Aktivist mit fünfjähriger Haftstrafe konfrontiert

Ein junger Mann sitzt auf einem Stein im Wald und lächelt in die Kamera.

Der chinesische Aktivist Chen Mei

Der Menschenrechtsverteidiger Chen Mei hat nach seiner Festnahme am 19. April 2020 immer noch keinen Kontakt zu seiner Familie. Obwohl seine Familie einen eigenen Rechtsbeistand beauftragte, um Chen Mei zu verteidigen, halten die Behörden an den Diensten von staatlich bestellten Rechtsbeiständen fest. Am 6. August wurde bestätigt, dass der Fall von Chen Mei an die Staatsanwaltschaft des Pekinger Stadtbezirks Chaoyang weitergeleitet wurde und er angeklagt wurde, "Streit angefangen und Ärger provoziert zu haben". Bei einer Verurteilung drohen ihm bis zu fünf Jahre Haft. Er hat weder Kontakt zu seiner Familie noch Zugang zu einem Rechtsbeistand seiner Wahl und ist daher in Gefahr, gefoltert oder anderweitig misshandelt zu werden.

Appell an

Chief Procurator Wang Xiangming

Beijing Chaoyang People’s Procurate

17, Daojiayuan

Chaoyang Park Road


Chaoyang, 100025-Beijing Shi


VOLKSREPUBLIK CHINA

Sende eine Kopie an

BOTSCHAFT DER VOLKSREPUBLIK CHINA

S. E. Herrn Ken Wu

Märkisches Ufer 54

10179 Berlin

Fax: 030-27 58 82 21


E-Mail:de@mofcom.gov.cn

 

Amnesty fordert:

  • Lassen Sie Chen Mei bitte umgehend und bedingungslos frei, es sei denn es existieren glaubwürdige und zulässige Beweise dafür, dass er eine international als Straftat anerkannte Handlung begangen hat, und er ein Verfahren erhält, das den internationalen Standards für faire Gerichtsverfahren entspricht.
  • Stellen Sie bitte sicher, dass Chen Mei bis zu seiner Freilassung regelmäßigen und uneingeschränkten Zugang zu seiner Familie und Rechtsbeiständen seiner Wahl erhält, und dass er nicht gefoltert oder anderweitig misshandelt wird.

Sachlage

Chen Mei (陈玫) wurde am 19. April gemeinsam mit anderen Personen, die sich an dem Online-Projekt Terminus2049 (端点星计划) beteiligen, von der Polizei abgeführt. Er wird in der Haftanstalt des Pekinger Stadtbezirks Chaoyang festgehalten. Seine Familie erfuhr durch von staatlichen Stellen beauftragte Rechtsbeistände kürzlich, dass sein Fall unter dem Vorwurf, "Streit angefangen und Ärger provoziert" (寻衅滋事罪) zu haben, am 6. August an die Staatsanwaltschaft weitergeleitet wurde. Im Falle eines Schuldspruchs drohen Chen Mei bis zu fünf Jahren Haft, allein weil er friedlich sein Recht auf Informationsfreiheit ausgeübt hat.

Die Behörden verweigern seiner Familie weiterhin, einen eigenen Rechtsbeistand für Chen Mei auszuwählen. Ein_e Polizist_in teilte seinen Familienangehörigen in einem Anruf am 12. Juni mit, dass Chen Mei freiwillig einen kostenlosen Rechtsbeistand beantragt habe und die Familie diese Entscheidung zu respektieren habe. Chen Mei wusste aufgrund des fehlenden Kontakts zu seiner Familie anscheinend nicht, dass diese bereits einen Rechtsbeistand für ihn beauftragt haben. Seine Familie kann nicht bestätigen, dass die Beantragung des kostenlosen Rechtsbeistandes die eigene Entscheidung von Chen Mei war. Gefangene, denen ein rechtlicher Beistand eigener Wahl vorenthalten wird, erhalten oftmals keine Möglichkeit, sich über ihre Rechte zu informieren und sind somit in Gefahr, ein unfaires Gerichtsverfahren zu durchlaufen.

Die Familie von Chen Mei hat außerdem ihre Besorgnis darüber ausgedrückt, dass die staatlich bestellten Rechtsbeistände keine Auskunft über seinen Gesundheitszustand geben. Die Rechtsbeistände sollen sich nur einmal mit Chen Mei getroffen haben. Bei der Besprechung habe Chen Mei die Dokumente unterschrieben, sie als seine Rechtsbeistände zu wählen. Die staatlich bestellten Rechtsbeistände teilten der Familie mit, dass sie sich aufgrund der Covid-19-Regulierungen nicht mit Chen Mei treffen konnten. Allerdings fand die Familie später heraus, dass das nicht stimmte. Da Chen Mei weiterhin keinen Kontakt zu seiner Familie hat, kann niemand bestätigen, dass er bei guter Gesundheit ist. Es besteht große Sorge, dass er gefoltert oder anderweitig misshandelt wird.

Die vorliegenden Informationen deuten darauf hin, dass Chen Mei allein deswegen festgenommen wurde, weil er öffentliche Daten in Zusammenhang mit der Covid-19-Pandemie gesammelt und archiviert hatte. Die Informationsfreiheit ist ein zentraler Bestandteil des Rechts auf freie Meinungsäußerung, wie in Artikel 19 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte festgeschrieben.

Hintergrundinformation

Hintergrund

Chen Mei war 54 Tage lang verschwunden, bevor seine Familie am 12. Juni einen Anruf von der Polizeidienststelle des Pekinger Stadtteils Chaoyang erhielt. Der Familie wurde mitgeteilt, dass Chen Mei freiwillig einen kostenlosen Rechtsbeistand beantragt habe und dass sich die beauftragten Anwält_innen gegebenenfalls bei der Familie melden würden. Daraufhin gab die Mutter von Chen Mei zur Antwort, dass dies nicht nötig sei, da die Familie bereits nach dessen Festnahme im April 2020 einen Rechtsbeistand beauftragt habe. Die Person am anderen Ende der Leitung bat sie jedoch, die Entscheidung von Chen Mei zu respektieren.

Als einer der von den Behörden bestellten Rechtsbeistände am 15. Juni Kontakt zur Familie von Chen Mei aufnahm, wiederholte diese, dass sie bereits einen anderen Rechtsbeistand beauftragt habe. Doch die staatlichen Rechtsbeistände weigerten sich, den Fall von Chen Mei abzugeben. Erst als die Angehörigen von Chen Mei in einer öffentlichen Erklärung nochmal betonten, dass sie die Anwält_innen der Rechtshilfe nicht benötigten, gaben diese den Fall am 24. Juni schließlich ab.

Am nächsten Tag, dem 25. Juni, kontaktierten jedoch bereits zwei neue Beauftragte der Rechtshilfe die Mutter von Chen Mei. Seitdem erklärt seine Familie weiterhin öffentlich, dass der von ihnen beauftragte Rechtsbeistand seinen Fall übernehmen soll. Beide Anwält_innen der Rechtshilfe weigern sich, das Mandat für den Fall von Chen Mei niederzulegen. Laut seiner Familie haben sich die neuen Rechtsbeistände nur einmal mit Chen Mei getroffen.

Chen Mei und und ein weiterer Mann namens Cai Wei waren beide an dem Online-Projekt Terminus2049 (端点星计划) beteiligt, das zahlreiche Beiträge in den Mainstream-Medien und auf Social Media archivierte, die von der staatlichen Zensurbehörde gelöscht worden waren - viele im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie. Seit Ausbruch der Pandemie in China sind zahlreiche Artikel über das Coronavirus zensiert worden, darunter auch Beiträge, die in Mainstream-Medien wie z. B. einem Ableger der Zeitung Beijing Youth Daily und dem Magazin Caijing veröffentlicht wurden. Bestimmte Social-Media-Beiträge, politisch brisante Hashtags sowie Forderungen nach Meinungsfreiheit werden in China routinemäßig gelöscht oder zensiert.

Wie bei Chen Mei, wurde auch den Angehörigen von Cai Wei mitgeteilt, dass dieser einen kostenlosen Rechtsbeistand beantragt habe und dass - trotz der Einwände der Familie - zwei Anwält_innen für ihn berufen worden seien.

Es liegen zahlreiche Berichte darüber vor, dass unabhängige Journalist_innen und Aktivist_innen von den Behörden drangsaliert wurden, weil sie in den Sozialen Medien Informationen über COVID-19 gepostet hatten. Hierzu zählt auch der Rechtsanwalt und Bürgerjournalist Chen Qiushi, der über behördliche Schikanen berichtete, nachdem er Aufnahmen aus Krankenhäusern in Wuhan ins Internet gestellt hatte. Ebenso Fang Bin aus Wuhan, der kurzzeitig von den Behörden festgehalten wurde, nachdem er ein Video geteilt hatte, in dem Personen zu sehen sind, die mutmaßlich an COVID-19 gestorben sind.

Der Straftatbestand "Streit angefangen und Ärger provoziert" zu haben (寻衅滋事; Artikel 293 des chinesischen Strafgesetzes) ist weit gefasst und vage formuliert und wird zunehmend gegen Aktivist_innen und Menschenrechtsverteidiger_innen eingesetzt. Ursprünglich wurde er nur auf Handlungen angewendet, die vermeintlich die Ordnung an öffentlichen Plätzen störten, doch seit 2013 wird der Anwendungsbereich ausgeweitet und umfasst nun auch Aktivitäten im Internet.