgehen. Darin äußerte er sich zu korrupten Praktiken und beschuldigte politische Parteien oder deren führende Vertreter_innen des Interessenkonflikts und der Veruntreuung – allesamt rechtlich geschützte Äußerungen, die keine strafrechtliche Verfolgung rechtfertigen. Am 7. September trat Yassine Ayari in einen Hungerstreik, um gegen seine rechtswidrige Inhaftierung und seine Haftbedingungen zu protestieren. Er kritisiert, dass die Gefängnisbehörden ihm nicht erlauben, Briefe von Unterstützer_innen oder seiner Familie zu erhalten.

Hintergrundinformation

Hintergrund

Yassine Ayari, ein 40-jähriger Ingenieur und Gegner der Herrschaft von Ex-Präsident Ben Ali, wurde bei den Teilwahlen 2018 zum Parlamentsmitglied gewählt. Er gewann einen Sitz für seine politische Bewegung Hoffnung und Arbeit und vertrat so die in Frankreich lebenden Tunesier_innen bei den Parlamentswahlen 2019.

Am 30. Juli wurde die Wohnung von Yassine Ayari von mindestens 30 Polizeibeamt_innen in zivil durchsucht. Er wurde festgenommen und an einen unbekannten Ort gebracht, ohne dass ein Haftbefehl vorgewiesen wurde. Sein Bruder erzählte Amnesty International, dass die Familie später erfuhr, dass er festgenommen wurde, um eine zweimonatige Haftstrafe zu verbüßen. Diese wurde drei Jahre zuvor, am 26. Juni 2018, vom Militärgericht in Tunis verhängt und aufgrund seiner Immunität als Parlamentsabgeordneter nie vollstreckt. Das Militärgericht hatte ihn wegen eines Facebook-Beitrags verurteilt, der angeblich die Armee verleumdete. Nach der Ankündigung des Präsidenten vom 25. Juli über die Suspendierung des Parlaments, schrieb er in einem anderen Beitrag, dass er "1000-mal lieber in einer unvollkommenen Demokratie leben würde als einen Tag unter der Herrschaft des [römischen Kaisers] Nero". Dieser Post war Grund für die neue militärische Strafverfolgung. Nachdem Präsident Saied am 25. Juli gleichzeitig mit der Suspendierung des Parlaments die Immunität aller Abgeordneten aufgehoben hatte, ordnete das Militärgericht seine Festnahme an.

Am 24. August stellten die Rechtsbeistände von Yassine Ayari einen Antrag auf Freilassung auf Bewährung, den das Militärgericht ohne Angabe von Gründen ablehnte.

Wer "die Fahne oder die Armee beleidigt, die Würde, das Ansehen oder die Moral der Armee verletzt, die militärische Disziplin, den Gehorsam und die Achtung vor den Vorgesetzten untergräbt oder die Handlungen der militärischen Hierarchie oder der Offiziere kritisiert und damit ihre Würde verletzt", kann unter dem Paragrafen 91 des Militärjustizgesetzes mit bis zu drei Jahren Gefängnis bestraft werden. Mindestens sechs weitere Abgeordnete müssen sich derzeit vor einem Militärgericht verantworten, weil sie am 15. März 2021 auf dem Flughafen von Tunis eine Auseinandersetzung mit Sicherheitsbeamt_innen hatten, die im Rahmen eines als "S17" bekannten Verfahrens ein willkürliches Einreiseverbot gegen eine Frau verhängt hatten. Der Rechtsbeistand der Frau wurde am 2. September auf Anordnung des Militärgerichts festgenommen und befindet sich wegen Verleumdung der Armee in Untersuchungshaft im Gefängnis von Mornaguia.

Die strafrechtliche Verfolgung von Verleumdungen der Armee oder anderer staatlicher Einrichtungen ist mit den Verpflichtungen Tunesiens aus Paragraf 19 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte (IPBPR) unvereinbar. 2011 veröffentlichte der UN-Menschenrechtsausschuss, der die Umsetzung des Paktes kontrolliert, Richtlinien für Vertragsstaaten zum Paragrafen 19. In diesen wird die Wichtigkeit betont, die der ICCPR der freien Meinungsäußerung "unter Umständen der öffentlichen Debatte über Persönlichkeiten des politischen Lebens und öffentliche Institutionen" beimisst, und dass "die Vertragsstaaten die Kritik an Institutionen wie der Armee oder der Verwaltung nicht verbieten sollten".

Es ist ein Verstoß gegen das Recht auf ein faires Verfahren und gegen die verfahrensrechtlichen Garantien, wenn zugelassen wird, dass eine Zivilperson von einem Militärgericht strafrechtlich verfolgt wird. In der Resolution über das Recht auf ein faires Verfahren und Rechtshilfe in Afrika wird festgehalten, dass "der Zweck der Militärgerichte darin besteht, über rein militärische Straftaten zu entscheiden, die nur von Militärpersonal begangen wurden".

Militärgerichte waren ein Schlüsselelement des repressiven Staatsapparats unter den Präsidentschaften von Habib Bourguiba (1957-1987) und Zine El Abidine Ben Ali (1987-2011). Unter beiden Präsidenten wurden Personen in übermäßig unfairen Verfahren vor Militärgerichten wegen politischer Verbrechen verurteilt. Die Militärgerichte wurden zwar nach dem Aufstand in Tunesien teilweise reformiert, stehen aber immer noch unter der unrechtmäßigen Kontrolle der Exekutive. Einzig der Präsident der Republik hat die vollständige Kontrolle über die Ernennung der Richter_innen und Staatsanwält_innen an diesen Gerichten.