Amnesty Journal 12. Februar 2025

Einig, nicht einig zu sein

Ein junger Mann mit Dreitagebart trägt seinen Sohn auf den Schultern, sie gehen spazieren auf einer Wiese in einer hügeligen Landschaft.

Schwer errungene Idylle: Regisseur Maayan Schwartz mit seinem Sohn in Neve Shalom – Wahat al Salam

Ist ein Zusammenleben zwischen Israelis und Palästinenser*innen nach all den Jahrzehnten des Konflikts noch möglich? Ja, sagen die Bewohner*innen des Dorfs Neve Shalom – Wahat al Salam. Welchen Herausforderungen sie sich stellen, thematisiert der Film "Children of Peace". 

Von Manuela Reimann-Graf

Der Film ist schon zwei Jahre alt – er wurde 2022 fertiggestellt –, aber aktueller denn je. Anhand von Gesprächen thematisiert er das friedliche und gleichberechtigte Zusammenleben von rund 300 Palästinenser*innen und jüdischen Menschen im Dorf Neve Shalom – Wahat al Salam (Oase des Friedens) und verheimlicht nicht, wie schwierig das ist. Im Gegenteil. Die aktuelle Situation stellt das Zusammenleben der ­Gemeinschaft abermals vor große Herausforderungen.

Der Regisseur Maayan Schwartz ist ein Kind dieser "Oase". Er und seine im Film gezeigten Altersgenoss*innen sind die ersten, die im Dorf geboren wurden. Sie wuchsen miteinander auf, beide Sprachen sprechend, feierten zusammen die jüdischen, muslimischen und christlichen Feiertage, gingen gemeinsam in die Grundschule und verstanden als Kinder noch nicht, wie außergewöhnlich ihr Leben ist – in einer Region, in der sich zwei Seiten unversöhnlich gegenüberstehen.

Friedensschule angezündet

Der Dokumentarfilm schildert das Aufwachsen dieser Generation vor dem Hintergrund der Geschichte des Dorfs und des Konflikts: Historische Videoausschnitte aus Dorf- und Familienarchiven dokumentieren die Entwicklung der Gemeinschaft seit ihrer Gründung. In den 1970er Jahren startete der Dominikanerpater Bruno Hussar mit Gleichgesinnten das Experiment auf dem Grundstück eines katholischen Klosters in der Nähe von Jerusalem. Ausschnitte aus Filmmaterial von Medienschaffenden aus aller Welt, die das Dorf besuchten, betonen die Einzigartigkeit – darunter immer wieder die Kinder, die bereitwillig über ihren Alltag Auskunft geben. 

Dem friedlichen Zusammenleben im Dorf werden im Film Szenen gegenübergestellt, die die gewaltvolle Realität in ­Israel und dem besetzten palästinensischen Gebiet zeigen. Auch die Gemeinschaft bleibt nicht von dem Konflikt um sie herum verschont. Die Friedensschule des Dorfs wird angezündet, und rassistische, antiarabische Graffiti werden auf Mauern gesprüht. "Wir in Neve Shalom sind nicht außerhalb des Konflikts, leben nicht in einer Blase. Im Gegenteil", betont Maayan Schwartz. "Durch unser Zusammenleben müssen wir Tag für Tag lernen damit umzugehen – mehr als alle anderen", sagt der Regisseur. "In rein arabischen oder rein jüdischen Gemeinschaften müssen sich die Menschen nicht mit der anderen Seite auseinandersetzen, wir schon."

In den Gesprächen mit den heute ­erwachsenen Freund*innen aus seiner Kindheit geht Schwartz der Frage nach, wie sie sich ihrer Identität als Palästinenser*in oder Israeli bewusst wurden und welche Schwierigkeiten das für die Beziehungen und Freundschaften untereinander bedeutete. Mit zunehmendem Alter konnten sich die Kinder in Neve Shalom – Wahat al Salam dem Konflikt immer weniger entziehen.

Als Verräter*innen beschimpft

Das galt insbesondere ab dem Moment, als sie separiert in weiterführende Schulen gehen mussten. Der Palästinenser Hilal erzählt, ihm sei erst dann bewusst geworden, wie anders das Leben außerhalb des Dorfs war: "Plötzlich gehörte ich als Araber zu einer Minderheit." Auch die jüdischen Kinder erfuhren, wie exotisch ihr Zusammenleben in einer israelisch-palästinensischen Gemeinschaft außerhalb des Dorfs anmutete und wie viel Feindseligkeit dort herrschte. Auch sie wurden beleidigt und in ihren Schulen als Verräter*innen bezeichnet, weil sie "mit dem Feind" lebten.

Dies sei die Zeit gewesen, als er sich vom Dorf und seinen Kamerad*innen zu entfremden begonnen habe, erzählt der Regisseur: "Wir hatten nun unterschiedliche Tagesabläufe, bewegten uns außerhalb des Dorfs entweder in einer jüdischen oder arabischen Gesellschaft. Ich dachte, nach der Highschool sind wir dann alle wieder zusammen, wie zuvor. Doch dann kam der Militärdienst."

Die Einberufung ins Militär, die nur die jüdischen 18-Jährigen betrifft – palästinensische Bürger*innen Israels sind vorgeblich aus "Sicherheitsgründen" ­davon ausgeschlossen –, stellte einen ­großen Einschnitt im Leben der jungen Menschen dar, und zwar für beide Seiten. Die jüdischen Jugendlichen standen vor der schwierigen Frage "Militärdienst: ja oder nein", wobei Verweigerung zumeist Militärgericht und Gefängnis nach sich zieht. Die palästinensischen Jugendlichen konnten hingegen nur schwer verstehen, dass ihre Freund*innen zum Militär gingen. Sie assoziierten israelische Soldat*innen mit Besatzung und Gewalt, hatten Angst vor ihnen. So sagt der Palästinenser Omer im Film zu Maayan Schwartz, der Militärdienst leistete: "Du hättest es besser wissen müssen. Indem du dich für die Armee entschieden hast, hast du eine Seite gewählt. Ich denke es ist falsch, eine Seite zu wählen."

"Trotz der Unterschiede eine Gemeinschaft bleiben"

Zu einer großen Belastungsprobe kam es, als Tom Kitain mit 21 Jahren bei einem Militäreinsatz im Libanon starb. Das ganze Dorf trauerte, alle hatten einen Sohn verloren. Eindrücklich ist die Szene nach Toms Tod, als sein palästinensischer Lehrer sagt, dass wohl noch nie ein israelischer Soldat von so vielen Palästinen­ser*in­nen betrauert worden sei. Doch als der Wunsch aufkam, für Tom Kitain ein Denkmal zu errichten, wandten sich einige dagegen. Einen israelischen Soldaten im Dorf sichtbar zu ehren, ging manchen zu weit. Die harten Diskussionen zeigten: Die unterschiedlichen Wahrnehmungen bilden Gräben in der Gemeinschaft, und diese können sehr tief gehen, Verletzungen und Unverständnis auslösen. 

Das Thema Militärdienst, dem im Film viel Raum gegeben wird, verdeutlicht dies besser als manch ein Sachbuch. Und doch sagt Maayan Schwartz: "Es ist die Stärke unseres Dorfs – und ich bin überzeugt, dass es genau deswegen überleben konnte –, dass wir uns diesen Fragen stellen. Und dass wir uns einig sind, dass wir uns nicht in allem einig sein müssen, weil wir trotz der Unterschiede eine Gemeinschaft bleiben wollen."

Die aktuelle Situation, die Haltung gegenüber dem, was am 7. Oktober 2023 und seither passierte und wie man damit umgehen kann, ist eine weitere Belastungsprobe für die Gemeinschaft. "Diese Themen zu diskutieren, ist sehr belastend, weil die beiden Bevölkerungsgruppen weiter voneinander entfernt sind denn je. Die Realität ist momentan chaotisch und schwer auszuhalten. Aber die Menschen in Neve Shalom sprechen weiterhin miteinander, sie teilen ihre Gefühle mit und akzeptieren, dass das Gegenüber vielleicht andere Gefühle hat", sagt Maayan Schwartz. "Wir können nur mit gegenseitigem Verständnis versuchen, die Gräben zu schließen. Das braucht Zeit, aber wir versuchen es weiterhin."

Manuela Reimann Graf arbeitet für Amnesty International Schweiz.

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