Foltergefahr

Russland
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Nachdem ihr Verbleib wochenlang ungeklärt war, ist am 19. bzw. 31. Oktober bestätigt worden, dass sich der IT-Spezialist Victor Filinkov und der zivilgesellschaftliche Aktivist Yuliy Boyarshinov in Untersuchungsgefängnissen in St. Petersburg befinden. Die Behörden hatten ihren Aufenthaltsort nicht bekanntgegeben, obwohl sich die Männer in ihrem Gewahrsam befanden. Die Folter- und Misshandlungsvorwürfe der beiden Männer sind bislang nicht untersucht worden. Zudem ist der Gesundheitszustand von Victor Filinkov sehr besorgniserregend.
Appell an
Gennady Alexandrovich Kornienko
Federal Penitentiary Service
Moscow 119991
ul. Zhitnaya 14
RUSSISCHE FÖDERATION
Sende eine Kopie an
Botschaft der Russischen Föderation
S. E. Herrn Sergei Nechaev
Unter den Linden 63-65
10117 Berlin
Fax: 030 – 2299 397
E-Mail: info@russische-botschaft.de
Amnesty fordert:
- Stellen Sie bitte sicher, dass Victor Filinkov und Yuliy Boyarshinov vor Folter und anderen Misshandlungen geschützt sind und sorgen Sie dafür, dass sofort eine unabhängige, wirksame und unparteiische Untersuchung zu ihren Folter- und Misshandlungsvorwürfen durchgeführt wird.
- Bitte ermöglichen Sie eine unabhängige ärztliche Untersuchung von Victor Filinkov und stellen Sie sicher, dass er regelmäßigen Zugang zu jeglicher erforderlichen medizinischen Behandlung hat.
Sachlage
Victor Filinkov und Yuliy Boyarshinov wurden im Januar 2018 in St. Petersburg von Angehörigen des FSB festgenommen und wegen "Mitgliedschaft in einer terroristischen Gruppe" (Paragraf 205.4 (2) des russischen Strafgesetzbuches) angeklagt. Beide Männer weisen die Anklagen zurück.
Hintergrundinformation
Am 23. Januar 2018 "verschwand" der IT-Spezialist und Antifaschist Victor Filinkov in St. Petersburg. Zwei Tage später fand man heraus, dass er sich in Gewahrsam befand und "gestanden" hatte, einer "terroristischen" Organisation namens Syet ("Netzwerk") anzugehören. Der russische Geheimdienst FSB behauptet, dass Syet kleinere Zellen in Pensa unterhalte, wo im Oktober 2017 die ersten Festnahmen im "Fall Syet" erfolgten, sowie in St. Petersburg, Moskau und Belarus. Laut Angaben des FSB planten Mitglieder der Organisation "terroristische" Angriffe während der Präsidentschaftswahlen im März und bei der Fußball-Weltmeisterschaft im Juni und Juli 2018. Victor Filinkov zog sein "Geständnis" später zurück und sagte, es sei durch Folter erzwungen worden. Seine Foltervorwürfe sind bisher nicht untersucht worden.
Der zivilgesellschaftliche Aktivist und Industriekletterer Yuliy Boyarshinov wurde am 21. Januar 2018 in St. Petersburg festgenommen, ursprünglich unter dem Vorwurf des "Besitzes von Sprengstoff" (Paragraf 222.1 (1) des russischen Strafgesetzbuches). Bei der Festnahme wurde er von Polizist_innen geschlagen und in der Untersuchungshaft von FSB-Angehörigen unter Druck gesetzt, ein "Geständnis" abzulegen und andere Personen als Mitglieder von Syet zu identifizieren. Als er sich weigerte, wurde er unter Paragraf 205.4 (2) des Strafgesetzbuches der "Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation" beschuldigt und in eine Untersuchungshafteinrichtung gebracht, in der noch schlechtere Bedingungen herrschten. Die Familie von Yuliy Boyarshinov ist der Ansicht, dass diese Vorwürfe sowie seine Verlegung eine Vergeltungsmaßnahme sind, weil er nicht kooperiert hat.
Elf Personen aus Pensa und St. Petersburg befinden sich derzeit im "Fall Syet" in Untersuchungshaft. Die meisten von ihnen haben Verbindungen zu antifaschistischen und anarchistischen Bewegungen. Mehrere dieser Inhaftierten berichteten über Folter durch Angehörige des FSB, um "Geständnisse" von ihnen zu erzwingen. Sollten sie für schuldig befunden werden, einer "terroristischen Organisation" anzugehören, drohen ihnen bis zu zehn Jahre Gefängnis.
Im russischen Strafvollzug ist es nicht unüblich, dass Gefangene sich während ihrer Verlegung in oftmals völlig überfüllten Zugwaggons oder Lastwagen in geheimer Haft befinden. Dies kommt grausamer, unmenschlicher und erniedrigender Behandlung gleich. Die russische Strafvollzugsbehörde (FSIN) gibt keinerlei Informationen über die Verlegung von Inhaftierten und deren Aufenthaltsort bekannt. Weder die Familien noch die Rechtsbeistände der Gefangenen werden im Voraus über die Verlegung an einen anderen Ort informiert. Gemäß Paragraf 17 des Strafvollzugsgesetzes muss die FSIN die Familie eines Gefangenen innerhalb von zehn Tagen nach dessen Ankunft in einer neuen Hafteinrichtung informieren. Wenn nicht bekannt ist, wo Inhaftierte sich befinden, erhöht sich die Gefahr von Menschenrechtsverletzungen, da Überwachungsorgane und Rechtsbeistände keinen Zugang zu ihnen haben.
Weitere Informationen finden Sie im englischsprachigen Bericht von 2017: Prisoner Transportation in Russia: Travelling into the unknown, unter https://www.amnesty.org/download/Documents/EUR4668782017ENGLISH.PDF.
Wenn Behörden sich weigern, das Schicksal oder den Verbleib einer Person, die sich in ihrem Gewahrsam befindet, bekannt zu geben, dann ist dies als Verschwindenlassen zu betrachten. So ist der UN-Ausschuss zum Schutz vor dem Verschwindenlassen im Fall Yrusta gegen Argentinien (UN-Dok. CED/C/10/D/1/2013) zu dem Schluss gekommen, dass der Beschwerdeführer während seiner Verlegung von einer Hafteinrichtung in die andere dem Verschwindenlassen zum Opfer gefallen ist. Der Ausschuss führte an, dass der Beschwerdeführer für den Zeitraum der Überstellung dem Schutz des Gesetzes entzogen wurde und somit dem Verschwindenlassen zum Opfer fiel, weil a) er keinen Besuch von Dritten erhalten durfte, und b) weder er noch seine Familie Zugang zu einem Gericht hatten, vor dem sie die Rechtmäßigkeit seiner Situation anfechten hätten können. In diesem Fall wurden die Familienangehörigen mehr als sieben Tage lang über den Verbleib des Gefangenen im Unklaren gelassen.