Amnesty Journal 28. März 2013

Pflichtlektüre für Sarrazin

Den falschen Zahlen und Einschätzungen rechts­populistischer Autoren setzt Doug Saunders wissenschaftliche Studien über muslimische Einwanderer entgegen und schildert die Geschichte der Migration.

Von Maik Söhler

Der kanadisch-britische Autor Doug Saunders hat ein Buch geschrieben, das unbedingt auf dem Nachttisch von Thilo Sarrazin liegen sollte. "Mythos Überfremdung" ist ein Kompendium von Daten, Fakten und Analysen auf empirischer Grundlage über die Migration von Muslimen nach Westeuropa sowie nach Kanada und in die USA.

"Europa wird noch in diesem Jahrhundert muslimisch dominiert werden"; "Muslimische Einwanderer möchten in Parallelgesellschaften unter sich bleiben"; "Muslimische Einwanderer wollen die Scharia in westlichen Ländern einführen"; "Eine große Zahl von Muslimen bejubelt terroristische Gewalt" – diesen und vielen weiteren Grundannahmen aus dem wachsenden islamfeindlichen Spektrum wendet sich Saunders zu. Er hat sie der populären Anti-Islam-Literatur der westlichen Welt entnommen. Zitate von Sarrazin, dem niederländischen Rechtspopulisten Geert Wilders sowie von US-amerikanischen und kanadischen Intellektuellen wie Daniel Pipes und Mark Steyn reihen sich aneinander, um anschließend in Frage gestellt und Punkt für Punkt widerlegt zu werden.

Saunders bezieht sich dabei auf Studien, Umfragen und Statistiken. Beim ersten Durchblättern befürchtet man, dies könne trocken sein. Doch der Autor hat die Gabe, mithilfe des Materials die Geschichte der muslimischen Migration spannend und teilweise sehr lebendig zu erzählen. Überzeugend sind vor allem die Stellen, in denen er die muslimische Einwanderung heute mit der Einwanderung anderer religiöser Gruppen zu anderen Zeiten vergleicht.

Teilweise wortgleich klingen die Stimmen jener, die Anfang des 20. Jahrhunderts in den USA vor dem Ansturm der Katholiken warnen, vor ihrer hohen Geburtenrate bei gleichzeitiger ideologischer Rückwärtsgewandtheit. Wir vernehmen Stimmen, die vor Ghettoisierung und mangelnder Bildung warnen, doch sind nicht die Muslime von heute, sondern jüdische Einwanderer des frühen 20. Jahrhunderts gemeint. Alles schon einmal da gewesen, betont Saunders, und beantwortet die Fragen von einst ("Wird Amerika katholisch?"; "Wird das Judentum in Frankreich zur Staatsreligion?") mit dem souverän-nüchternen Blick von heute.

Doch gerade beim Vergleich von Juden und Muslimen schleichen sich Vereinfachungen und Unschärfen in Saunders’ Argumentation ein – ebenso bei den Begriffen "links", "kommunistisch" und "anarchistisch". Das ist ärgerlich, beeinträchtigt die Qualität dieser liberalen Antwort auf den Rechtspopulismus aber nur wenig. Die einzige Frage, die offen bleibt, lautet: Wer legt Thilo Sarrazin dieses Buch auf den Nachttisch?

Doug Saunders: Mythos Überfremdung. Eine Abrechnung. Aus dem Englischen von Werner Roller. Karl Blessing Verlag, München 2012, 256 Seiten, 18,99 Euro.

Weitere Artikel