Amnesty Journal Brasilien 06. August 2009

Der Film mit der Tüte

Ist die exzessive Darstellung von Gewalt ein Stilmittel zur Besserung der Verhältnisse? Angesichts José ­Padilhas Polizeifilm "Tropa de Elite" stellt sich diese Frage unweigerlich.

Wenn Polizeihauptmann Nascimento zur Arbeit geht, dann hat er eines immer dabei: eine durchsichtige Plastiktüte. Die stülpt er den widerspenstigen jungen Drogendealern in den Favelas Rio de Janeiros über den Kopf, um sie ein wenig gesprächiger zu machen. Das Opfer japst, dann spritzt Blut. Aus den Ohren? Aus der Nase? Egal, die Tüte färbt sich rot. Ein schauriges Bild.

Es ist nicht die einzige Szene in Jose Padilhas Favela-Film "Tropa de Elite", in der exzessive Gewalt gezeigt wird. An anderen Stellen werden Menschen zerstückelt und verbrannt. Aber es dürfte die Tütenfolter sein, mit der es der Schauspieler Wagner Moura in der Rolle des depressiven, Pillen schluckenden Capitão Nascimento in Brasilien zu Kultstatus gebracht hat: Essen Kinder ihren Teller nicht leer, heißt es: Achtung, der Capitão Nascimento kommt. Auto falsch geparkt? Ein Fall für den Capitão.

Nascimento, er ist eine Kultfigur geworden – in den Favelas wie auch in der gehobenen Gesellschaftsschicht. Er steht für rücksichtsloses Durchgreifen. Und Gewalt, die hat in "Tropa de Elite" einigen Schauwert.

Der junge Polizeioffizier führt eine Spezialeinheit, die auf die Abkürzung BOPE (Batalhão de Operações Policiais Especiais) hört. Ihr Erkennungszeichen: ein Totenkopf mit zwei Pistolen. Die in Habitus wie Erscheinungsbild düstere Einheit wurde aufgestellt, weil die "normale" Polizei zu korrupt ist. Eine Tatsache, die gleich zu einer der besten Szenen in Padilhas Gewaltexzessstreifen führt: Da veranstalten die Polizisten ein Wettrennen, wer zuerst die Schutzgelder eintreibt: der Leiter der Werkstatt, der dringend Ersatzteile für den Fuhrpark braucht, oder der Laufbursche des Polizeichefs, der das Geld zur persönlichen Bereicherung einsammelt. Sehr eindrücklich ist es, wenn sich die Ladenbesitzer lautstark beschweren, dass die Polizei an diesem Tag zweimal abkassiert.

Es ist eben nicht nur der Kampf der Regierung gegen die Drogenszene, der hier gezeigt wird. Es ist der Kampf aller gegen alle. Und die Verleihung des Goldenen Bären der Berliner Filmfestspiele 2008 war schon allein deshalb berechtigt, weil "Tropa de Elite" weltweit der umstrittenste und meistdiskutierte Film war. Da ist es fast Nebensache, auf die exzellente Darstellerleistung auch noch der kleinsten Nebenrollen hinzuweisen – der Film ist in jeder Hinsicht und bei jedem Hinsehen ein perfektes Arrangement. Auch dies mag dazu geführt haben, dass der Film bereits vor seinem brasilianischen Kinostart im Oktober 2007 durch Raubkopien weit verbreitet war. Millionen sahen ihn dennoch im Kino.

Schon in Brasilien wurde die Darstellung der Gewalt, des Drogenhandels und der Folter viel diskutiert. Denn "Tropa de Elite" liegt, trotz der enormen Bildkraft einzelner Szenen, ein einfaches Konzept zugrunde: das des Polizeifilms. Und in dem wird aufgeräumt. Das BOPE wird gerufen, wenn es geradlinig zugehen soll. Und eine gerade Linie muss gezogen werden, denn – wir haben das Jahr 1997 – Papst Johannes Paul II. kommt zu Besuch. Da wollen die Politiker keine störenden Streitereien zwischen den Drogenclans. Und wo man mal dabei ist, kann man die Banden auch gleich vernichten.

Am Beispiel der Polizisten und Jugendfreunde Neto (Caio Junqueira) und Matias (André Ramiro) erklärt der Film, was Rio de Janeiro mit Menschen macht. Aus Überzeugung wollen die beiden zur Elitetruppe und müssen in einem extrem harten Auswahlverfahren Ausdauer und Ehrenhaftigkeit unter Beweis stellen. Zumindest Matias, der auch Seminare an der Universität besucht, kommen hin und wieder Zweifel über die Rechtmäßigkeit – erst eintüten, dann befragen – des polizeilichen Handelns. Denn er hat auch noch andere Jugendfreunde, und die sind mittlerweile in leitender Position einer Nichtregierungsorganisation (NGO) in den Favelas tätig. Außerdem lässt er sich von den Diskussionen seiner Mittelschichtskommilitonen verwirren – die denken nämlich, alle Gewalt gehe vom Staat aus. Und so prima finden die das nicht. Weil sie – unter dem Deckmantel einer sozialen Organisation – mit den Favela-Drogendealern gute Geschäfte machen und die Dealer mit der NGO.

Genau hier zeigt sich der Knackpunkt von "Tropa de Elite": Man muss nicht in Abrede stellen, dass sich hinter dem schillernden Mitmenschentum mancher Hilfsorganisation skrupellose Absichten verbergen. Es ist durchaus angebracht, filmisch möglichst klar darzustellen, wie verschiedene Interessengruppen am Status Quo verdienen und wie die Bereicherung per ­Gewalt zu Lasten der Bevölkerung geht. Aber ob freiwillig oder unfreiwillig – der Film ist ein Plädoyer für gewaltsame Lösungen. Dazu passt es, dass die als Idealisten gezeichneten NGO-Mittelstandskids ihr Ende als lebende Fackeln inmitten eines brennenden Stapels Autoreifen finden. Der Film scheint zu ­sagen: Naive Idioten haben es nicht besser verdient.

Der Schauwert solcher Einstellungen kann nicht darüber täuschen, dass der Film nicht nur die schwärmerische Studentensicht auf die Armut, sondern jegliche zivilgesellschaftliche Initiative denunziert. Spätestens mit der Schlussoffensive der Tropa schiebt der Film den Zuschauer auf die Seite der waffenstarrenden Kämpfer des Capitão Nascimento.

Doch was ist deren Job wirklich? Sie liquidieren Kindersoldaten im Drogenkrieg. Was der Film vernachlässigt: Der Aufstieg der Drogenbanden wird auch durch die rigiden sozialen Verhältnisse begünstigt. Die Favelas von Rio sind Heimat der Reserve­armeen für den Hausangestelltenmarkt der Mittel- und Oberschicht. Da mutet es absurd an, wenn der Staat als Träger sozialer Funktionen abwesend ist, aber Militäreinheiten zur Erhaltung einer Ordnung aufbietet, die im wesentlichen auf der Selbstorganisation der lokalen Bevölkerung beruht. Der Regisseur, José Padilha, ist in den letzten zwei Jahren nicht müde geworden zu betonen, dass sein Film die Methoden des BOPE ­anprangert. Der Film frage nach den Menschenrechten im ­täglichen Gemetzel. Beim Publikum bleibt aber offensichtlich anderes hängen.

Für wen Padilhas Herz schlägt, ist indes keine Frage: Es sind die Armen, deren Lebensbedingungen zu verbessern er sich mit seiner Kamera verschrieben hat, und deren Leben er für ein Weltpublikum auf die Leinwand bringen will. Nach "Tropa de Elite" drehte er den Dokumentarfilm "Garapa". Padilha porträtiert darin drei Familien, die täglich mit dem Hunger kämpfen. Der Titel bedeutet Zuckerwasser, das einzige Nahrungsmittel, das ausreichend zur Verfügung steht.

Auch dieser Film erzählt in drastischen Bildern, ist quälend, aber vermeidet Urteile. Dagegen ist "Tropa de Elite" zwar spektakulärer, aber seine komplizenhafte Haltung zur Gewalt abstoßend und macht Padilhas Aussagen unglaubwürdig.

Was aber auf beide Filme zutrifft: Sie sind Exponate eines neuen lateinamerikanischen Kinos voller alltäglicher Brutalität. Und beide stellen zur Debatte, ob exzessive Gewaltdarstellung im Kino irgendetwas in der Wirklichkeit bewegen kann.

Von Jürgen Kiontke.

"Tropa de Elite – Elite Squad". Brasilien 2007. R.: José Padilha, Darsteller: Wagner Moura, André Ramiro, Caio Junqueira u.a. Start: 6. August 2009

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