Amnesty Journal Saudi-Arabien 07. März 2025

Von wegen mündig

Eine junge Frau in einer Blümchenbluse steht draußen, hinter ihr sind Wäscheleinen aufgespannt, an denen Papierstreifen hängen.

Lina al-Hathloul ist Juristin und Vorstands­mitglied der Organisation ALQST for Human Rights.

International propagiert die Regierung Saudi-Arabiens mit ihrer "Vision 2030" Reformen – auch für die weibliche Bevölkerung. Wie es tatsächlich um die Rechte von Frauen in dem Land bestellt ist.

Von Lina al-Hathloul

Meine Schwester Loujain al-Hathloul wurde ausgerechnet im Mai 2018 festgenommen, in dem Jahr, als die Behörden Frauen endlich das Recht zustanden, Auto zu fahren. Für dieses Recht hatte Loujain jahrelang gekämpft. Meine Schwester wurde zusammen mit anderen Aktivis­t*innen inhaftiert und gefoltert. Und das im Auftrag derjenigen, die angekündigt hatten, die Frauen zu "ermächtigen". 

Damals war ich gerade für meine Diplomarbeit in Rechtswissenschaften in Brüssel. Während nach Loujains Verhaftung meiner Familie die Ausreise aus Saudi-Arabien verboten wurde, war ich gezwungen, im Ausland zu bleiben und von hier aus den Kampf für meine Schwester und die Frauenrechte weiterzuführen. 

In den vergangenen Jahren haben die saudischen Behörden zwar einige der Beschränkungen aufgehoben, die Frauen durch das männliche Vormundschaftssystem auferlegt wurden. So dürfen Frauen neben Autofahren nun auch einen eigenen Reisepass beantragen, die strikte Geschlechtertrennung in öffentlichen Räumen wurde ebenfalls gelockert. Doch das Vormundschaftssystem – ein Rechtsrahmen, der erwachsene Frauen wie Minderjährige einordnet und sie der Verantwortung von Männern unterstellt – wirkt sich weiterhin negativ auf alle Aspekte des Lebens von Frauen aus und schränkt ihre Grundfreiheiten erheblich ein.

Allmächtiges Patriarchat

Die Problematik der Frauenrechte in Saudi-Arabien beruht auf zwei grundlegenden Elementen: dem patriarchalischen Staat und dem Vormundschaftssystem ­einerseits sowie der Knebelung der saudischen Zivilgesellschaft andererseits.

So besteht das saudische Vormundschaftssystem aus Gesetzen und Gerichtspraktiken, die Frauen dem Willen ihres "Vormunds" unterwerfen – das ist je nach den Umständen der Vater, Ehemann oder sogar der Sohn. Bevor Kronprinz Mohammed bin Salman an die Macht kam, hatte ein solcher Vormund fast unendliche Rechte: Er entschied unter anderem darüber, ob die Frau reisen durfte oder ob sie sich an einer Universität einschreiben konnte. Und natürlich über ihre Verheiratung. 

Meine Schwester wurde zusammen mit anderen Aktivist*innen inhaftiert und gefoltert. Und das im Auftrag derjenigen, die angekündigt hatten, die Frauen zu 'ermächtigen'.

Eine junge Frau mit kurzen Haaren, die bis zu ihrem Nacken reichen, steht draußen vor einer Mauer, an der sich Pflanzen hinaufranken.

Loujain al-Hathloul ist eine der bekanntesten Frauenrechtlerinnen Saudi-Arabiens. 

Im Rahmen der "Vision 2030" hatte Mohammed bin Salman Reformen angekündigt, die diese Regeln lockern und Frauen vor dem Missbrauch durch den Vormund schützen sollten. Doch die Wurzeln des Vormundschaftssystems sind nach wie vor fest verankert, werden durch repressive und auslegungsbedürftige Gesetze aufrechterhalten und lassen den Vormündern die Freiheit, ihre Autorität weiterhin so auszuüben, wie sie es für richtig halten.

Die neuen Freiheiten gelten somit nur so lange, wie der Vormund sich ihnen nicht widersetzt. Denn der "Ungehorsam" einer Frau gegenüber ihrem männlichen Vormund wird immer noch als Straftat beurteilt. Eine Anzeige wegen Ungehorsams kann dazu führen, dass eine Frau im Dar al-Re’aya, einer "Betreuungsinstitution", inhaftiert wird. Sie kann ­wegen Taghayub – Abwesenheit oder "Flucht" aus dem Haus – inhaftiert werden, außerdem wegen einer "moralisch unanständigen Handlung" wie außerehelichem Sex oder wegen Ungehorsam gegenüber einem männlichen Vormund.

Dies erlebte beispielsweise Shaimaa al-Bugmi: Sie wurde Opfer häuslicher ­Gewalt, erlitt sogar Todesdrohungen durch ihren Vater. Die junge Frau wusste nicht, wohin sie flüchten konnte. Dennoch verließ sie ihr Elternhaus, wollte endlich unabhängig sein. Doch ihr Vater erklärte sie als flüchtig, und so wurde Shaimaa schließlich festgenommen. ­Seitdem ist sie verschwunden.

Um die fehlenden Strukturen zum Schutz solch verfolgter Frauen zu überbrücken, hatte meine Schwester Loujain gemeinsam mit anderen Aktivist*innen versucht, ein Frauenhaus für Opfer häuslicher Gewalt einzurichten. Sie erhielten jedoch nie eine Genehmigung. 

Oberflächliche Reformen

Das Recht von Frauen, einen eigenen Pass zu beantragen, hat dazu geführt, dass immer mehr Frauen aus dem Land fliehen, um die Unterdrückung abzuschütteln und der rigiden Moral zu entkommen. 

So wurden vor Kurzem die bekannte ­Influencerin Fouz al-Otaibi und ihre Schwester Manahel al-Otaibi angeklagt, weil sie die Kleiderregeln verletzten und feministische Hashtags gegen das Vormundschaftssystem veröffentlicht hatten. Fouz floh aus dem Land, doch Manahel wurde vom Sonderstrafgericht, das sich mit Terrorismusfällen befasst, zu elf Jahren Haft verurteilt. 

Die Beispiele Loujain, Fouz und Manahel zeigen, wie groß die Diskrepanz ist zwischen den international propagierten Reformen und der Unterdrückung der ­zivilen Reformbewegungen und Frauenrechtlerinnen innerhalb des Landes. Frauen, die friedlich ihre Grundrechte einfordern, werden weiterhin ins Visier genommen und bestraft. 

Diese Fälle sind keine Ausnahmen, ganz im Gegenteil. Nachdem die Behörden die bekanntesten Aktivist*innen des Landes verhaftet und verurteilt hatten, begannen sie, auch gegen deren Unterstützer*innen vorzugehen. Wer Solidarität mit der Frauenbewegung zum Ausdruck brachte, setzte sich dem Zorn der Behörden aus. In den vergangenen Monaten verurteilten saudische Gerichte mehrere Frauen wegen friedlicher Aktivitäten in Online-Netzwerken zu langen Haftstrafen, darunter Salma al-Shehab (27), Fatima al-Shawarbi (30), Sukaynah al-Aithan (40) und Nourah al-Qahtani (45). Die Behörden signalisieren dem Volk damit, dass niemand sicher ist.

Diese Frauen sitzen heute hinter ­Gittern, meine Schwester darf weiterhin nicht aus Saudi-Arabien ausreisen, und wer es wagt, diese Strafen infrage zu stellen, wird bestraft. Was sind das für Reformen für die Frauenrechte, wenn Frauen mundtot gemacht werden und ihnen jedes Recht auf Selbstbefreiung verweigert wird? Schlimmer noch: Wie kann man von Reformen und Fortschritten sprechen, wenn mit dem zurzeit geplanten neuen Strafgesetzbuch gleichzeitig die Diskriminierung der Frauen und das ­Vormundschaftssystem offenbar fest­geschrieben werden sollen?

Lina al-Hathloul ist Juristin und Vorstands­mitglied der Organisation ALQST for Human Rights. Sie engagiert sich für Reformen des saudischen Gefängnissystems, für das Verbot von Folter und für die Freiheit ihrer Schwester Loujain al-Hathloul.

HINTERGRUND

Der Fall Loujain al-Hathloul

Loujain al-Hathloul ist eine der bekanntesten Frauenrechtlerinnen Saudi-Arabiens. Sie wurde im Mai 2018 wegen ihres Engagements gegen das Fahrverbot für Frauen und gegen die männliche Vormundschaft inhaftiert und am 28. Dezember 2020 zu fünf Jahren und acht Monaten Haft verurteilt. Die Frauenrechtlerin verbrachte mehr als 1.000 Tage in Haft und wurde mit Stromschlägen, Peitschenhieben, Schlägen, sexueller Belästigung und Schlafentzug gefoltert. Monatelang hatte sie keinen Zugang zu ihrer Familie.

Zahlreiche Stimmen aus Zivilgesellschaft und Politik sowie Amnesty International forderten ihre Freilassung. Im Februar 2021 wurde al-Hathloul unter Auflagen aus der Haft entlassen, sie unterliegt jedoch strengen Einschränkungen ihrer Bewegungsfreiheit und läuft Gefahr, erneut inhaftiert zu werden. Amnesty fordert von den saudischen Behörden, den Schuldspruch gegen Loujain al-Hathloul aufzuheben und die Verantwortlichen für ihre Misshandlungen zur Rechenschaft zu ziehen.

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