Vereinigtes Königreich: 857 weitere friedlich Protestierende festgenommen
Festnahme eines Demonstranten in der englischen Hauptstadt London bei einem Protest gegen das Verbot der Gruppe "Palestine Action" (9. August 2025)
© IMAGO / ZUMA Press Wire
Am 6. September 2025 wurden in London 857 Menschen festgenommen, weil sie friedlich dagegen protestierten, dass die Gruppe Palestine Action als Terrororganisation eingestuft und verboten worden ist. In den Wochen zuvor waren in der britischen Hauptstadt und anderen Städten bereits mehr als 700 weitere Personen aus ähnlichen Gründen festgenommen worden. Ungefähr 114 Personen sind seither unter den britischen Antiterrorgesetzen angeklagt worden, und vielen weiteren droht eine Anklage. Am 2. September wurden sieben Sprecher*innen der basisdemokratischen Gruppe Defend Our Juries bei Razzien im Morgengrauen festgenommen und müssen mit Haftstrafen von bis zu neun Jahren rechnen, weil sie an der Organisation dieser friedlichen Proteste beteiligt waren. Amnesty International fordert die zuständigen Behörden im gesamten Vereinigten Königreich auf, die bereits erhobenen Anklagen fallenzulassen und keine weiteren Maßnahmen zu ergreifen, weder gegen diese noch gegen andere Personen, die lediglich wegen der Ausübung ihrer Rechte auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit festgenommen und angeklagt wurden.
Setzt euch für die festgenommenen Demonstrierenden ein!
Appell an
Botschaft des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland
S. E. Herr Andrew Jonathan Mitchell
Wilhelmstr. 70
10117 Berlin
Amnesty fordert:
- Bitte handeln Sie entsprechend der menschenrechtlichen Verpflichtungen des Vereinigten Königreichs, indem Sie die Anklagen gegen all jene fallen lassen, die sich an den friedlichen Protesten gegen das Verbot von Palestine Action beteiligt haben, und indem Sie keine neuen Verfahren anstrengen.
Sachlage
Seit die Gruppe Palestine Action am 5. Juli 2025 als Terrororganisation eingestuft und verboten wurde, sind landesweit mehr als 1.500 Menschen festgenommen worden, weil sie sich an friedlichen Protestaktionen gegen das Verbot beteiligt hatten. Die meisten Festnahmen erfolgten bei Protestveranstaltungen, die von der basisdemokratischen Gruppe Defend Our Juries organisiert worden waren. Mit Stand vom 8. September sind landesweit 114 Personen auf Grundlage der Paragrafen 12 und 13 des Terrorismusgesetzes aus dem Jahr 2000 wegen terrorismusbezogener Straftaten angeklagt worden. Drei Personen sollen am 16. September vor Gericht erscheinen.
Am 2. September nahm die Polizei im Zuge von Razzien sieben Sprecher*innen von Defend our Juries im Morgengrauen fest. Grundlage für die Festnahmen war Paragraf 12 des Terrorismusgesetzes. Diese Festnahmen erfolgten nur wenige Stunden vor einer geplanten Pressekonferenz von Defend our Juries, auf der eine für den 6. September geplante Massenaktion gegen das Verbot von Palestine Action angekündigt wurde. Alle sieben Personen wurden inzwischen angeklagt, eine in Schottland und sechs in England, weil sie Zoom-Anrufe organisiert hatten, um Aktivist*innen zu informieren, die sich den friedlichen Massenprotesten anschließen wollten. Die sechs in England lebenden Personen erschienen am 4. September zu Kautionsanhörungen vor Gericht. Bei diesen Anhörungen kündigte die Staatsanwaltschaft an, dass sie im Falle eines Schuldspruchs eine Strafe zwischen sechs und neun Jahren beantragen würde. Die sechs Personen wurden unter strengen Auflagen gegen Kaution freigelassen und warten nun auf ihren Prozess. Am 6. September fand die zweite Massenkundgebung von Defend our Juries wie geplant statt, dabei wurden 857 friedliche Demonstrierende festgenommen. Die Londoner Polizei gab eine Erklärung ab, wonach es einen koordinierten gewaltsamen Einsatz von Protestierenden gegen die Polizei gegeben habe. Amnesty International reagierte darauf ihrerseits mit einer Erklärung, in der sie dies als falsche Darstellung der Realität vor Ort bezeichnete. Beobachter*innen von Amnesty International, die die Proteste verfolgten, wurden Zeug*innen von Übergriffen der Polizei, bei denen Demonstrierende geschubst und Schlagstöcke eingesetzt wurden.
Die internationalen Menschenrechtsnormen, zu deren Einhaltung das Vereinigte Königreich verpflichtet ist, verlangen, dass Einschränkungen des Rechts auf freie Meinungsäußerung eindeutig gesetzlich verankert und für ein legitimes Ziel notwendig und verhältnismäßig sein müssen. Die Kriminalisierung von Äußerungen ist in diesem Zusammenhang nur dann zulässig, wenn mit diesen Äußerungen zu Gewalt, Hass oder Diskriminierung aufgerufen wird. Die Unterstützung von Palestine Action allein reicht nicht aus, um diese Schwelle zu erreichen.
Hintergrundinformation
Defend our Juries ist eine basisdemokratische Gruppe von Aktivist*innen im Vereinigten Königreich, die sich eindeutig gegen Gewalt positioniert. Bei den Protestveranstaltungen wurden Menschen verschiedener Altersklassen, Berufsgruppen und ethnischer Herkunft festgenommen. Ältere Menschen machten einen erheblichen Teil der Festgenommenen aus. Die Protestierenden hatten friedlich ihre Empörung über den anhaltenden Völkermord Israels an den Palästinenser*innen im Gazastreifen zum Ausdruck gebracht, ein Standpunkt, den sie gemäß internationaler Menschenrechtsnormen vertreten und friedlich zum Ausdruck bringen dürfen. Zahlreiche Menschenrechtsgruppen, darunter auch Amnesty International, haben den anhaltenden Völkermord Israels an den Palästinenser*innen im besetzten Gazastreifen ausführlich dokumentiert.
Eine Strafverfolgung im Rahmen der Terrorismusgesetze kann, auch wenn es nicht zu einer Verurteilung kommt, schwerwiegende und dauerhafte Folgen für den Einzelnen haben. Dazu gehören restriktive Kautionsbedingungen, Überwachung, Rufschädigung, Auswirkungen auf die psychische Gesundheit und negative Folgen für Beschäftigung, Bildung und Reisen. Eine Verurteilung nach Gesetzen wie dem Terrorism Act 2000 hat sogar noch schwerwiegendere Folgen: eine lebenslange Registrierung als vorbestraft, Visa- und Einwanderungsprobleme, Verlust von Arbeitsmöglichkeiten, Berufszulassungen und Zugang zu Dienstleistungen sowie eine langfristige soziale Stigmatisierung und psychische Leiden. Wenn solche Strafverfolgungen aufgrund friedlicher Proteste und zivilen Ungehorsams erfolgen, haben sie eine abschreckende Wirkung – sie halten Menschen davon ab, ihr Recht auf freie Meinungsäußerung, Protest und politischen Aktivismus auszuüben, aus Angst, als "Terrorist*innen" kriminalisiert zu werden.
Die Rechtsgrundlage für den Einsatz von Antiterrorgesetzen zur Festnahme und Strafverfolgung von friedlichen Protestierenden ist fragwürdig, da der High Court einer gerichtlichen Überprüfung des Urteils gegen Palestine Action zugestimmt hat, was bedeutet, dass die Rechtmäßigkeit des Verbots noch in Frage steht. In Anbetracht dessen wären weitere Festnahmen als ein rücksichtsloser Einsatz von Polizeibefugnissen zu betrachten und möglicherweise rechtswidrig. Es gibt keine hinreichende Grundlage dafür, den Teilnehmenden der Protestaktionen Anstiftung zur Gewalt vorzuwerfen. Folglich ist ihre Festnahme nicht nur unverhältnismäßig, sondern auch ein klarer Verstoß gegen die Verpflichtungen des Vereinigten Königreichs unter internationalen Menschenrechtsnormen. Die Einstufung dieser Menschen als "Terrorist*innen" ist zutiefst unangemessen und absurd.
Es verstößt gegen die völkerrechtlichen Verpflichtungen des Vereinigten Königreichs zum Schutz der Rechte auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit, friedlich protestierende Menschen festzunehmen, nur weil sie Plakate mit dem Slogan "Ich bin gegen Genozid, ich unterstütze Palestine Action" hochgehalten haben. Demonstrierende haben das Recht, ihre Empörung über den anhaltenden Völkermord Israels an den Palästinenser*innen in Gaza friedlich zum Ausdruck zu bringen. Internationale Menschenrechtsverträge, die für das Vereinigte Königreich gelten, geben vor, dass Regierungen die Rechte auf freie Meinungsäußerung und friedliche Versammlung nur in einem gewissen Rahmen rechtmäßig einschränken dürfen, wenn dies zur Erreichung eines legitimen Ziels erforderlich und angemessen ist. Um dies auf eine Unterstützungsbekundung für eine verbotene Organisation anzuwenden, müsste nachgewiesen werden, dass diese Bekundung geeignet ist, um andere unmittelbar zur Gewaltanwendung anzustiften. Im Rahmen einer solchen Beurteilung müssen auch die besonderen Umstände der Meinungsäußerung sowie das Verbot und die Art der verbotenen Organisation berücksichtigt werden. In diesem Fall ist es nicht gerechtfertigt, Unterstützungsbekundungen für Palestine Action grundsätzlich und durchgehend als Anstiftung zur Gewalt zu betrachten. Aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte geht hervor, dass Plakate als geschützte Formen der Meinungsäußerung gelten, sofern sie nicht unmittelbar und ausdrücklich zur Gewalt anstiften.