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Die gefährliche Politik Europas auf See
Rettungsaktion einer NGO für in Seenot geratene Flüchtlinge auf dem Mittelmeer im August 2016
© Amnesty International, Foto: Chris Godotzki, jib collective
Italien beschlagnahmt erneut ein Rettungsschiff einer Hilfsorganisation. Die NGO hatte sich geweigert, Gerettete an die libysche Küstenwache zu übergeben. Der Vorfall wirft die Frage auf, unter welchen Bedingungen Europa die Kontrolle des zentralen Mittelmeers an die libysche Küstenwache ausgelagert hat. Amnesty-Experte Matteo de Bellis beleuchtet die relevanten rechtlichen und humanitären Fragen in diesem Zusammenhang.
Beim Anblick der 93 ausgemergelten Flüchtlinge und Migrantinnen und Migranten, die diesen März im italienischen Hafen von Pozzallo ein spanisches NGO-Schiff verliessen, erklärte der Bürgermeister der Stadt, das Bild erinnere ihn an "eine Szene aus den Konzentrationslagern".
Sie hatten ein Boot nach Europa bestiegen, waren jedoch in Seenot geraten. Einer von ihnen, der 21-jährige Segen, starb am Tag nach seiner Ankunft. Er und seine Mitreisenden erhielten dank des mutigen Einsatzes ihrer Retterinnen und Retter an Bord des NGO-Schiffes "Proactiva Open Arms" die dringend benötigte Hilfe. Eine Woche später geriet jedoch ebendieses Schiff selbst in die Schlagzeilen.
Am 18. März wurde die "Open Arms" von den italienischen Behörden beschlagnahmt. Ihr vermeintliches Verbrechen? Dass die Besatzung am 15. März weitere 218 Flüchtlinge und Migrantinnen und Migranten auf See gerettet und sich geweigert hatte, sie der libyschen Küstenwache zu übergeben. Stattdessen brachte sie sie nach Italien.
Willkürliche Inhaftierungen und Folter in Libyen
Neben der Beschlagnahmung des Schiffes gibt es auch Ermittlungen gegen drei Mitglieder von Proactiva wegen "krimineller Machenschaften zur Begünstigung illegaler Einwanderung". Es folgte ein Aufschrei, mit dem auch der Plan der EU mehr Aufmerksamkeit erhält, die Kontrolle des zentralen Mittelmeers an die libysche Küstenwache abzutreten, damit keine Flüchtlinge und Migrantinnen und Migranten mehr nach Europa gelangen können.
Die libysche Küstenwache bringt die Menschen, die sie auf See einsammelt, nach Libyen zurück, wo sie lange willkürlich inhaftiert werden in Einrichtungen, in denen Folter an der Tagesordnung ist.
Ein europäisches Schiff kann Menschen nicht rechtmäßig nach Libyen zurücksenden. Es ist verboten eine Person an einen Ort zu überführen, an dem sie einer realen Gefahr der Folter oder anderer schwerer Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt ist.
Die europäischen Regierungen haben deshalb in den Kapazitätsaufbau der libyschen Küstenwache investiert. Das wiederum verzerrte die Dynamik der Rettungseinsätze auf verschiedenen Ebenen: Wenn derzeit nach einem von der italienische Küstenwache verbreiteten Notruf sowohl Schiffe der libyschen Küstenwache – die größtenteils von Italien gespendet wurden – als auch Schiffe von NGOs ein Boot in Seenot erreichen, kommt es häufig zu Konflikten.
Am 15. März 2018 seien sie von der libyschen Küstenwache bedroht worden, berichteten Mitglieder von Open Arms. Sie seien aufgefordert worden, die Menschen, die sie soeben geborgen hatten, zu übergeben.
Angriffe auf NGO-Schiffe
2017 war bereits über ähnliche Fälle berichtet worden: Die Besatzungen libyscher Boote schossen in die Luft, richteten Feuerwaffen auf die Rettungshelferinnen und -helfer, verbreiteten per Funk Drohungen und drängten sogar an Bord von NGO-Schiffen.
Ich habe mit zahlreichen Flüchtlingen und Migrantinnen und Migranten gesprochen. Sie erzählten mir, die Beamten der libyschen Küstenwache hätten sie bedroht, ihnen ihre wenigen Habseligkeiten abgenommen, oder sogar mit den Schleppern gegen Geld gemeinsame Sache gemacht. Auch die UN hat bereits ähnliche Vorkommnisse dokumentiert.
Durch die europäische Unterstützung und Ausbildung wurden zwar die Kapazitäten der libyschen Küstenwache gestärkt, professioneller ist sie dadurch jedoch nicht geworden. Die Ausbildungsmaßnahmen erweisen sich als unzureichend: Es fehlt an soliden Mechanismen zur Überwachung und Rechenschaftspflicht. Es gab Versprechungen, wie Kameras, Einsatzberichte und weiteres, aber die konkret vollzogenen Schritte reichen bei Weitem nicht aus.
Trotz dieser Situation bemühen sich die europäischen Regierungen weiterhin, dafür zu sorgen, dass die libysche Küstenwache über die Kapazitäten verfügt, um nicht nur im zentralen Mittelmeerraum zu patrouillieren, sondern auch die Rettungseinsätze anderer zu koordinieren.
Rettungswesten einer NGO für den Einsatz bei der Seenotrettung auf dem Mittelmeer
© Amnesty International, Foto: Chris Grodotzki / jib collective
Laut der italienischen Küstenwache koordinierte die libysche Küstenwache den Rettungseinsatz am 15. März. Die Seenotrettung fand rund 73 Seemeilen von der libyschen Küste entfernt, in internationalen Gewässern statt. Dieser Bereich gehört weder zur "Such- und Rettungszone" (SAR) von Italien noch von Malta – also dem Gebiet, in dem die jeweiligen Länder die Verantwortung für die Koordination der Rettungseinsätze tragen. Gemäss den libyschen Behörden gehörte das Gebiet jedoch zur vermeintlichen SAR-Zone Libyens.
Daraus ergeben sich zwei Probleme: Erstens gibt es derzeit gemäß der Internationalen Seeschifffahrtsorganisation keine libysche SAR-Zone. Es ist nicht einmal klar, ob eine erforderliche Seenotrettungsleitstelle in Libyen existiert. Einige behaupten, diese befinde sich an Bord der Tremiti, einem Schiff der italienischen Marine, das in Tripolis stationiert ist.
Rechtmäßige Rücküberführung nach Libyen nicht möglich
Zweitens trägt derjenige Staat, der den Rettungseinsatz in seiner SAR-Zone koordiniert, die Verantwortung dafür, dem Rettungsschiff den "Ort der Sicherheit" (place of safety) mitzuteilen, an dem die Geretteten von Bord gehen können. Dieser liegt normalerweise auf seinem Staatsgebiet.
Da Flüchtlinge und Migrantinnen und Migranten jedoch nicht rechtmäßig nach Libyen rücküberführt werden können, kann von einem Schiff, das Schiffbrüchige rettet, nicht erwartet werden, dass es diese Menschen der libyschen Küstenwache übergibt, damit sie nach Libyen zurückgebracht werden.
Tatsächlich hat dies auch kein europäisches Marine- oder Handelsschiff in den letzten Jahren je getan. Täten sie es, könnten sie vor Gericht angeklagt und sogar verurteilt werden, wie es Italien 2012 in einem richtungsweisenden Fall vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte widerfuhr.
Der Vorfall der "Open-Arms" sendet daher ein beunruhigendes Signal aus: Italien verhält sich gegenwärtig, als ob eine libysche SAR-Zone existierte. Und erwartet von den Hilfsorganisationen, dass sie den Anweisungen der libyschen Küstenwache Folge leisten.
Obwohl die italienischen Behörden die Rettungsaktion eingeleitet hatten, indem sie alle Schiffe in der Region auf den Notfall aufmerksam machten und Open Arms aufforderten, sich dem Flüchtlingsboot anzunähern, waren sie der Ansicht, es obliege den libyschen Behörden – die die Bergung koordinierten – zu entscheiden, wo die Geretteten an Land gebracht werden sollten. In der Folge war nicht klar, ob Open Arms Malta oder Italien ansteuern sollte, nachdem die Besatzung sich geweigert hatte, die Geretteten zu übergeben.
Da die auf See geborgenen Menschen nicht rechtmässig nach Libyen gebracht werden können, stellt sich weiterhin die Frage: Wo sollen NGOs Gerettete nach Ansicht der europäischen Regierungen hinbringen?
Eines ist sicher: Wenn die Überstellung von Flüchtlingen und Migrantinnen und Migranten an die libyschen Behörden einen Grundsatz des Völkerrechts verletzt, dann kann die Weigerung einer solchen Übergabe wohl kaum als Verbrechen betrachtet werden.
Rettungsmission der NGO Sea-Watch auf dem Mittelmeer im Juli 2016
© Amnesty International, Foto: Fabian Melber
Beschlagnahmung ohne fundierte Beweise
Catanias Staatsanwalt Carmelo Zuccaro, der den Fall leitet, wurde bereits vergangenes Jahr bekannt: Weil er öffentlich behauptete, es gäbe Verbindungen zwischen NGOs und Schleppern. Später gab er zu, dies sei nur eine Theorie, für die keine Beweise vorlägen. Die Beschlagnahmung stellt möglicherweise nur ein weiteres Kapitel in der unbegründeten Kriminalisierung der Hilfsorganisationen dar.
Die Open Arms wird vielleicht monatelang von der Polizei festgehalten werden, genau wie die Iuventa, ein Schiff der deutschen Hilfsorganisation "Jugend Rettet". Die Iuventa wurde unter dem Vorwurf der "Beihilfe zu illegaler Einwanderung" beschlagnahmt, ohne dass jedoch fundierte Beweise vorgelegt oder ein Verfahren gegen die Besatzung eingeleitet worden wären.
Im Frühling werden die Mittelmeerüberquerungen mit großer Wahrscheinlichkeit wieder zunehmen. Es ist fraglich, ob die verfügbaren Mittel zur Patrouille auf See und zur Rettung von Menschen in Seenot ausreichen werden.
Die europäischen Regierungen müssen ein solides Verfahren zur Überwachung der Aktivitäten der libyschen Küstenwache erarbeiten. Gleichzeitig dürfen die auf See geretteten Menschen niemals nach Libyen zurückgebracht werden, solange der Schutz ihrer Rechte nicht garantiert werden kann.
Dazu müssen die europäischen Regierungen ihre Unterstützung der libyschen Behörden an die Bedingung knüpfen, dass die willkürlichen Verhaftungen aufhören und eine Vereinbarung geschlossen wird, die es dem UNHCR erlaubt, alle Flüchtlinge zu unterstützen. Außerdem müssen sie ausreichend Resettlement-Plätze für Flüchtlinge zur Verfügung stellen, die in Libyen gestrandet sind, ebenso wie sichere und legale Routen für Migrantinnen und Migranten.
Es ist an der Zeit, dass unsere politischen Verantwortlichen ihre Zusammenarbeit mit Libyen dringend überdenken und ihre Prioritäten anpassen, damit junge Menschen wie der 21-jährige Segen nicht in libyschen Gefängniszellen geschlagen und missbraucht werden oder auf europäischem Boden vor Erschöpfung sterben.