Anwalt nach wie vor unter Anklage

Mikhail Benyash befand sich seit dem 9. September in Haft. Nach mehrmaliger Verlängerung der Haft kam er am 23. Oktober auf Kaution frei.

Der Anwalt Mikhail Benyash wurde am 23. Oktober gegen Kaution freigelassen. Er war am 9. September von der Polizei festgenommen und inhaftiert worden, nachdem er sich mit Mandant_innen getroffen hatte, die an friedlichen Protesten gegen Rentenreformen in Krasnodar teilgenommen hatten. Die politisch motivierten Anklagen gegen ihn sind jedoch nicht fallengelassen worden. Bei einer Verurteilung drohen ihm bis zu fünf Jahre Haft.

Appell an

Vladimir Kokoltsev

Ul. Zhitnaya d. 16

119049 Moscow

RUSSISCHE FÖDERATION

Sende eine Kopie an

Botschaft der Russischen Föderation

S. E. Herrn Sergei Nechaev

Unter den Linden 63-65


10117 Berlin

Fax: 030 – 2299 397

E-Mail: info@russische-botschaft.de

Amnesty fordert:

  • Lassen Sie bitte unverzüglich alle Anklagen gegen Mikhail Benyash fallen, da sie sich lediglich auf seine Arbeit als Menschenrechtsanwalt beziehen, und stellen Sie umgehend das Strafverfahren gegen ihn ein.
  • Führen Sie bitte eine gründliche, wirksame und unparteiische Untersuchung der Umstände seiner Festnahme sowie der von ihm erhobenen Misshandlungsvorwürfe durch. Sorgen Sie dafür, dass die Verantwortlichen in fairen Verfahren vor Gericht gestellt werden.
  • Stellen Sie sicher, dass alle Rechtsbeistände in Russland in Übereinstimmung mit dem Völkerrecht und insbesondere den UN-Grundprinzipien betreffend die Rolle der Rechtsanwälte ihre beruflichen Aufgaben ohne Furcht vor Einschüchterung, Behinderung, Schikane oder unstatthafter Beeinflussung wahrnehmen können.

Sachlage

Am 23. Oktober hat das Landgericht Krasnodar die Freilassung des Anwalts Mikhail Benyash gegen eine Kaution von 600.000 Rubel (etwa 8.000 Euro) angeordnet.

Am 9. September befand sich Mikhail Benyash in Krasnodar, einer Stadt im Süden Russlands, um einigen Mandant_innen rechtlichen Beistand zu leisten. Diese hatten an einer friedlichen Demonstration gegen Rentenreformen teilgenommen, bei der die Polizei willkürlich Dutzende Personen festgenommen hatte. Auf dem Weg ins Stadtzentrum wurde Mikhail Benyash von Polizist_innen in Zivil mit Gewalt in ein Auto gezerrt. Am Morgen des 11. September verurteilte ihn das Leninsky-Gericht von Krasnodar wegen "Widerstands gegen rechtmäßige polizeiliche Anordnungen" (nach Paragraf 19.3 des russischen Gesetzbuches über Ordnungswidrigkeiten) zu 14 Tagen "Verwaltungshaft".

Am 23. September, nur wenige Stunden bevor Mikhail Benyash freigelassen werden sollte, brachte man weitere Anklagen gegen den Anwalt vor und verlängerte den Gewahrsam um 48 Stunden. Die neue Anklage lautete auf "Gewaltanwendung gegen einen Regierungsbeamten" unter Paragraf 318(1) des russischen Strafgesetzbuches. Darüber hinaus leitete die Ermittlungsbehörde für die Region Krasnodar ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren gegen Mikhail Benyash ein. Man wirft ihm gemäß Paragraf 294(1) des Strafgesetzbuches "Behinderung der Justiz vor", weil er am 6. Mai 2018 als Anwalt in einem Verwaltungsgerichtsverfahren einem Richter ins Wort gefallen sein soll. Am 28. September erließ das Leninsky-Gericht von Krasnodar Präventivmaßnahmen in Form einer zweimonatigen Inhaftierung gegen Mikhail Benyash. Als Begründung wurden Fluchtgefahr und die mögliche Bedrohung von Zeug_innen oder Vernichtung von Beweismitteln durch den Angeklagten angeführt. Trotz seiner Freilassung gegen Kaution sind die Anklagen gegen Mikhail Benyash noch anhängig. Bei einer Verurteilung auf der Grundlage der beiden Anklagen drohen dem Anwalt bis zu fünf Jahre Haft.

Hintergrundinformation

Hintergrund

Am 9. September organisierten Mitglieder der politischen Opposition Massenkundgebungen in mehr als 80 russischen Städten, um gegen die Rentenreform zu protestieren, die die russische Regierung im Juni dieses Jahres vorgestellt hatte. Die Polizei löste diese friedlichen Proteste mit Gewalt auf und nahm mehr als 1.000 Personen fest. Weitere Informationen dazu finden Sie in dem englischsprachigen Artikel Russia: Police crush peaceful protests and arrest hundreds including children (https://www.amnesty.org/en/latest/news/2018/09/russia-police-crush-peac…).

Anwält_innen in ganz Russland empörten sich über die Misshandlung und die Inhaftierung von Mikhail Benyash und protestierten gegen diese. In einer Online-Petition wird die föderale Rechtsanwaltskammer Russlands aufgefordert, Maßnahmen zum Schutz der Interessen ihrer Mitglieder zu ergreifen. Von den Behörden wird gefordert, eine wirksame Untersuchung des Vorfalls durchzuführen. Die Petition wurde von über 300 Anwält_innen aus über 50 Regionen in ganz Russland unterzeichnet. Am Vorabend der Anhörung vor dem Bezirksgericht Krasnodar am 23. Oktober schickte der Präsident der russischen Anwaltskammer einen Brief an den Staatsanwalt von Krasnodar und bat ihn, das Strafverfahren gegen Mikhail Benyash zu übernehmen, um eine faire, rechtmäßige und unparteiische Untersuchung sicherzustellen. In der gerichtlichen Anhörung beantragte der Staatsanwalt, Mikhail Benyash nicht länger in Präventivhaft zu halten, da das erstinstanzliche Gericht keine ausreichenden Nachweise dafür vorgelegt habe, dass der Angeklagte fliehen, Zeug_innen bedrohen oder Beweise vernichten könnte. Aus Solidarität kamen 19 Anwält_innen aus sechs russischen Regionen zum Berufungsverfahren, um Mikhail Benyash zu verteidigen.

Amnesty International hat zahlreiche Fälle der Drangsalierung von Menschenrechtsanwält_innen durch Angehörige der russischen Strafverfolgungsbehörden dokumentiert. Menschenrechtsverletzungen durch Sicherheitskräfte gehen in Russland fast immer straflos aus, besonders im Nordkaukasus, in dem die Region Krasnodar liegt. Zu diesen Menschenrechtsverletzungen zählen Einschüchterung, körperliche Gewalt, unbegründete Strafverfolgung und in mindestens einem Fall die mutmaßliche außergerichtliche Hinrichtung eines Anwalts: https://www.amnesty.org/en/press-releases/2013/03/dangerous-profession-lawyers-north-caucasus/.

Das Recht auf friedliche Versammlung wurde in Russland in den vergangenen Jahren zunehmend eingeschränkt. Die russischen Behörden zeigen weiterhin ein hohes Maß an Intoleranz gegenüber "unbefugten" friedlichen öffentlichen Protesten. Gleichzeitig wendet die Polizei regelmäßig unverhältnismäßige Gewalt an, um friedliche Protestierende vom Ort der Proteste zu entfernen und festzunehmen. Während der Proteste machen die Ordnungskräfte meist keinen Unterschied zwischen den Protestierenden und unbeteiligten Passant_innen. Die Verfahren von Protestierenden vor Verwaltungsgerichten, in denen sie entweder wegen der angeblichen Verletzung der Regeln für öffentliche Versammlungen oder wegen mutmaßlichen Widerstandes gegen die Polizei angeklagt werden, sind in der Regel kurz und scheinen meist lediglich eine Formsache zu sein. Sie stützen sich häufig auf die einzigen "Beweismittel", die gegen die Angeklagten vorliegen: umstrittene Berichte und schriftliche Aussagen, die von der Polizei vorgelegt werden. In den meisten Fällen akzeptieren die Richter_innen die Angaben der Polizei ohne weitere Fragen. So wird etwa die Behauptung, die angeklagte Person habe den rechtmäßigen Anordnungen der Polizei nicht Folge geleistet, selbst dann nicht infrage gestellt, wenn gegenteilige Beweise – wie etwa Videoaufnahmen des Vorfalls aus nächster Nähe – vorliegen. Weitere Informationen dazu finden Sie in dem englischsprachigen Bericht Russian Federation: The right to freedom of peaceful assembly – freedom in all but name (https://www.amnesty.org/en/documents/eur46/8027/2018/en/).

Im Jahr 2010 wurde Sapiyat Magomedova, eine Menschenrechtsanwältin aus Dagestan, von der Polizei brutal geschlagen und dann ihrerseits beschuldigt, übergriffig geworden zu sein. In der Folge wurde sie strafrechtlich verfolgt (siehe UA-219/2010, online unter: https://www.amnesty.de/urgent-action/ua-219-2010/schikanen-gegen-anwael…). Weder die Vorwürfe von Sapiyat Magomedova noch die Behauptungen der Polizei wurden jemals wirksam untersucht und der Fall wurde schließlich geschlossen.