Bewährungsantrag abgelehnt - Aktivist legt Rechtsmittel ein

Zwei junge Männer mit kurz geschorenen Haaren umarmen sich und lächeln in die Kamera. Yan Sidorov (links) trägt einen roten Pulli und Vladislav Mordasov (rechts) ein blau-schwarz kariertes Hemd.

Yan Sidorov (links) und Vladislav Mordasov (rechts), Rostow am Don, Russland, Juni 2019

Am 22. Oktober lehnte das Stadtgericht Dimitrowgrad in Westrussland den Bewährungsantrag des Menschenrechtsverteidigers Yan Sidorov ab. Er und sein Freund Vladislav Mordasov sind gewaltlose politische Gefangene, die Haftstrafen von vier Jahren verbüßen müssen, weil sie im November 2017 versuchten, eine friedliche Protestaktion zu organisieren. Damit wollten sie Dutzende Rostower Bürger_innen unterstützen, die in Großbränden ihre Häuser verloren hatten. Yan Sidorov legte gegen den Gerichtsentscheid Rechtsmittel ein.

Appell an

Colonel Andrei Vladimirovich Ryabkov

Head of the UFSIN for Ulyanovsk Region

UI. Sentyabrya, d.95

432017, Ulyanovsk

RUSSISCHE FÖDERATION

Sende eine Kopie an

Botschaft der Russischen Föderation

S.E. Herrn Sergei Nechaev

Unter den Linden 63 - 65

10117 Berlin

Fax: 030-229 93 97


E-Mail: info@russische-botschaft.de

 

Amnesty fordert:

  • Als Leiter des föderalen Strafvollstreckungsdienstes der Oblast Uljanowsk fordere ich Sie höflich auf, Ihre Position zu nutzen, um den Antrag von Yan Sidorov auf Freilassung auf Bewährung zu unterstützen.

Sachlage

Der 21-jährige Menschenrechtsverteidiger Yan Sidorov verbüßt eine Haftstrafe in der Strafkolonie IK-10. Am 22. Oktober wies das Stadtgericht von Dimitrowgrad in der Oblast Uljanowsk seinen Antrag auf Freilassung auf Bewährung zurück. Seine Verteidigung legt dagegen nun Rechtsmittel ein.

Yan Sidorov und sein Freund Vladislav Mordasov wurden am 5. November 2017 inhaftiert, weil sie eine friedliche Mahnwache organisieren wollten, um Dutzende Rostower_innen zu unterstützen, die in Großbränden ihre Häuser verloren hatten. Yan Sidorov war zum Zeitpunkt der Festnahme 18 Jahre alt, Vladislav Mordasov war 21 Jahre alt. Sie begingen keine Straftat, wurden aber aufgrund der konstruierten Anklage, einen "Aufstand organisiert" zu haben, in Haft genommen. Am 4. Oktober 2019 sprach das Regionalgericht Rostow die beiden in einem unfairen Gerichtsverfahren schuldig und verurteilte sie zu sechs Jahren und sechs Monaten bzw. sechs Jahren und sieben Monaten Haft in einer Strafkolonie mit verschärften Haftbedingungen. Am 10. Dezember 2019 hielt das Dritte Berufungsgericht von Rostow ihre Verurteilung aufrecht. Im Juli 2020 wurden beide Haftstrafen auf vier Jahre gesenkt.

Yan Sidorov und Vladislav Mordasov sind gewaltlose politische Gefangene, die keine Straftat begangen haben. Sie sind allein deswegen inhaftiert, weil sie ihr Rechte auf freie Meinungsäußerung und Versammlungsfreiheit wahrnehmen wollten. Sie müssen umgehend und bedingungslos freigelassen und ihre Schuldsprüche müssen aufgehoben werden.

Hintergrundinformation

Hintergrund

In einer Reihe von Großbränden, die sich im Juli und August 2017 in Rostow am Don ausbreiteten, wurden mehr als 160 Häuser zerstört. Eine Person kam ums Leben und Dutzende wurden verletzt. Rund 700 Menschen wurden offiziell als Opfer der Brände anerkannt. Obwohl für den Verlust des Eigentums eine gewisse Entschädigung gezahlt wurde, erlaubten die Behörden es den Menschen nicht, neue Häuser auf demselben Land zu bauen. Sie zahlten auch keine Entschädigung für den Verlust der Grundstücke. Deswegen entstanden Gerüchte, dass das Feuer absichtlich gelegt wurde, um die Bewohner_innen zu vertreiben und eine neue Bebauung zu ermöglichen.

Am 5. November 2017 begaben sich der 18-jährige Student Yan Sidorov und der 21-jährige Vladislav Mordasov auf den Sovietov-Platz in der Stadt Rostow am Don, um vor dem Gebäude der Regierung der Region Rostow friedlich zu demonstrieren und so die Betroffenen der Brände zu unterstützen. Sie hatten einige Flugblätter dabei, ein Megafon und zwei handgeschriebene, zusammengerollte Transparente, die sie am Tag zuvor angefertigt hatten. Auf den Transparenten stand: "Gebt den Opfern der Rostower Brände ihr Land zurück" und "Die Regierung muss abtreten". Noch bevor sie die Mahnwache starten konnten, nahm die Polizei sie wegen "illegaler Versammlung" fest. Am selben Tag nahmen Polizeibeamt_innen den damals 18-jährigen Viacheslav Shashmin vor einem Wohnblock in der Nähe des Gebäudes der Regionalregierung fest, vor dem Yan Sidorov und Vladislav Mordasov festgenommen worden waren. Viacheslav Shashmin gibt an, dass er zu diesem Zeitpunkt die beiden nicht gekannt und auch nicht an der Mahnwache teilgenommen habe.

Am 6. November 2017 wurden Yan Sidorov und Vladislav Mordasov in getrennten Verfahren nach Artikel 20.2 Absatz 2 des russischen Gesetzes über Ordnungswidrigkeiten ("Organisation oder Durchführung einer öffentlichen Veranstaltung ohne ordentliche Benachrichtigung der betreffenden Behörden") zu sieben Tagen Administrativhaft verurteilt. Beide wurden danach als Verdächtige in Untersuchungshaft genommen. Viacheslav Shashmin wurde nach Artikel 20.1 des russischen Gesetzes über Ordnungswidrigkeiten unter der fadenscheinigen Anklage "Rowdytum" fünf Tage in Administrativhaft genommen. Später wurde er unter Hausarrest gestellt und die Behörden verhängten ein Reiseverbot über ihn. Yan Sidorov und Vladislav Mordasov berichten, in Polizeigewahrsam gefoltert und anderweitig misshandelt worden zu sein. Damit sollten sie zu dem "Geständnis" gezwungen werden, eine gewaltsame Demonstration geplant zu haben.

Am 17. November 2017 wurden die beiden nach Artikel 30 Absatz 3 sowie Artikel 212 Absatz 1 und 2 des russischen Strafgesetzbuches wegen des Versuchs, einen Aufstand zu organisieren, und des Versuchs, an diesem Aufstand teilzunehmen, angeklagt. Viacheslav Shashmin wurde wegen des Versuchs der Teilnahme an diesem Aufstand angeklagt. Der Prozess gegen die drei Männer wurde am 29. Mai 2019 am Bezirksgericht in Rostow am Don eröffnet. Während des Verfahrens weigerte sich mindestens ein Drittel der Belastungszeug_innen, ihre früheren Aussagen zu bestätigen, die sie in den Ermittlungen im Vorfeld des Gerichtverfahrens gemacht hatten. Sie gaben an, von den Ermittler_innen zu den Aussagen gezwungen worden zu sein. Die Anklagen waren nachweislich konstruiert und die Verfahren der drei Männer unfair.

Am 4. Oktober 2019 befand das Bezirksgericht in Rostow am Don im Südwesten Russlands Yan Sidorov und Vladislav Mordasov für schuldig, am 5. November 2017 einen "Aufstand organisiert" und daran teilgenommen zu haben. Viacheslav Shashmin wurde verurteilt, weil er an dem Aufstand teilgenommen habe. Yan Sidorov wurde zu sechs Jahren und sechs Monaten und Vladislav Mordasov zu sechs Jahren und sieben Monaten Haft in einer Strafkolonie mit verschärfter Anstaltsordnung verurteilt. In dieser Art Strafkolonie werden ausschließlich Menschen inhaftiert, die wegen schwerster Verbrechen verurteilt sind. Viacheslav Shashmin erhielt eine dreijährige Bewährungsstrafe. Am 10. Dezember 2019 hielt das Dritte Berufungsgericht bei einer Anhörung in Rostow am Don den Schuldspruch der Menschenrechtsverteidiger Yan Sidorov und Vladislav Mordasov aufrecht und bestätigte ihre Verurteilung zu jeweils mehr als sechs Jahren Haft.

Am 23. Juli 2020 verringerte das Oberste Gericht der Russischen Föderation im Berufungsverfahren die Haftstrafen der beiden jungen Aktivisten auf jeweils vier Jahre. Dies ermöglichte ihnen, einen Antrag auf Freilassung auf Bewährung zu stellen. Der Antrag von Yan Sidorov wurde am 22. Oktober 2020 von dem Stadtgericht Dimitrowgrad abgelehnt. Über den Bewährungsantrag von Vladislav Mordasov muss noch entschieden werden; die Verhandlungen vor dem Berufungsgericht sind bereits mehrmals verschoben worden.