Weiter keine medizinische Versorgung für gefolterten Taxifahrer

Ein Mann steht gebückt zwischen drei Polizisten, die ihn festhalten. Mit seinen Händen verdeckt er sein Gesicht

Am 10. August 2020 wurde Viachaslau Rahashchuk in der Nähe der Proteste gegen die Wahlergebnisse in Belarus willkürlich festgenommen und später zu sechs Jahren Haft verurteilt. Im Gefängnis wurde er gefoltert, sodass er dringend medizinische Hilfe benötigt – die ihm die Behörden weiterhin verweigern.

Appell an

Andrey Shved

Prosecutor General of the Republic of Belarus

Vul. Internatsianalnaya, 22

220030 Minsk

BELARUS

Sende eine Kopie an

Botschaft der Republik Belarus

S. E. Herrn Denis Sidorenko

Am Treptower Park 32

12435 Berlin

Fax: 030-5363 5923

E-Mail:
germany@mfa.gov.by

 

Leiter der Untersuchungshaftanstalt Nr.6

Yauhen Syarheevich Khitryk

Head of the Pre-Trial Detention Centre No. 6

E-Mail: br.sizo6.oiriko@din.gov.by

Amnesty fordert:

  • Bitte sorgen Sie dafür, dass Viachaslau Rahashchuk umgehend freigelassen wird, da er keine Straftat begangen hat und willkürlich inhaftiert wurde – wie Tausende andere Menschen in Belarus seit dem 9. August 2020.
  • Bitte lassen Sie Viachaslau Rahashchuk sofort in ein Krankenhaus mit angemessener medizinischer Versorgung bringen, damit sein sich verschlechternder Gesundheitszustand adäquat beurteilt und behandelt werden kann.

Sachlage

Der Gesundheitszustand von Viachaslau Rahashchuks ist nach wie vor schlecht. Doch statt angemessen medizinisch behandelt zu werden, ist er im Gefängnis. Seine Verletzungen sind auf Folter und andere Misshandlungen zurückzuführen, denen er in Haft ausgesetzt war. Der Taxifahrer wurde am Abend des 10. August 2020 in der Stadt Pinsk von mindestens fünf Polizeibeamt_innen gewaltsam und willkürlich festgenommen, als er mit seiner Schwester und ihrem 12-jährigen Sohn spazieren ging. Am Vortag waren die Wahlergebnisse offiziell bekanntgegeben worden und nach massiven Betrugsvorwürfen hielten die Proteste in der Stadt noch an. Am 11. August nahm einer der damaligen Mithäftlinge von Viachaslau Rahashchuk Kontakt zu dessen Mutter auf und teilte ihr mit, dass ihr Sohn von Gefängniswärtern schwer misshandelt worden sei. Er habe ein Hämatom hinter dem Ohr, drei Schnitte am Kopf und Prellungen an der gesamten Wirbelsäule. Seitdem hat Viachaslau Rahashchuk einen permanenten Klingelton im Ohr. Nach den Schlägen verlor er wiederholt für bis zu 20 Minuten das Bewusstsein. Im Mai 2021 wurde er im Haftzentrum endlich medizinisch untersucht – allerdings stellte der behandelnde Arzt lediglich fest, dass es ihm gut gehe. Tatsächlich hat sich sein Zustand jedoch nicht verbessert. Die wiederholten Bitten seiner Familie, ihn einer unabhängigen ärztlichen Untersuchung zu unterziehen, wurden alle abgelehnt. Viachaslau Rahashchuk wird die dringend benötigte medizinische Behandlung verweigert.

Am 30. April wurde Viachaslau Rahashchuk gemäß Paragraf 293, 2 des belarussischen Strafgesetzbuches unter dem Vorwurf der "Teilnahme an Massenunruhen" zu sechs Jahren Haft in einer Strafkolonie verurteilt. Das Urteil wurde am 6. Juli in einer Berufungsverhandlung bestätigt.

Hintergrundinformation

Hintergrund

Viachaslau Rahashchuk gehört zu den 14 Betroffenen, die im sogenannten "Fall Pinsk" zu langjährigen Haftstrafen verurteilt wurden, weil sie an Massenprotesten teilgenommen haben sollen. Die Verurteilten hatten entweder tatsächlich an den friedlichen Protesten nach der Präsidentschaftswahl am 9. August 2020 teilgenommen oder hielten sich nur zufällig in deren Nähe auf. Sie wurden unter Anwendung von Gewalt festgenommen, gefoltert und beschuldigt, Gegenstände auf die Polizei geworfen und Eigentum zerstört zu haben. Später wurden alle zu Haftstrafen und Schadenersatzzahlungen in Höhe von zusammen rund 65.000 Euro an die Stadt und die 109 Polizeibeamt_innen verurteilt, die vor Gericht als Opfer ausgesagt hatten. Glaubwürdigen Berichten zufolge gaben die 109 Polizeibeamt_innen an, nach den friedlichen Protesten im August 2020 den Schlaf und den Appetit verloren zu haben. Wenn die Häftlinge des "Fall Pinsk" die geforderte Gesamtsumme nicht gemeinsam bezahlen, soll ihr gesamtes Eigentum 30 Tage nach der Berufungsverhandlung vom 6. Juli beschlagnahmt werden. Eine der Inhaftierten ist eine Mutter von fünf Kindern.

Der Umgang mit den Betroffenen im "Fall Pinsk" steht stellvertretend für die weit verbreiteten massiven Menschenrechtsverletzungen gegen diejenigen, die kritische Meinungen äußern oder verdächtigt werden, solche zu äußern. Diese Menschenrechtsverletzungen halten seit Beginn der friedlichen Massenproteste gegen die Wahlergebnisse vom 9. August 2020 an. Das Land erlebt momentan die schwerste Menschenrechtskrise seit Beginn seiner Unabhängigkeit im Jahr 1991.

So nahmen Polizeibeamt_innen Tausende Oppositionelle, Journalist_innen und Blogger_innen, Andersdenkende, friedliche Demonstrant_innen und – wie im Fall von Viachaslau Rahashchuk – Unbeteiligte, die sich zur falschen Zeit am falschen Ort aufhielten, fest. Dabei trugen Beamt_innen häufig Zivilkleidung ohne jedes Erkennungszeichen und setzten exzessive Gewalt ein. Aktuellen Schätzungen zufolge wurden seit dem 9. August 2020 über 30.000 Menschen festgenommen. Gegen Tausende Menschen laufen unter den Gesetzen über Ordnungswidrigkeiten Strafverfahren, die Geldstrafen oder Verwaltungshaft nach sich ziehen können. Die eigentlich 15-tägige Verwaltungshaft kann fortlaufend neu angeordnet werden, was zu einer erheblichen Verlängerung der Haftdauer führen kann. Mehr als 3.000 Menschen sind im Zusammenhang mit Protesten unter verschiedenen Paragrafen des Strafgesetzbuchs angeklagt. Hunderte wurden bereits zu langen Haftstrafen verurteilt. Jede Woche werden weiterhin Hunderte friedliche Protestierende festgenommen. All diejenigen, die allein wegen der Ausübung ihrer Menschenrechte ins Visier genommen wurden, müssen umgehend und bedingungslos freigelassen werden.

Örtliche und internationale Menschenrechtsorganisationen haben Hunderte Zeugenaussaugen von Inhaftierten gesammelt, die während der Festnahme, des Transports und der Untersuchungshaft gefoltert oder anderweitig misshandelt wurden. Bis jetzt haben die belarussischen Behörden keine einzige Ermittlung gegen Sicherheitsbeamt_innen eröffnet.