Amnesty Journal 10. November 2021

Fürsprecher mit langem Atem

Ein Mann mit Halbglatze steht vor Fachwerkhäusern auf Kopfsteinpflaster, trägt Brille und T-Shirt und ein Schild mit der Aufschrift "Free Raif".

Unermüdliche Mahnwache: Max Steinacher in Tübingen.

Als der inhaftierte saudi-arabische Blogger Raif Badawi im Januar 2015 öffentlich ausgepeitscht wurde, organisierte Max Steinacher in Tübingen spontan eine Mahnwache. Seither protestieren er und Gleichgesinnte Woche für Woche.

Von Cornelia Wegerhoff

Noch einen letzten Schluck Kaffee, dann holt er seine schwarze Aktentasche, packt einen Stapel Flugblätter und das Klemmbrett mit den Unterschriftenlisten hinein und prüft die Kugelschreiber … Samstagsroutine bei Max Steinacher. Er streift sich ein weißes T-Shirt mit buntem Aufdruck über sein Hemd. "#Free Raif" steht unter dem Porträt des Mannes, der seit 2012 in Saudi-Arabien inhaftiert ist.

Für ihn geht der 74-Jährige gleich auf die Straße. "Jeden Samstagmorgen überlege ich mir, wie Raif Badawi wohl diese Woche überstanden hat, eingesperrt in seiner Zelle", sagt Stei­nacher. Er selbst könne jederzeit spazieren gehen, verreisen, ­Familie und Freunde treffen. Das alles könne der saudische Blogger nicht, beklagt er, und zwar nur, weil er seine Meinung geäußert habe.

Bei Wind und Wetter

Raif Badawi gründete 2008 das Online-Forum "Die saudischen Liberalen". Dort setzte er sich für die Gleichbehandlung der Religionen, die Gleichberechtigung von Mann und Frau sowie für Meinungsfreiheit ein. 2014 wurde er wegen Beleidigung des Islams zu zehn Jahren Haft, einer Geldstrafe und tausend Peitschenhieben verurteilt. "Eine grausame, völlig maßlose Strafe", sagt Steinacher. Er sei schockiert gewesen, als Badawi im Januar 2015 in Dschidda öffentlich die ersten 50 Hiebe bekam. Der ehemalige Gymnasiallehrer hatte schon früher "Briefe gegen das Vergessen" geschrieben. In diesem Fall schickte er einen Leserbrief an die Lokalzeitung und rief zur Mahnwache auf. Damals kamen 35 Leute. Die meisten kommen immer noch.

Vor der pittoresken Altstadtkulisse der schwäbischen Universitätsstadt lockt ein Markt jeden Samstag Einheimische und Gäste an. Im Schatten der Stiftskirche nimmt Punkt elf Uhr die Tübinger Mahnwache Aufstellung: Die Beteiligten tragen Protestplakate, selbstgemalte Transparente und leuchtend gelbe "#Free Raif"-Schilder von Amnesty International. "Wir unterstützten Max von Beginn an", sagt Eva Scheerer von der lokalen Amnesty-Gruppe. An diesem Samstag Anfang September findet die Mahnwache zum 347. Mal statt, wie auf einem Aufsteller zu lesen ist. Diesmal scheint die Sonne, aber auch bei Regen und eisigen Temperaturen im Winter stehen die Unterstützer_innen Badawis tapfer da. Während des Corona-Lockdowns wurde digital protestiert.

Ausreiseverbot nach Freilassung

Max Steinacher spricht unermüdlich Passant_innen an. Er sei sonst ein zurückhaltender Zeitgenosse, sagt der Pensionär über sich selbst. Aber jetzt fragt er nach Unterschriften. Knapp 12.000 hat die Tübinger Mahnwache schon an den saudischen Botschafter geschickt, mit der Bitte, Badawi endlich freizulassen. Einmal hat die Gruppe sogar in Berlin demonstriert. Lesungen wurden veranstaltet, Petitionen eingereicht, auch zu anderen Inhaftierten. Raif Badawi, inzwischen 37, sei eine Symbolfigur, sagt Steinacher. Er selbst hat zwei erwachsene Töchter und mehrere Enkel. Die Qual von Badawis Familie, die in Kanada im Exil lebt, mag er sich kaum vorstellen. Im Juni 2017 kam Ensaf Haidar, die Ehefrau des Bloggers und Mutter dreier Kinder, nach Tübingen und nahm an der Mahnwache teil. "Das waren sehr emotionale Tage mit ihr", erinnert sich der Gründer. Ensaf Haidar sei vom Langzeitprotest so gerührt gewesen, dass sie versprochen habe, eines Tages mit Raif Badawi wiederzukommen.

Dessen Haft soll am 28. Februar 2022 enden. Deshalb sei der Protest jetzt besonders wichtig, mahnt Max Steinacher. Das saudische Gericht habe für die Zeit nach Badawis Freilassung ein mehrjähriges Ausreiseverbot verhängt. Die Fürsprache braucht langen Atem.

Cornelia Wegerhoff ist freie Journalistin. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.

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