Amnesty Journal Syrien 24. Februar 2020

Die Spuren des Kalifats

Blick auf die zerschossenen Häuserblöcke einer syrischen Stadt.

Blick auf eine verwundete Stadt: Rakka im Dezember 2019.

Vor einem Jahr wurde die Terrororganisation ­Islamischer Staat in Syrien besiegt. Doch im andauernden Krieg ringen viele Menschen weiter mit dem dunklen Erbe, das die Dschihadisten hinterlassen haben – auch für deren Frauen und Kinder sieht die Zukunft düster aus.

Von Philip Malzahn

Graben, um zu leben

Die Abteilung Leichengräber der Zivilen Verteidigungskräfte wurde Anfang 2018 in Rakka aus einer Notwendigkeit heraus gegründet: Die IS-Kämpfer hatten die nordsyrische Stadt 2013 zu ihrer Hauptstadt erklärt; im Oktober 2017 wurde sie von einer US-geführten Koalition befreit. Sofort wandten sich Tausende Bürger, die auf der Suche nach vermissten Angehörigen waren, an die neue Verwaltung. Schnell wurde klar: Der IS hat sie umgebracht und vergraben. Die Leichengräber suchen deshalb nach den Orten, an denen der IS seine Opfer verscharrt hat, und heben sie aus. Ziel ist es, die sterblichen Überreste zu identifizieren und ihren Familien zu übergeben. Das ist extrem schwer, denn oft sind die Leichen bis zur Unkenntlichkeit entstellt – viele wurden etwa geköpft – oder sind bereits so stark verwest, dass eine Identifizierung unmöglich ist. Hinzu kommt, dass die wenigsten Syrer mit ihrer DNA registriert sind.

Vor Beginn des Syrien-Krieges 2011 hatte Rakka, gelegen am Fluss Euphrat, etwa eine Viertel Million Einwohner. Heute sind es nur noch knapp über 100.000. Obwohl mehr als die Hälfte der städtischen Infrastruktur während der jahrelangen Kämpfe zerstört wurde, kehren viele Geflohene inzwischen zurück und entdecken auf ihren Höfen, Grundstücken und Feldern solche Gräber. Anfang 2020 hatte die Abteilung Leichengräber bereits 5.732 Leichen gefunden. Wie viele es noch werden, weiß niemand. Das größte von mehr als 80 Massengräbern, das im Februar 2019 ausgehoben wurde, enthielt die sterblichen Überreste von etwa 3.500 Menschen, davon konnten nur knapp über 800 den Angehörigen übergeben werden.

Man erkennt sie an den Kindern

In al-Haul, dem größten Gefangenenlager für An­gehörige von IS-Kämpfern in Syrien, leben rund 71.000 Menschen. Mehr als 90 Prozent sind Frauen und Kinder. Wachpersonal gibt es nur an den Eingängen; im Inneren sind die Gefangenen zumeist unter sich. Im abgetrennten Bereich für Ausländer leben mehr als 10.000 IS-Familienmitglieder aus mehr als 50 Staaten, darunter etwa 100 Deutsche. Obwohl es in al-Haul kaum Männer gibt, sind alle Frauen vollverschleiert. Nur am Aussehen ihrer Kinder kann man erahnen, aus welch unterschiedlichen Weltgegenden sie kommen. Laut Lagerverwaltung haben die Frauen Gerichte etabliert, um andere für "Fehlverhalten" zu bestrafen. Die Lebensbedingungen sind hart, vor allem im Winter. Die Zelte sind nicht beheizt, die Sanitäranlagen liegen im Freien. Die wenigen Hilfsgüter, die es in das Lager schaffen, werden von den stärkeren Frauen verkauft. Bislang weigern sich die meisten Staaten, ihre Bürger zurückzunehmen.

Wo der Terror weiterlebt

In Syrien sind derzeit rund 12.000 männliche IS-Anhänger inhaftiert, darunter etwa 3.000 ausländische Dschihadisten. Die meisten kommen aus Nordafrika, Zentralasien und Indonesien. Im größten Gefängnis in der nordsyrischen Stadt al-Hasaka sind 5.000 IS-Mitglieder aus mehr als 30 Staaten auf engstem Raum zusammengepfercht. Bis zu 100 Personen teilen sich eine Zelle. Die Strafverfolgung der Inhaftierten ist kompliziert, da es schwer ist, einzelnen Individuen konkrete Straftaten nachzuweisen. Kaum einer gibt seine Schuld zu. Die meisten beteuern, zwar im Gebiet des Islamischen Staats gelebt, aber nicht gekämpft zu haben. Dabei wurden die 5.000 Männer alle in Baghouz – dem letzten Rückzugsort des IS vor seinem Fall im März 2019 – gefangen genommen. Mit Beginn der türkischen Invasion im Oktober 2019 musste die in Nordsyrien regierende Selbstverwaltung einen Großteil des Wachpersonals in al-Hasaka abziehen. Die türkische Armee hat inzwischen diverse Lager und Gefängnisse angegriffen, um IS-Anhänger zu befreien. Mehr als 600 Fluchtversuche hat die Selbstverwaltung laut eigenen Angaben verhindert, in den vergangenen Monaten gelang jedoch mehr als 800 IS-Anhängern und ihren Familienangehörigen die Flucht.

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