Amnesty Journal Kolumbien 29. April 2016

"Neue Spielregeln des Zusammenlebens"

"Weniger Gewehrkugeln, mehr Kunst"

"Weniger Gewehrkugeln, mehr Kunst"

In Kolumbien ist ein Ende des jahrzehntelangen ­Bürgerkriegs in Sicht. FARC-Rebellen und Regierung wollen im März ein Friedensabkommen schließen, das ­zugleich eine Wahl-, Justiz- und Bodenreform vorsieht. Die Menschenrechtsverteidigerin Ana Teresa Bernal über eine historische Zäsur.

Interview: Cordelia Dvorák

Zum ersten Mal sitzen Regierungsvertreter und Mitglieder der FARC an einem Tisch. Wie ist es möglich, dass sich nach mehr als 50 Jahren Bürgerkrieg eine politische Lösung anzubahnen scheint?
Das war wirklich alles andere als einfach. Man muss sich vergegenwärtigen: In den vergangenen 30 Jahren hat es in diesem Konflikt mehr als sieben Millionen Opfer gegeben. Das hat eine riesige Wunde in der kolumbianischen Gesellschaft hinterlassen. Unter der Regierung von Álvaro Uríbe wurde der Konflikt mit der Guerilla immer nur als "terroristische Bedrohung" abgetan. Aber seit in den Ländern Lateinamerikas mehr und mehr linke Regierungen an die Macht kamen und auch die kolumbianische Zivilgesellschaft nachdrücklich Friedensverhandlungen einforderte, hat sich die Stimmung grundlegend gewandelt. Auch die venezolanische und kubanische Regierung haben ihren Anteil daran, dass alle Beteiligten nun endlich dialogbereit sind. Kolumbiens Präsident Juán Manuel Santos hat inzwischen ebenfalls Interesse an einer dauerhaften Lösung des Konflikts, nachdem er einsehen musste, dass dieser nicht allein mit militärischer Überlegenheit zu lösen ist.

Welche Rolle spielt die kubanische Regierung ganz konkret in diesem Prozess?
Kuba ist der neutrale Boden und die Regierung dient als Sicherheitsgarant zwischen den Abgesandten beider Seiten, die seit Monaten in Havanna in zäh verhandelten Zwischenschritten an einer komplexen Vereinbarung arbeiten. Kuba hat eine ganz entscheidende Rolle.

Welche Pläne gibt es, um einen dauerhaften Frieden möglich zu machen?
Zunächst soll eine umfassende Agrarreform den seit Jahrzehnten benachteiligten Landstrichen die Möglichkeit zur Entwicklung und mehr soziale Gleichheit bringen. Viele entlegene Gebiete Kolumbiens, die bisher nur ausgebeutet und sonst sich selbst überlassen wurden, sollen föderalistisch eingebunden und gefördert werden. Auch ungeklärte Besitzverhältnisse sind endgültig juristisch zu klären. Es gab ja über Jahrzehnte hinweg systematische Landenteignungen: Um an Land zu kommen, wurde die Bevölkerung vertrieben; wehrte sie sich, wurde sie von Paramilitärs umgebracht.

Welche weiteren Schritte sind angedacht?
Das Gesundheitswesen soll ausgebaut werden, der Zugang zu Bildung soll für alle garantiert werden und es muss auch mehr Möglichkeiten zur politischen Partizipation geben. Solche demokratischen Mechanismen sind besonders wichtig für Bevölkerungsschichten, die bisher kaum Chancen auf politische Beteiligung hatten. Neue soziale und politische Bewegungen, die im Zusammenhang mit der Unterzeichnung des Friedensvertrages im Entstehen sind, sollen zugelassen werden.

Wie sieht es mit der Entmilitarisierung aus?
Die endgültige Beendigung der bewaffneten Auseinandersetzung ist zentral. Dazu gehören die vollkommene Entwaffnung der FARC und die Wiedereingliederung ihrer Mitglieder in die Zivilgesellschaft. Die Regierungsseite muss sich verpflichten, die Paramilitärs zu entwaffnen, die vollkommen willkürlich agiert haben. Zudem müssen Minen und andere explosive Munitionsreste in den ehemaligen Kriegsgebieten entschärft werden – nach wie vor sind ganze Landstriche unbewohnbar. Die Regierung verpflichtet sich mit dem Abkommen, konsequenter gegen Korruption vorzugehen und die Verantwortlichen für die vielen politischen Morde und Massaker der vergangenen Jahrzehnte zur Verantwortung zu ziehen. Auch für den Drogenhandel braucht es eine Lösung. Die Regierung muss alternative Projekte entwerfen, um Anbaugebiete anders zu nutzen und Bauern entsprechend zu entschädigen.

Wie stellen Sie sich einen angemessenen Umgang mit den ­Opfern des Konflikts vor?
Wir müssen lernen, den Konflikt historisch aufzuarbeiten, die Ursachen zu erkennen und diese auch transparent und verständlich zu machen. Die Opfer müssen anerkannt werden, ihre Menschenrechte formuliert und nach außen vertreten werden. Das klingt vielleicht selbstverständlich, ist aber in der hiesigen Realität ein langer Prozess, der gerade erst beginnt. Es braucht neue Spielregeln des Zusammenlebens, der Konfliktlösungen, der politischen Transparenz. Die vielen Jahre des Konflikts haben bei uns allen Spuren hinterlassen. Alle haben jetzt eine große Verantwortung und müssen daran arbeiten, den Frieden auch umzusetzen.

Ist eine Kommission für die Aufarbeitung des Unrechts vorgesehen?
Die Schaffung einer Aufklärungskommission war Thema bei den Verhandlungen. Die große Herausforderung dabei ist, dass die Wahrheitsfindung der Versöhnung dient und nicht zu Rache und Vergeltung führt. Dieser Prozess sollte ein anderes Geschichtsbewusstsein befördern, die Opfer und ihre Version der Geschehnisse sollten eine entscheidende Rolle spielen. Versöhnung beinhaltet ja immer verschiedene Aspekte. Einer davon ist, wie ein Land grundsätzlich mit Erinnerung umgeht, was erinnert, was vergessen wird, welchen Dingen man ins Gesicht sehen und wie man die Vergangenheit ganz neu aufrollen kann.

Glauben Sie an Frieden?
Sicherlich wird ein Friedensvertrag unterzeichnet, aber ausgehend davon muss das gesamte Land in einen Dialog treten. Ohne soziale Gerechtigkeit, ohne menschliche Reife und ohne Versöhnung wird es keinen Frieden geben. Wir müssen lernen, Konflikte ohne Gewalt auszutragen. Es gibt inzwischen viele ­Initiativen von jungen Leuten, die sich für Erinnerungsarbeit, Versöhnung, kulturelle Vielfalt und politische und soziale In­klusion einsetzen. Es wächst eine ganz neue Generation mit ­anderen Visionen heran, auf die wir unbedingt setzen müssen in diesem Prozess.

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