Tunesien: Freigelassener Abgeordneter erneut vor Militärgericht

Ein Mann in Anzug und weißem Hemd, dahiner eine Flagge

Der tunesische Parlamentarier und Regierungskritiker Yassine Ayari

Der Parlamentarier Yassine Ayari wird am 14. Februar vor ein Militärgericht in Tunis gestellt. Er ist im Zusammenhang mit Facebook-Posts angeklagt, in denen er die Übernahme von Sondervollmachten durch Präsident Saied als "Putsch" bezeichnet. Er wurde Ende Juli 2021 zum ersten Mal festgenommen und verbrachte zwei Monate im Gefängnis von Mornaguia wegen eines Falles aus dem Jahr 2018. Zuvor hatte Präsident Saied am 25. Juli 2021 das Parlament suspendiert und die Immunität der Abgeordneten aufgehoben. Die Anklagen gegen Yassine Ayari müssen fallengelassen und die Strafverfolgung von Zivilpersonen vor Militärgerichten eingestellt werden.

Appell an

President Kais Saied

Route de la Goulette

Site archéologique de Carthage

TUNESIEN

Sende eine Kopie an

Herr Chiheb Chaoch

Geschäftsträger a.i

Lindenallee 16


14050 Berlin

Fax: 030-3082 0683

E-Mail: at.berlin@tunesien.tn

 

Amnesty fordert:

  • Bitte sorgen Sie dafür, dass die Anklagen gegen Yassine Ayari unverzüglich fallengelassen werden und stellen Sie die militärische Strafverfolgung gegen ihn ein. Denn er wird nur aufgrund der Ausübung seines Rechts auf freie Meinungsäußerung verfolgt.
  • Stellen Sie bitte auch sicher, dass die Strafverfolgung von Zivilpersonen durch Militärgerichte umgehend eingestellt wird.

Sachlage

Die Strafverfolgung des Parlamentsabgeordneten Yassine Ayari durch das Militärgericht in Tunis verstößt gegen das Recht auf freie Meinungsäußerung und internationale Menschenrechtsstandards.

Am 30. Juli 2021, drei Tage nachdem Präsident Saied das Parlament aufgelöst und die Immunität der Parlamentarier_innen aufgehoben hatte, wurde der Abgeordnete Yassine Ayari festgenommen, um eine vom Militärgericht 2018 verhängte Haftstrafe wegen Armee-kritischer Facebook-Posts zu verbüßen. Er wurde am 22. September 2021 zwar wieder freigelassen, wird aber am 14. Februar 2022 schon wieder vor Gericht stehen. Das neue Strafverfahren wurde vom selben Militärgericht angestrengt und hat Beiträge auf Facebook zum Inhalt, die er am 25., 26., 27. und 28. Juli 2021 veröffentlichte. In diesen Beiträgen kritisierte Yassine Ayari die Übernahme von Sondervollmachten durch Präsident Saied als "Putsch".

Er wird auf der Grundlage der Paragrafen 67 und 128 des Strafgesetzbuchs verfolgt, die Haftstrafen und Geldstrafen für die "Beleidigung des Staatsoberhaupts" bzw. für die "Beschuldigung ohne Beweis eines Staatsbediensteten wegen illegaler Handlungen bei der Ausübung seiner Pflichten" vorsehen. Außerdem wird er nach Paragraf 91 des Militärjustizgesetzes angeklagt, der eine Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren für Handlungen vorsieht, die "die Armee beleidigen, die militärische Disziplin oder Moral schädigen oder die Entscheidungen der militärischen Führung kritisieren oder ihre Würde untergraben, sowie für die unbefugte Weitergabe von Informationen über militärische Angelegenheiten".

Yassine Ayari wird nur deshalb strafrechtlich verfolgt und könnte zu einer Gefängnisstrafe verurteilt werden, weil er sein Recht auf freie Meinungsäußerung im Internet wahrgenommen hat. Die strafrechtliche Verfolgung von Verleumdungen der Armee oder anderer staatlicher Einrichtungen ist mit den Verpflichtungen Tunesiens aus Paragraf 19 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte (IPBPR) unvereinbar. Amnesty International ist besorgt darüber, dass gegen mindestens neun weitere Zivilpersonen in Tunesien wegen einer Reihe von Straftaten auf Grundlage des Militärjustizgesetzes ermittelt wird oder sie bereits vor einem Militärgericht stehen. Vier dieser Personen – darunter Yassine Ayari – müssen sich vor einem Militärgericht verantworten, weil sie sich kritisch über den Präsidenten geäußert haben.

Hintergrundinformation

Hintergrund

Yassine Ayari, ein 40-jähriger Ingenieur und Gegner der Herrschaft von Ex-Präsident Ben Ali, wurde bei den Teilwahlen 2018 als Vertreter der in Deutschland lebenden Tunesier_innen ins Parlament gewählt. Bei den Parlamentswahlen 2019 gewann er einen Sitz für seine politische Bewegung Hoffnung und Arbeit, wobei er diesmal die in Frankreich lebenden Tunesier_innen vertrat. Nachdem er Tunesien 2010 verlassen hatte, verbrachte Yassine Ayari acht Jahre im Exil und arbeitete als Ingenieur in Belgien und Frankreich. Im Jahr 2017 veröffentlichte er einen Facebook-Post, in dem er den ehemaligen Präsidenten Beji Caid Essebsi und dessen Einsatz der Armee zur "Unterdrückung der Bevölkerung" kritisierte. Im Jahr 2018 befand ihn ein Militärgericht der "Verleumdung der Armee" für schuldig und verurteilte ihn zu zwei Monaten Haft.

Als Präsident Kais Saied am 25. Juli 2021 die Suspendierung des Parlaments und die Aufhebung der parlamentarischen Immunität ankündigte, veröffentlichte Yassine Ayari mehrere Facebook-Posts, in denen er den Präsidenten scharf kritisierte. In den Posts, die Amnesty International vorliegen, kritisierte Yassine Ayari scharf, was er als Machtmissbrauch des Präsidenten ansieht. Er bezeichnete dessen Entscheidung vom 25. Juli 2021, das Parlament zu suspendieren, als "Militärputsch mit ausländischer Planung und Koordination" und benutzte Wörter wie "Pharao" und "dumm", um den Präsidenten zu charakterisieren. Am 30. Juli 2021 wurde die Wohnung von Yassine Ayari von mindestens 30 Polizeibeamt_innen in Zivil durchsucht. Er wurde festgenommen und an einen unbekannten Ort gebracht, ohne dass ein Haftbefehl vorgelegt wurde. Sein Bruder erzählte Amnesty International, dass die Familie später erfuhr, dass er festgenommen wurde, um eine zweimonatige Haftstrafe zu verbüßen. Diese wurde drei Jahre zuvor, am 26. Juni 2018, vom Militärgericht in Tunis verhängt und aufgrund seiner Immunität als Parlamentsabgeordneter nie vollstreckt. Nachdem Präsident Saied am 25. Juli gleichzeitig mit der Suspendierung des Parlaments die Immunität aller Abgeordneten aufgehoben hatte, ordnete das Militärgericht seine Festnahme an.

Seit der Machtübernahme von Präsident Saied kommt es immer häufiger zu der Überstellung von Zivilpersonen an Militärgerichte, dazu zählen Oppositionspolitiker_innen und öffentliche Kritiker_innen des Präsidenten. Gegen mindestens zehn weitere Zivilpersonen hat die Militärjustiz Ermittlungen eingeleitet oder Anklage erhoben.

Die strafrechtliche Verfolgung von Verleumdungen der Armee oder anderer staatlicher Einrichtungen ist mit den Verpflichtungen Tunesiens aus Paragraf 19 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte (IPBPR) unvereinbar. 2011 veröffentlichte der UN-Menschenrechtsausschuss, der die Umsetzung des Paktes kontrolliert, Richtlinien für Vertragsstaaten zum Paragrafen 19. In diesen wird die Wichtigkeit betont, die der ICCPR der freien Meinungsäußerung "unter Umständen der öffentlichen Debatte über Persönlichkeiten des politischen Lebens und öffentliche Institutionen" beimisst, und dass "die Vertragsstaaten die Kritik an Institutionen wie der Armee oder der Verwaltung nicht verbieten sollten".

Es ist ein Verstoß gegen das Recht auf ein faires Verfahren und gegen die verfahrensrechtlichen Garantien, wenn zugelassen wird, dass eine Zivilperson von einem Militärgericht strafrechtlich verfolgt wird. Die Afrikanische Kommission für Menschenrechte und Rechte der Völker hielt in ihrer Resolution über das Recht auf ein faires Gerichtsverfahren und Rechtshilfe in Afrika fest, dass der Zweck der Militärgerichte darin besteht, über rein militärische Vergehen durch Militärpersonal zu entscheiden.

Militärgerichte waren ein Schlüsselelement des repressiven Staatsapparats unter den Präsidentschaften von Habib Bourguiba (1957-1987) und Zine El Abidine Ben Ali (1987-2011). Unter beiden Präsidenten wurden Personen in übermäßig unfairen Verfahren vor Militärgerichten wegen politischer Verbrechen verurteilt. Die Militärgerichte wurden zwar nach dem Aufstand in Tunesien teilweise reformiert, stehen aber immer noch unter der unrechtmäßigen Kontrolle der Exekutive. Der Präsident der Republik hat die Kontrolle über die Ernennung der Richter_innen an diesen Gerichten. Darüber hinaus sind sowohl der Generalstaatsanwalt, der die Militärjustiz leitet, als auch alle Staatsanwält_innen an den Militärgerichten, die eine zentrale Rolle bei der Einleitung von Verfahren spielen, dienende Angehörige des Militärs, die der Militärdisziplin unterliegen und somit direkt der Exekutive unterstellt sind.